Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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In jedem Schubfach eine Leiche

Es ist kein Zufall, daß das »Mortuary«, das Leichenschauhaus, am Hafen steht, aber es ist ein Zufall, daß das Sicherheitsmuseum nur wenige Schritte davon entfernt ist.

Im Sicherheitsmuseum werden Schutzmaßnahmen für Industriebetriebe gezeigt, Grubenlampen und Gasmasken, denen schlagende Wetter nichts anhaben können, Netze für Treibriemen, automatische Bahnschranken und Warnungstafeln, Schutzbrillen und Gegengifte und dergleichen mehr.

Im Leichenschauhaus sind die Menschen, denen keine Schutzmaßnahme geholfen hat. Von der Straße oder aus dem Wasser wurden sie hierhergebracht, manche direkt, manche auf dem Umweg über das Hospital.

Der gutgekühlte Kellerraum erfährt seine Einteilung durch tiefe Schränke mit Schubfächern. Die lassen sich ganz leicht herausziehen – und schon steht der Doktor Becker den Helden der Unfallchronik, der Selbstmordchronik und der Kriminalchronik Auge in Auge gegenüber. Nur ist ihr Auge gebrochen.

Der Doktor Becker holt sich einige Schubfächer hervor, weil auf ihnen Namen geschrieben sind, die er aus den Zeitungen der letzten Tage kennt. Zum Beispiel den Alkoholschmuggler Sigmund Weiß, der vorgestern aus den »Tombs«, dem Untersuchungsgefängnis, zur Verhandlung vorgeführt werden sollte, wobei ihm beim Zuschnüren seiner Schuhriemen ein Revolver aus der Tasche fiel; der Hüne, so stand's in den Haupttiteln der Abendblätter zu lesen, wehrte sich mit Bärenkräften gegen die Wegnahme seiner Waffe und wurde von den bedrohten Gefängniswärtern erschossen. Da liegt er nun, der Hüne: ein schmächtiger Jüngling mit blondem Haar, und hat acht blutige Wunden im Leib.

Wie die Notwehr aussah, in der sich seine Häscher befanden, ermißt der Doktor Becker, nachdem er das Nachbarfach herausgeschoben hat. Von dem darin enthaltenen Mann, dessen Name unbekannt geblieben ist, war gleichfalls in den Zeitungen zu lesen. Einige Tage lang war er in verschiedenen Filialen von »Fanny Farmer's Candies« mit erhobenem Revolver erschienen, »Hände hoch!«, und hatte die Kasse geplündert. Daraufhin ließ man Fanny Farmer's Candies Stores von Detektiven bewachen. Vorgestern nachmittag, in der Filiale Lexington Avenue, wurde er erschossen. Die Detektive konnten zu ihrem Leidwesen diesmal kein Heldenmärchen von brutaler Gegenwehr und Feuergefecht auftischen, denn der »Revolver« des Getöteten erwies sich als eine harmlose Nachahmung aus Glas . . .

Der Tote, ein etwa dreißigjähriger Mann von slawischem Typ, lächelt.

Er lächelt vielleicht, weil das Personal durch einen gläsernen Scherzartikel sich ins Bockshorn jagen läßt, er lächelt vielleicht, weil die Kasse gut gespickt ist.

Hinter dem Ladentisch lauert der Tod, aber der lächelt nicht, der zittert, der feuert sinnlos vor Angst. Vier Einschußwunden sind zu zählen, von denen wohl schon die erste tödlich war. Der junge Mann lächelt . . .

Opfer der Autos, Kinder darunter. Zerschmetterte Schädeldecken, von herabstürzenden Lasten oder vom baumelnden Seilhaken des Krans, sind Kennzeichen toter Hafenarbeiter. Ihr Weg vom Arbeitsplatz zum Leichenschauhaus war nicht lang, kaum zwei Minuten weit sind die Docks entfernt. – Aufgeschwemmte, angeschwemmte Wasserleichen füllen die Schreine, schwarz das Gesicht, grün der Körper. Opfer des Hudsonflusses? Nein, Opfer von Manhattan, Opfer des mörderischen Festlands. Das Wasser war nur letzte Narkose.

Sechzehntausend Bewohner New Yorks nehmen jährlich in diesen Schubfächern Quartier, zweimal in jeder Woche findet auf Harts Island eine Beerdigung statt, wobei man sich niemals bemüht, bevor man nicht mindestens fünfzig Tote beisammen hat. Den anderen wird von den Angehörigen ein Begräbnis bereitet.

Das Leichenschauhaus hat eine Kapelle; sie gleicht nicht den anderen Kirchen und Kapellen New Yorks, kein Vanderbilt und kein Morgan haben sie errichtet. Verflucht nüchtern sieht sie aus, hat vier schofle Bankreihen und eine Nische, die nicht einmal ein Heiligenbild ihr eigen nennt, nur sechs Kerzen und ein winziges Kruzifix aus dem Fünf-Cent-Basar von Woolworth; Woolworth hat ja auch Zehn-Cent-Waren, aber dieses ist ein Fünf-Cent-Kruzifix. Macht nichts. Wenn der Tote wenigstens einbalsamiert werden könnte! In New York werden fast alle bemittelten Leichen einbalsamiert begraben.

Der Doktor Becker schaut dem Mann bei der Arbeit zu, der das hier im Mortuary besorgt. Der Balsamierer läßt sich nicht stören. Nur der Arm des Leichnams hat ihn gestört, weshalb er sich ihn um die Hüfte legte. Das wirkt wie eine Gruppe im Panoptikum: ein Kranker umschlingt mit seinem Arm den Körper des Arztes, der sich mit der Medizin über ihn beugt. Eine Flasche hat Maestro Balsamo der Leiche unter den Kopf geschoben. Benötigt er gerade diese Tinktur, so legt er eine andere Flasche als Kissen unter.

Nebenan fügen Neger aus Kistenbrettern Särge zusammen. Wenn sie gefüllt und zugenagelt sind, wird ein Zettel angehängt mit dem Namen des Verstorbenen und seiner Herkunft als Toter: »Received from Penitentiary« oder so. Manchmal steht nur »Man« oder »Woman« statt des Namens da, das Alter und eine Nummer. Genauere Angaben kann man in der Aufnahmekanzlei nachlesen, auf einer Karte sind Tascheninhalt und Kleidungsstücke beschrieben, die jene Nummer hierher mitbrachte, das sprechende Porträt des Verstummten, Fingerabdrücke, besondere Merkmale, Todesursache, Obduktionsbefund. Auch hier ist das Alter notiert, nicht in runden Zahlen, sondern – der Leichenbeschauer macht den Doktor Becker ausdrücklich darauf aufmerksam – ganz genau: »54 Jahre« zum Beispiel.

»Wieso wissen Sie das so sicher?« erkundigt sich der Doktor Becker.

»Das macht die Praxis. Ich habe jeden Tag mehr als vierzig Leichen zu beschreiben, und die meisten davon werden bald agnosziert. Da kriegt man schon einen unfehlbaren Blick!«

Der Doktor Becker, der bisher kaum an das Vorhandensein unfehlbarer Blicke geglaubt, möchte sich genau davon überzeugen, daß er nun endlich einem solchen begegnet ist.

»Wie alt bin ich nach Ihrer Schätzung?« fragt er daher.

Der unfehlbare Blick bohrt sich in die Augen des Doktor Becker, prüft dessen Gebiß und besieht dann den Doktor Becker von hinten.

»Die Hautfalten auf dem Nacken sind nämlich das untrüglichste Kennzeichen«, erklärte der Leichenbeschauer.

Ach so, denkt der Doktor Becker, wenn es untrügliche Kennzeichen gibt, dann hat's der unfehlbare Blick leicht, unfehlbar zu sein . . .

Diesen Gedankengang unterbricht der Beamte mit der apodiktischen Feststellung: »Sie sind 31 Jahre alt!«

»Oh, fast 33«, erwidert der Doktor Becker.

»Wann werden Sie 33?«

»Im April.«

Der bis vor kurzem unfehlbare Blick schüttelt den Kopf. »Hätte ich nicht gedacht! Um ganze zwei Jahre habe ich mich noch nie verrechnet. Sie sind besonders gut erhalten.«

Daraufhin erwähnt der Doktor Becker, er habe jung geheiratet und immer solid gelebt, was wohl auf die Hautfalten des Nackens nicht ohne Einfluß geblieben sei.

Die Seziersäle betretend, sieht der Doktor Becker Ärzte und Studenten um die Toten bemüht, die wertvolles Material sind. Und gestern, als sie noch lebten, waren sie überflüssig für die Welt und für sich selbst, weshalb man sie in der Strafanstalt verrecken ließ oder im Hafen Selbstmord begehen und ohne Namen bestatten wird, nur mit genauer Angabe des Alters.

Der Doktor Becker aber zählt 44 Jahre.

 


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