Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Und das nennt sich Fußball!

I. Vor der Abfahrt zum Wettspiel

»Ein gefährliches Spiel, dieses amerikanische Fußball!«

Der Doktor Becker stellte es bereits fest, als er – es war Sonnabend Punkt halb zwei Uhr nachmittags – in der Halle der Untergrundbahn stand, um zu dem Wettkampf von New York University gegen Missouri University hinauszufahren.

Er hatte noch nie ein amerikanisches Fußballspiel gesehen. Aber seine Ansicht, daß »dieses amerikanische Fußball« ein roher und lebensgefährlicher Sport sei, stand für ihn – es war, wie vielleicht bereits gesagt wurde, Sonnabend Punkt zwei Uhr nachmittags – felsenfest. Nicht so fest stand der Doktor Becker selbst. Anfangs eingekeilt in eine kompakte Einheit von Wartenden, war er allmählich an den Rand des Bahnsteigs gedrängt worden; die vorderen Reihen hatten sich Plätze in den Untergrundbahnzügen erkämpft, indem sie die Aussteigenden trotz deren fluchend-tretend-boxender Gegenwehr in die Waggons zurückschlugen und sich selbst hinterherzwängten. Jetzt hing der Doktor Becker, an Nachbarn geklammert, Sonnabend Punkt halb drei Uhr nachmittags, schräg über der Schienenstrecke.

Eine verzweifelte Lage, fürwahr. Doch sehnte er sich nach ihr zurück, als er – es war Sonnabend Punkt drei Viertel drei Uhr nachmittags – von seinen Hintermännern in einen Waggon gepökelt ward, der eine Masse von Vergnügungssüchtigen zum Yankee-Stadion hinausbrachte. Neue Gedanken vermochte der Doktor Becker keineswegs zu fassen, und so spann er den Gedanken, daß »dieses amerikanische Fußball« gräßlich roh und unbedingt lebensgefährlich sei, etwas weiter aus. Selbstverständlich wollte er – hatte er doch noch kein Spiel gesehen – damit nur sagen, dieser Sport verrohe das Publikum und sei für das Publikum lebensgefährlich. Nun begann sich der Doktor Becker vorzustellen, wie bequem es die Spieler im Vergleich zu den Zuschauern haben, wie . . . Hier irrte Becker.

II. Am Rand des Spielfeldes

In geschlossenen Formationen strömte das Volk dem Stadion zu, die Autofahrer im Auto, die Fußgänger zu Fuß, wie wohl nicht erst bemerkt werden muß, da sich dies bei uns ähnlich verhält. Auffallend anders dagegen die Tatsache, daß Menschen mit Lebensgefahr und einer Aufopferung, deren seit Arnold Winkelrieds Tagen nur das amerikanische Erwerbsleben fähig ist, sich den Autos in den Weg warfen; mit Stentorstimme befahlen sie, und als dieses nicht fruchtete, beschworen sie mit flehenden Gestikulationen die Autolenker, ja doch bei ihnen zu parken. Sie hatten den Raum gemietet, Sonnabend ist der einzige Tag, an dem sich die Spekulation lohnen kann, daher ihre Todesverachtung. Aber mit stahlharten Gummireifen fuhren die Wagen über diese Verkehrshindernisse hinweg.

III. Starr vor Staunen im Stadion

erscheint der Doktor Becker. Wir können ihm das nicht verübeln. Mit Tausenden hatte er sich an und in der Untergrundbahn gedrängt, mit Zehntausenden von Fußgängern und Tausenden von Autos das letzte Stück des Weges zurückgelegt – und nun ist der Zuschauerraum des Stadions leer!!

Denn man muß doch den Ausdruck »leer« von einem Hause gebrauchen, in dem nicht weniger als 40 000 Plätze unbesetzt sind.

Daran ändert die Tatsache nichts, daß 45 000 Plätze besetzt sind. Das Yankee-Stadion faßt 85 000 (das Berliner 30 000) Personen, und von denen fehlt eben nahezu die Hälfte.

IV. Präludium des Spiels

Vorläufig wird auf dem Spielfeld ein Marschreigen von einer Militärkapelle exekutiert, die keine Militärkapelle ist, sondern das uniformierte, aus Studenten bestehende Orchester; auch der Regimentstambour mit dem hohen weißen Federhut über dem gestrengen Gesicht ist im Privatberuf ein Hörer der New Yorker Universität. Sie trippeln ab. Beifall.

In die Manege jagen die Spieler von Missouri. Beifall. Es sind ihrer dreißig. Obwohl nur elf jeweils auf dem Felde tätig sind, treten immerfort Ersatzmänner ein, wir werden das alles später sehen.

Ein läuft die Mannschaft von New York University mitsamt ihren Substituten. Stürmischer Beifall. Die New Yorker haben violette Hemden und olivengrüne Hosen, die Gäste aus Missouri orangerotschwarz gestreiften Dreß. Alle tragen Helme, die Einheimischen weiße, die Missourianer goldfarbene; runde massive Platten schützen die Ohren – bei anständigen Wettspielen reißt man einander nicht mehr die Ohrläppchen ab. Auch sind die Spieler vollständig mit Watte ausgestopft, was dem Doktor Becker nicht gefallen will, denn ein Fußballspiel mit Binden und Bandagen dünkt ihm (du Europäer!) unlogisch.

Der Referee erscheint, eine Art Unterschiedsrichter. Lebhafter Beifall. Der Umpire erscheint, eine Art Oberschiedsrichter. Stürmischer Beifall.

V. Die Einpeitscher der Ekstase

Nun aber mag es an der Zeit sein, etwas über Entstehungsgeschichte und Art der hier wiederholt gebrauchten Begriffe »Beifall«, »Lebhafter Beifall« und »Stürmischer Beifall« zu sagen.

Da bewegen sich nämlich an der Außenlinie sympathische junge Leute, die den amtlichen Titel »Cheer-leaders« führen. Diese Organisatoren der Ovation stellen sich mitten im Spiel, mit Megaphonen bewaffnet, vor die einzelnen Sektoren der Arena und ordnen brüllend an, welcher Mannschaft oder welchem Spieler jetzt zuzujubeln ist. Haben sie das getan, so legen sie den Schalltrichter von sich und dirigieren – bei gleichzeitiger Ausführung von Gelenksübungen: tiefe Kniebeuge, Arme vorwärts heben und seitwärts strecken – den kollektiven Freudenruf. Ritus und Rhythmus scheinen altindianischen Ursprungs zu sein, am häufigsten wird der Doktor Becker den anfeuernden Spruch zu Ehren des Quarterbacks von Missouri namens Rosenheim oder zu Ehren des linken Außenstürmers von New York namens Jerry Nemecek erklingen hören.

Rah, rah, rah,
Sis, bum bah,
N. Y. U., N. Y. U.,
Nemecek, Nemecek, Nemecek.

(Ohne Gewähr für die Richtigkeit der Rechtschreibung.)

VI. Der Ball

Der Ball ist beileibe nicht rund wie ein normaler europäischer Ball. Er hat die Form einer Pflaume, und zwar einer Pflaume, die sehr groß, aber noch nicht reif und noch nicht rund ist, hingegen spitz auf beiden Seiten. So sieht er aus. Mit Recht.

Eine Detonation erschreckt den unvorbereiteten Doktor Becker; in der Mitte der Seitenlinie wurde eine Pulverladung zur Explosion gebracht, das Spiel beginnt.

VII. Naturgeschichte des Spiels

Der amerikanische Nationalsport wird schlankweg »Football« genannt, als ob es kein anderes Fußballspiel gäbe, als ob es mit dem Fuß oder mit dem Ball etwas zu tun hätte. (Siehe unten.) Zwar wird das in Europa vorkommende Fußballspiel auch in Amerika teils in Treibhäusern gezüchtet (Professionalismus), teils wuchert es im Freien (Amateurismus), aber niemals heißt es »Fußball«, sondern »Soccer«, was eine Ver(fuß)ballhornung des Wortes »Association« sein dürfte. Das sogenannte Football ist jedoch nichts anderes als Rugby mit einigen veränderten Spielregeln.

Das Spiel wickelt sich in Viertelzeiten ab, viermal je fünfzehn Minuten. Hundert Meter lang ist das Feld, je fünf Meter werden durch eine Linie markiert. Es gibt zwei Tore (Goals); die Querstange ruht nicht auf dem oberen Ende der beiden senkrechten Pfosten, sie ist in deren Mitte angebracht. Die drei Stangen bilden also den Buchstaben H, was aber keineswegs andeuten soll, daß das Goal ein Heiligtum darstellt, wie das auf vernünftigen Kontinenten der Fall ist; es spielt im Gegenteil eine untergeordnete Rolle und steht außerhalb des eigentlichen Spielfeldes. Dieses beginnt mit dem fünf Meter vom Goal entfernten ersten, quer über das ganze Feld verlaufenden Strich, der Goal Line. Gelingt es einer Mannschaft, den Ball über die gegnerische Goal Line zu tragen, so hat sie damit ein »Touchdown« erzielt – den großen Erfolg, der etwa unserem Tor entspricht.

Die Mannschaft, die ein Touchdown erringt, heimst sechs Punkte ein und hat das Recht, einen ihrer Spieler aus einer Entfernung von zwanzig Metern ungehindert gegen das Mal schießen zu lassen; geht der Ball über die Querstange, so ist's gut: das gilt einen weiteren Punkt.

Dreimal darf eine Partei anwerfen und muß innerhalb dieser drei »Forward passes« den Ball mindestens zehn Schritte vorwärts bringen. Wird der Ball mit dem Fuß über den Torpfosten getreten, Goal from field, so zählt das drei Punkte.

VIII. Der Spielverlauf

Der Ball wird also immerfort getragen. Oder vielmehr: zu tragen versucht. Denn die gegnerischen Elf sind insgesamt darauf aus, zu vereiteln, daß die zehn Schritte, geschweige denn ein Lauf über die Torlinie gelinge.

Wie verhindern sie das?

Sie verhindern das, indem sie ihre behelmten Köpfe dem Träger des Balles in den Bauch rennen, ihn bei den Füßen packen, ihn ins Gesicht boxen oder mit ähnlichen Zärtlichkeiten regalieren.

Naturgemäß stürzt innerhalb eines Zeitraumes von längstens einer Viertelminute der jeweilige Ballbesitzer auf die Erde, Freund und Feind über ihm zu einem beängstigenden Klumpen von Leibern. Es pfeift der Schiedsrichter, es entwirrt sich der Knäuel.

Nur der zuunterst liegende Spieler, noch vor kurzem stolzer Träger des Balles, bleibt zumeist auf dem Boden, verwundet oder ohnmächtig oder beides. Schwarze Klubdiener jagen über den Platz, um das Opfer durch künstliche Atmung und Essig zu sich zu bringen. Auch der Arzt kommt mit dem Medikamentenkasten. Der Schiedsrichter jedoch kann Schlamperei auf dem Spielfeld nicht leiden, er läßt den Menschenrest wegtragen.

Inzwischen haben sich die überlebenden Spieler, Zeit ist Geld, mit Eiswasser erfrischt, und weiter geht das friedliche Spiel. Wieder eine Viertelminute lang, manchmal eine halbe.

IX. Wie wird angeworfen?

Die anwerfende Mannschaft begibt sich drei Schritte hinter den Ball und hält, zu einem Kreis geschlossen, mit vorgebeugtem Oberkörper eine geflüsterte, chiffrierte Beratung ab. »4 wirft an 7, 9 gibt an 2 ab« oder so.

Dann schreiten zehn Mann vor und stellen sich sprungbereit in einer Reihe auf; der elfte, der Quarterback, bleibt hinten, und ihm wird gewöhnlich der Ball zugeschleudert. Denn er ist als einziger nicht gedeckt.

Den anderen zehn Spielern stehen auf einen Schritt Entfernung die elf Feinde geduckt gegenüber, entschlossen, jeden erbarmungslos niederzuschmettern, der das Leder bekommt.

X. Der rein symbolische Ball

Der Ball vertritt etwa die Stelle des Stäbchens beim Stafettenlauf. Man könnte ihn durch ein anderes Symbol ersetzen, das über die Goal Line zu tragen ist. Das ganze Spiel: eigentlich ein Lauf, den der Gegner verhindern soll. Phalanx gegen Phalanx.

Auch das Treten des Balles mit dem Fuß kommt bei diesem merkwürdigen Fußballspiel selten vor und bedeutet wenig. (Siehe oben.)

XI. 45 000 Stehaufmännchen

Erstaunlich ist nicht, daß das Publikum mit Aufregung und Huronengebrüll den Kampf begleitet, sondern daß sich diese Aufregung alle viertel oder halben Minuten legt.

Im Moment des Anwerfens springen die 45 000 (sonst wohl: 85 000) Menschen von ihren Plätzen auf, um sich im Augenblick des Schiedsrichterpfiffs wieder zu setzen. Der Anblick dieser sich unausgesetzt setzenden und ständig aufstehenden Massen ist von monumentaler Komik.

In der Pause werden außer dem Musikreigen allerhand läppische Unterhaltungen geboten, zum Beispiel balgt sich ein Mann im Bärenfell (der Bär ist Sinnbild von Missouri) mit einem violetten (also New Yorker) College Boy herum.

Auf der Pressetribüne arbeiten die Berichterstatter. Am Morseapparat, am Telefon, am Radiomikrophon. Einer klopft die Tastatur des Diagramms – zur gleichen Sekunde bewegt es sich auf den Fassaden der amerikanischen Zeitungsgebäude. Menschenmassen stehen davor, sehen und hören, daß der Schiedsrichter »Abseits« gibt; sie brüllen »Lüge«, »Schiebung« . . . in St. Louis, in San Francisco, Tausende von Meilen entfernt.

XII. Kritische Betrachtungen des Doktor Becker

In europäischen Sportbegriffen befangen, beirrt durch den Namen »Fußball« und durch das Vorhandensein eines Tors und eines Lederballs, hat der Doktor Becker sich nahezu drei viertel Stunden lang bemüht, den Sinn des Spieles zu begreifen, der dem glücklichen Leser dieses Artikels hier dargereicht wird.

Die allgemeine Aufregung erfaßte ihn nicht, und so hatte er Zeit, sich Betrachtungen hinzugeben, deren Resultat hiermit veröffentlicht sei.

1. Dem europäischen Fußballspiel ist das amerikanische gleich: an Betätigung von Solidaritätsgefühl, von Schnelligkeit und Geistesgegenwart;

2. dem europäischen Fußballspiel ist das amerikanische überlegen: durch Entwicklung größeren Mutes und durch die gleichzeitige Stählung des Oberkörpers sowie der Arme;

3. dem europäischen Fußballspiel ist das amerikanische unterlegen: durch den Vorteil, den in Amerika der körperlich starke Spieler gegenüber den schwächeren hat und der durch keinerlei Geschicklichkeit auszugleichen ist.

XIII. Resultat und Skalp

Als der Doktor Becker zu diesem Ergebnis gekommen war, pfiff der Schiedsrichter das Wettspiel beim Stande 27:6 für New York ab. Die siegreiche Mannschaft demolierte die Torpfosten, um sie als Trophäen nach Hause zu tragen.

An der Untergrundbahn, an der Straßenbahn und an den Autobussen – es war Sonnabend Punkt fünf Uhr nachmittags – erneuerten sich lebensgefährliche Kämpfe.

 


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