Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Der Doktor Becker vor den Pforten des Paradieses

Der Doktor Becker, so sei unser Mann genannt, ist mit schwankenden Gefühlen an Bord des englischen Passagierdampfers.

Nicht deshalb schwanken seine Gefühle, weil das Schiff stampft und stößt, nicht deshalb, weil des Doktor Becker Schlafstelle gerade über der Schraubenwelle liegt, und nicht deshalb, weil das Speise- sowie das Rauchzimmer seiner Klasse infolge der Maschinenbewegung widerlich vibrieren.

Mittschiffs wohnend, spüren die Passagiere der zweiten und gar die der ersten Klasse das Stampfen und Stoßen des Dampfers bedeutend weniger, den Gang der Schraube überhaupt nicht. Überdies sind sie abgelenkt durch Spaziergänge auf einem hundert Meter langen gebohnerten Promenadendeck und durch Darbietungen von Jazzband und Sängern, deren klangliche Reize ein Lautsprecher zu den Passagieren der minderbemittelten Klassen leutselig weiterleitet.

Die minderbemittelten Klassen, zu denen der Doktor Becker gehört, hausen im Zwischendeck, aber sie heißen beileibe nicht »Zwischendeckpassagiere«; wenn eine Institution öffentlich kompromittiert ist, ändert man kurzerhand ihren Namen. Das Zwischendeck ist also abgeschafft worden, indem man es halbierte und jeder Hälfte eine andere Benennung gab: »Touristenklasse« hinten und »Dritte Klasse« vorne. Diese beiden Subspezies unterscheiden sich voneinander hauptsächlich durch den Fahrpreis, durch den Reisezweck der Passagiere (die der dritten Klasse sind zumeist Auswanderer mit vielen Kindern) und durch die Behandlung. So zum Beispiel tragen die Aborte der Touristenklasse die Aufschriften »Gentlemen's Lavatory« und »Ladies' Lavatory«, während auf jenen der dritten Klasse nur »For Men« beziehungsweise »For Women« steht, noch dazu in allen europäischen Sprachen, weil man bei solch armseligem Pack die Kenntnis des Englischen nicht voraussetzt.

Der Doktor Becker hätte auf die Tafel »Gentlemen's Lavatory« gern verzichtet, wenn er dafür seine zwischen eiserne Wanten und Träger gedrängte Kabine nicht mit drei Schlafgenossen teilen müßte, obwohl er von ihnen etwas lernen könnte: von dem einen, wie man vor dem Schlafengehen seine Hämorrhoiden kunstgerecht behandelt, von dem anderen, wie man sich die Nägel der Zehen schneidet, ohne dabei die Strümpfe auszuziehen.

Wiederholt blickt der Doktor Becker in die Gefilde der oberen Klassen, wo weniger Begabte seiner Berufsgenossen oftmals die Fahrt über den Großen Teich unternehmen, solche, die in den ruhigen Wogen einer genehmen Weltanschauung, ohne zu stampfen und zu stoßen, erstklassig die Welt durchstreifen dürfen. Er beneidet sie nicht um ihre eigene Kajüte, obwohl der Doktor Becker sich mit der schwarzäugigen ungarischen Tischnachbarin zweifellos besser angefreundet hätte, wenn er nicht zu viert in seiner Kabine und sie nicht zu viert in ihrer Kabine steckte. Der Doktor Becker beneidet seine begünstigten Vorfahren und Nachfahren auch nicht darum, daß auf dem Promenadendeck die Felder des »Shuffleboard«-Spieles mit Lack für immer aufgemalt sind, dieweil sie auf dem Zwischendeck täglich mit Kreide aufgezeichnet werden müssen. Er beneidet sie auch nicht darum, daß ihnen der Anschauungsunterricht erspart wird, wie man vor dem Zubettgehen seine Hämorrhoiden kunstgerecht behandelt und wie man sich die Nägel der Zehen schneidet, ohne die (allerdings in einer dazu geeigneten Weise zerrissenen) Strümpfe auszuziehen.

Nein. Er beneidet sie – wenn anders er sie überhaupt beneidet – nur darum, daß sie die weite Fahrt nicht mit so gemischten Gefühlen zurücklegen müssen wie er.

Warum aber, sag an, sind diese Gefühle des Doktor Becker gemischt? Die Gefühle des Doktor Becker sind gemischt aus Freude und Befürchtung.

Die Freude des Doktor Becker, allgemeiner Natur und leicht erklärlich, ist die Freude, einen neuen Weltteil zu sehen, Amerika, das Land, das unvorstellbare, am unvorstellbarsten nach den Reiseschilderungen. Seine Freude wird von der sicheren Erwartung bestimmt, daß Amerika, das kein Altertum und kein Mittelalter besitzt, sozusagen der Kaspar Hauser unter den Weltteilen, sich unmöglich in seiner Entwicklung darauf beschränkt haben kann, die Entwicklung der Alten Welt einzuholen oder zu überholen, also Krawatten und Westen und Hosenträger und Religionen und Schminken und Bankhäuser und Polizeispitzel und Börsengeschäfte und Kitschfilme zu erfinden und zu vervollkommnen.

Was aber die Befürchtung unseres Freundes anlangt, so ist sie schon mehr persönlicher Natur. Sie lautet: Werde ich, der Doktor Becker, denn überhaupt dieses Amerika zu sehen bekommen? Werden sich die für die Reise verausgabten Geld- und Zeitmittel nicht als herausgeworfen erweisen, indem man mich, den Doktor Becker, gar nicht das Land betreten läßt, sondern entweder zum nächsten nach Europa zurückfahrenden Schiff bringt oder aber auf der Auswandererstation Ellis Island zurückbehält, bis sich mein, des Doktor Becker, Charakter als Schwindler und Fälscher herausgestellt hat und meine, des Doktor Becker, Transportierung nach Sing Sing gewiß ist?

Ja, unser Freund – sollen wir ihn denn überhaupt noch so nennen? – ist in amerikanischem Sinne durchaus übel. Bereits dreimal hat man ihm das Einreisevisum verweigert. Einmal, weil sein Paß durch russische Sichtvermerke stigmatisiert war, wegen welch verdächtigen Umstandes man erklärte, erst im Pressedepartement Erkundigungen einholen zu müssen; darauf ließ es der Doktor Becker nicht erst ankommen. Und als er ein anderes Mal, in einer anderen Stadt mit einem anderen Paß, um Einreisebewilligung vorstellig wurde, bedurfte es keiner Erkundigung beim Pressedepartement mehr, um ihm zu sagen, daß er sich durch die öffentliche Behauptung, an Sacco und Vanzetti werde ein barbarischer Justizmord verübt, für jetzt und ewige Zeiten das Recht verscherzt habe, Gottes eigenes Land zu betreten. Das drittemal, als der Doktor Becker über seine Schuld Gras gewachsen glaubte, erging es ihm ebenso.

Seine Freunde rieten ihm nun, er möge bei der amerikanischen Konsularbehörde eines anderen Landes sein Glück versuchen oder sich ein gefälschtes Visum besorgen oder durch Bestechung ein echtes Visum oder mit fremden Papieren reisen und dergleichen. Alle diese Vorschläge wies der Doktor Becker weit von sich und nahm nur einen einzigen an.

Mit Hilfe desselben befand er sich also an Bord des englischen Dampfers und auf der Fahrt nach Amerika, worüber er Freude empfand, während er gleichzeitig die Befürchtung hegte, drüben zumindest nicht an Land gelassen zu werden.

Schriftlich erklärt und ehrenwörtlich bekräftigt hatte der Doktor Becker, daß er die amerikanische Verfassung durchaus anerkenne, daß er den gewaltsamen Sturz von Regierungen mitnichten gutheiße, daß er weder Anarchist sei noch Kommunist.

Im übrigen gab sich der Doktor Becker der Beobachtung des Lebens und Treibens hin, das sich auf dem Schiff entfaltete.

Im Hafen von Southampton, noch auf der Fahrt längs der englischen Küste und bis hinüber nach Cherbourg, wo die kontinentalen Passagiere das Schiff betraten, hatte sich besagtes Leben und Treiben fröhlich angelassen. Muntere Mädchen, anscheinend fünfzehn bis siebzehn Jahre alt, hüpften über alles Schiffsgerät und turnten auf der Reling, die Röcke wehen und die Höschen sehen lassend. Ernste Männer würfelten im Rauchzimmer bei Gin, Brandy, Whisky und Cocktails. Damen spielten im Aufenthaltsraum Klavier, daß es eine Art hatte, manchmal sang jemand dazu oder tanzte gar. Jüngere Leute schrieben in ihr Tagebuch die Stunde der Abfahrt ein und notierten vor einer Tafel, daß das Schiff heute 487 englische Meilen zurückgelegt habe. Am Mittagstisch unterhielt man sich und wußte alsbald von jedem Mitreisenden, ob er nach St. Louis oder nach Philadelphia fahre und die wievielte seiner Seereisen es sei.

Im Nebenzimmer war für kinderreiche Familien gedeckt, und dort saß auch, allein an einem Tisch, ein Neger, ein älterer, anscheinend studierter Mann mit Brille, und verzehrte seine Mahlzeiten. Darüber wunderten sich einige Europäer und erfuhren, kein Amerikaner würde mit einem colored man, einem Farbigen, an einem Tisch sitzen. Wunderten sich die einigen Europäer weiterhin, so erhielten sie die überlegene Antwort: »Sie werden anders über die Niggers denken, wenn Sie erst ein paar Wochen in Amerika gewesen sind!«

Kann sein, kann sein, vielleicht sind nur wir Europäer so närrische »sentimentalists«, die Neger auch für Menschen zu halten. Warten wir's ab, um anders über die Niggers zu denken, wenn wir erst ein paar Wochen in Amerika gewesen sind.

Kurzum, anfangs war es an Bord kurzweilig und belehrend. Aber allzubald machte sich der Atlantische Ozean, den man beinahe übersehen hätte, bemerkbar. Er schlug Wellen, das Schlingern und Stoßen und Stampfen begann. Die Maschinen ratterten in die Gehirne und Magenmuskeln, es war zum Kotzen, und man tat dies auch.

Auf Deck wurde es sehr öde, in den Aufenthaltsräumen und im Restaurant desgleichen. Nachts lag man auf schmalem Bett, doch schützten zwei Bretter vor dem Herausfallen. Es war weniger ein Bett als ein Sarg, ein Armesündersarg, ein Nasenquetscher. Am Kopfende brachte der Steward ein Körbchen mit Papiereinlage an, die, wenn sie zum Brechen voll war, durch eine neue ersetzt wurde. Außerdem waren für vier Personen zwei Wassergläser zum Trinken und Gurgeln, ein Waschbecken und zwei Nachttöpfe vorhanden. Die Luft da unten war – ohne Übertreibung – demgemäß.

Nach zwei bis drei Tagen trieben diese Luft und der Hunger die Menschen wieder nach oben, obwohl es kaum leicht war, sich in diesem Zustand anzukleiden, seine Hämorrhoiden in Ordnung zu bringen und die Stiegen emporzutaumeln, emporzuwanken.

So versammelten sich auf dem Deck einige Frauen von etwa vierzig Jahren, die sich gebrochen auf die Liegestühle warfen, wobei eine Brise die Röcke wehen und die Höschen sehen ließ und solcherart der Beschauer verblüfft erkannte, daß die ältlichen Damen mit den hüpfenden, turnenden Backfischen vom Reisebeginn identisch seien.

Langsam kamen Männer ins Rauchzimmer, sie waren blaß geworden, und es dauerte geraum, bevor ihnen der Brandy wieder schmeckte, den sie vorerst nur zur Stärkung zu sich nahmen, und dann der Whisky, der Gin, der Porter und die Cocktails.

Am raschesten waren die klavierspielenden Ladies auf ihren Posten und die Kinder, die zu diesen Klängen hopsten. Auf Deck wurde Schiffstennis gespielt, als Ball diente ein Kautschukring, den man mit der Hand fangen und wieder übers Netz schleudern muß. Andere Vergnügungen bestehen darin, Gummischeiben auf numerierte Felder eines Brettes zu werfen oder Ringe über eine Stange. Hauptsport ist »Shuffleboard«, das Schieben von Holzscheiben in eine mit Nummern markierte, etwa vier Meter entfernte Fläche.

Gespräche kommen in Fluß, und viele äußern Angst, bei der Landung Schwierigkeiten zu begegnen. Manchmal verlange das amerikanische Arbeitsamt eine Kaution von fünfhundert Dollar von denen, die nur ein Besuchsvisum haben, damit sie das Einwanderungsgesetz nicht umgehen und keine Arbeit im Lande annehmen; manchmal lehne der vom Einreisenden als Bürge angegebene amerikanische Bürger die Bürgschaft ab, und dergleichen.

Erfahrene Amerikafahrer verscheuchen diese Sorgen. Es sei längst nicht mehr so streng mit der Einwanderungskontrolle. Niemand werde zurückgeschickt, der das Visum hat. Nur mit den Bolschewisten mache man keine Geschichten, da sei man unerbittlich. Es gäbe solche, die sich das Visum erschleichen, aber man komme immer darauf, die Passagierlisten werden ja vorher nach New York gesandt, und dort habe die Polizei die genauesten illustrierten Verzeichnisse von allen politisch Anrüchigen der ganzen Welt.

Was dem Doktor Becker ferner mißfällt, ist: von Zeit zu Zeit taucht im Bereich der minderbemittelten Passagierklasse ein stämmiger junger Mann mit unlogischer Hornbrille auf, der zwar angibt, zum erstenmal nach USA zu fahren, sich aber kundig durch die verbotensten Türen des Dampfers bewegt. Er hat, von der bevorstehenden Präsidentenwahl ausgehend, den Doktor Becker in ein politisches Gespräch gezogen. Wie gern wären wir hinzugetreten und hätten dem Doktor Becker zugeraunt, auf keinen Fall etwas zu antworten! Zu spät, der Doktor Becker entwickelte dem Fremden bereits seine politische Meinung, bekannte sich mutig und offen zur Jaroslav Hašekschen »Partei eines gemäßigten Fortschritts im Rahmen der Gesetze«; er sei zwar Republikaner und Demokrat, sagte der Doktor Becker, lehne es jedoch entschieden ab, in den Chorus derer einzustimmen, die den entthronten Fürsten einen Eselstritt versetzen, da diese doch allesamt entsagungsvoll nur dem Wohle ihrer Untertanen gedient haben und niemand an ihre Wiederkehr denke.

In diesem Augenblick kam eine Sturzwelle, die schwarzäugige ungarische Dame, zufällig daneben stehend, übergab sich, und die politische Debatte war somit in adäquater Weise beendet.

Weiter geht die Fahrt, und es scheint, als ob die Turbinen sich allmählich von der Seekrankheit erholen. Die Karte im Rauchraum zeigt Tagesleistungen von 535 Meilen.

Einige junge Amerikanerinnen lassen sich von Doktor Becker die Grundbegriffe der deutschen Sprache beibringen und lachen sich schief darüber, daß »Kind« sächlichen Geschlechtes sei, unbeschadet, ob es einen Knaben oder ein Mädchen bedeute. Kichernd suchen sie unter dem Tisch dessen männliches Geschlechtsmerkmal, da sie hören, man sage: »Der Tisch«. Als aber »Fräulein« und »Mädchen« als Neutra bezeichnet werden, prusten sie heraus und rennen davon.

Zwischen der verschämten dritten Klasse und der unverschämten kann man, obwohl es nicht erlaubt ist, einen Spaziergang wagen, tief unter den privilegierten Wegen. Dieser submarine Weg vom Heck zum Bug führt an den Maschinenräumen vorbei, aus denen heftig wie Fausthiebe die Hitze emporschlägt. Auf der anderen Seite des Korridors: Schlafstätten und Aufenthaltsräume der Bemannung; nackte Menschen sitzen da, vom Öldampf und der Glut sich erholend. An den Wänden hängen die Vorschriften für den Fall von Alarm, Schiffszusammenstoß, Feuersbrunst oder Nebel. Die Mannschaft hat auszuharren auf ihrem Posten, bis die Passagiere gerettet sind. Ein Plakat verbietet, Morphium, Kokain, Heroin und Ecgomanin zu schmuggeln. Strafe bis zu tausend Pfund Sterling und bis zu zehn Jahren Zwangsarbeit wird angedroht.

Am vorletzten Tag, während die Fahrgäste beim Abendbrot sitzen, findet ein Seemannsbegräbnis statt. Ein Arbeiter, der die Paketsendungen für das morgen aus dem New Yorker Hafen kommende Postschiff vorbereitete, stürzte einen dreißig Meter tiefen Schacht hinab und blieb zerschmettert liegen. Er war dreiundzwanzig Jahre alt, Frau und Kind leben in Amerika und werden morgen wahrscheinlich glückstrahlend auf dem Pier seiner warten. Die Leichenteile wurden in ein mit Bleistücken beschwertes Stück Stoff genäht, das englische Banner darübergebreitet, der Kapitän liest ein Gebet, und auf zwei Seilen läßt man den Toten hinab.

Die Arbeiter kehren von der Totenfeier zu den Maschinen zurück, an den Passagieren vorbei, die vom Abendbrot zum Schiffsfest in den Loungeroom gehen und so von dem Unfall erfahren.

Da der Vorsitzende des Festkomitees ein mitreisender Reverend ist, gedenkt er einleitend des »in Ausübung seiner Pflicht« gestorbenen Seemanns und spricht ein Gebet, bei dessen Beginn alle englischen Damen automatisch die Hand an die Augen legen, um sie inbrünstig zu verdecken.

»Nun aber«, sagt der Pastor, »wollen wir uns fröhlicheren Gedanken zuwenden!«

Ein Jüngling rezitiert (schlecht) ein Kapitel der »Pickwickier«, eine Dame singt mit schiefgezogener Nase (schlecht) eine Arie aus »Traviata«, zwei Kinder tanzen (schlecht) Charleston, und ein Kaufmann aus Chicago erzählt (schlecht) drei Witze über Irländer.

Während dieses letzten Vortrages rief ein New Yorker Kaufmann einem anderen New Yorker Kaufmann, der ein überlegen-ablehnendes Gesicht machte, die Worte zu: »What did you expect from Chicago?!« Und dem Doktor Becker schien es, als hätte er den Sprecher bereits einmal bei einer Hochzeit in Brünn gesehen, wo er mit Bezug auf einen Vortragenden aus Iglau in dem gleichen Tonfall äußerte: »Haben Sie etwas Besseres aus Iglau erwartet?«

Und dann kommt die Preisverteilung des Bridge-Turniers, und zum Schluß singt man »God save the King«. Bei ähnlichen Anlässen war der Doktor Becker verprügelt worden, weil er sich nicht von seinem Stuhl erhoben hatte, diesmal aber steht er patriotisch auf. »New York vaut bien une messe«, mag er kalkulieren.

Der nächste Tag ist der letzte der Fahrt – aber nur für Erste-Klasse-Passagiere mit amerikanischem Bürgerrecht der letzte Tag an Bord.

Allerhand grellrote Bojen werden passiert, sie haben die Form von Schiffen und tragen auch Schiffsnamen: »Nantucket«, »Fire Island«. Überhaupt belebt sich das sonst nur an sich belebte Meer, Schiffe tauchen auf, ein Torpedobootzerstörer scheint direkt Kurs auf uns zu nehmen. An einem Schalter wechseln alle ihr letztes englisches Geld gegen amerikanisches ein. Die Decken, unter denen man auf den Liegestühlen geruht, bringt man dem Decksteward zurück, der den daran wie eine Preisangabe baumelnden Namenszettel abnimmt.

Die Damen erscheinen toilettiert und geschminkt, die älteren Ladies erkennt man jetzt, ohne daß der Wind weht, als die Backfische aus Southampton wieder.

Viel zu tun hat der Friseur in seinem kleinen Laden, wo man bisher Kragenknöpfe und Mundwasser kaufte. Heute läßt man sich rasieren und frisieren. Jener Kabinengenosse des Doktor Becker, der ihn gelehrt, in Strümpfen die Zehennägel zu schneiden, steckt zwei Brillantringe und eine Perlennadel an: »Wegen der Immigrationsbeamten«, bemerkt er, »sie beurteilen einen ganz anders.«

Der Abend sinkt. Leuchtschiffe und Leuchttürme grüßen zwinkernd, von Swinburne Island her kommt ein Boot mit dem Amtsarzt. Nun müssen alle Passagiere den Hammelsprung machen. Mit der Zähluhr in der Hand kontrolliert er, ob kein Stück der Herde fehlt. Um halb sieben wird die Bar im Rauchzimmer geschlossen. Bis zur letzten Sekunde verproviantieren die Männer ihren Magen mit soviel Whisky, als er verträgt, und etwas darüber.

Rechter Hand eine Lichterreihe: Coney Island, wie man erfährt, linker Hand Staten Island. Kaugummi-Reklame grüßt elektrisch, bewegt und eindringlich: »Wrigley's here, Wrigley's there, Wrigley's everywhere«.

Ebenso die »Statue der die Welt erleuchtenden Freiheit«. Man sieht sie zuerst im Profil, die Fackel weit von sich gestreckt, vom Sockel aus fällt ein Scheinwerfer auf ihre lückenlos durch ein faltiges Gewand verhüllte Gestalt. Vor nicht allzu langer Zeit fuhr ganz New York hierher, wenn jemand gehängt wurde. Der Galgen ist abgeschafft, der Elektrische Stuhl steht in Sing Sing und auf Bedloe Island die Freiheitsstatue.

Und schon: steuerbords die Südspitze des Eilands Manhattan mit den Wolkenkratzern!

Mit diesen Wolkenkuckucksheimen der amerikanischen Realität! Um von den Fäusten und Ellbogen der City nicht in den Hudson gestoßen zu werden, stülpen sich noch am äußersten Rand der Insel die Geschäfte und Kontore übereinander, vierzig, fünfzig, vierundfünfzig Stockwerke hoch.

Die berühmte »Skyline«, die Kontur der New Yorker Häusergiganten, hebt sich vom abendlichen Himmel ab.

Auf den Fassaden leuchten Rechtecke, viele Reihen, viele Etagen also. Darüber strahlen Kuppeln oder Türme. Die Vergleichsmöglichkeit fehlt – sieht man denn, daß das winzige Spielzeug, das achtlos auf der Erde liegt, acht- bis zehnstöckige Bauten sind?

Erdrückt wird man nicht von einer spätabendlichen Begegnung mit den Wolkenkratzern. Nur bezaubert. Da steht das Ganze als ein einziger Block, ein Montsalwatsch auf senkrechtem Felsen, seine Zinnen glühen und seine Wachttürme flammen.

Hart an der Stadt den Hudson aufwärts, an fünfzig stattlichen Häfen vorbei, die keine Häfen sind, sondern nur Anlegestellen des Hafens von New York.

Lichter und Lichtreklamen überall.

Unser Dampfer ist zu groß, um selbst in sein Landungsbassin zu manövrieren. So bugsieren ihn acht Schlepper. Zwei dieser »tugs« sind Vorspann, und zwei zerren seitlich das Schiff, zwei rennen mit verbundener Nase steuerbords und backbords unseren Rumpf an; wäre ihr Kiel nicht mit Hanf umwickelt, sie und wir würden Schaden nehmen.

Indes sich dieses possierliche Schubsen begibt, stehen auf dem Pier, tief unter uns, Menschen, viele Hunderte, tücherschwenkend, hüteschwenkend, schreiend.

Nur zwei Landungsbrücken werden vom britischen Steamer zum amerikanischen Land gespannt, die eine für die Passagiere der ersten Klasse, die andere für – das Gepäck der Erste-Klasse-Passagiere.

Alles drängt sich an Stellen zusammen, wo Blick und Schall eine Verbindung herstellen können zwischen Wartenden und Erwarteten. Erkennungsszenen, Wiedersehensszenen, Empfangsszenen par distance.

Noch eine Nacht an Bord, und eine schlimme. Es stellt sich heraus, daß der Lärm der Maschinen seine Vorteile hatte: heute, da sie verstummt sind, hört man nicht nur das Schnarchen und Rülpsen der Kabinenkollegen, sondern auch alles aus den angrenzenden Kajüten. Und an das Rattern der Dynamos, das Schaukeln des Schiffes gewöhnt, wird man seekrank und schwindlig vom jähen Gleichgewicht.

Die Prozeduren der Paßkontrolle und die Überprüfung der Personalien durch die Einwanderungskommission dauern stundenlang, von sechs Uhr morgens bis über den Mittag hinaus.

Der Doktor Becker, der als Beruf »author« angegeben, wird gefragt, was er denn für ein Schriftsteller sei.

»Novellen und Romane schreibe ich.«

»Und Politik?«

»Not at all!« erwidert er lächelnd.

So darf er hinunter in die Landungshalle, hinein nach Amerika.

 


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