Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Seine Majestät der Kaugummi

Die Kaugummifabrikanten behaupten: Zentralamerikas Ureinwohner hätten die harzartige Absonderung des Sapotillbaumes (achras sapota) auf ihren Jagdzügen im Munde gehalten, um die Speichelbildung zu fördern und solcherart den Durst zu überwinden.

Diese Behauptung ist unwahr. Wahr ist vielmehr, daß in keinem Bericht der spanischen Konquistadoren eine ähnliche Beobachtung vermerkt wird und daß gerade in jenen Gegenden, wo diese Kiefer wächst, die kauende Seuche bis zum heutigen Tage kein Opfer gefunden hat.

Wahrscheinlicher ist die andere Entstehungsgeschichte: einem Kaufmann in New York war aus Mexiko eine Schiffsladung dieses »Chicle«-Harzes mit der Bestimmung zugekommen, es zu Gummi verarbeiten zu lassen. Dies erwies sich als unmöglich, das Material war nichts weniger als widerstandsfähig. Was aber sollte nun mit der Sendung geschehen? Der Empfänger – wohl jener Mr. Thomas Adams, den die Kaugummi-Industrie zum größten Wohltäter der Nation zu stempeln bestrebt ist – war Anhänger der amerikanisch-teleologischen Naturbetrachtung: nicht deshalb, kalkulierte der Yankee, wächst in China der Reis, weil ihn die Chinesen gerne essen, sondern weil in China der Reis wächst, ist er Nahrungsmittel der Chinesen; nicht deshalb kommen Eisbär und Seehund in der Arktis vor, weil sich die Eskimos gern mit einem weißen Fell bekleiden und mit Tran salben, sondern umgekehrt. Also, schloß Mr. Thomas Adams messerscharf, also werden die Amerikaner mein »Chicle«-Harz einfach aus dem Grunde fressen müssen, weil es da ist! Müssen! Wozu haben wir die Reklame.

Mitte des vorigen Jahrhunderts begannen die Plakate zu schreien:

Tabak zu priemen ist giftig und unhygienisch.
Kaut Chiclegummi!
Kaugummi reinigt die Zähne!!
Kaugummi desinfiziert die Mundhöhle und den Gaumen!!!
Kaugummi macht die Zähne blitzblank!!!!
Wer Chicle kaut, bekommt sofort einen wohlriechenden Atem!!!!!
Kaugummi befördert die Verdauung – daher nach jeder Mahlzeit ein Kaugummi!!!!!!
Wollen Sie gesund und schön sein? Dann müssen Sie Gummi kauen!!!!!!!

Wer wollte nicht gesund und schön sein? Das erwachsene Amerika kehrte zum Gummilutscher zurück.

Bei den besonders intimen Beziehungen, die zwischen Unternehmern und Behörden in Amerika bestehen, ist durchaus anzunehmen, daß die Rauchverbote in der Straßenbahn und in der Untergrundbahn (ja, ähnlich wie in Berlin ist sogar in einigen Kinos und Bibliotheken das Rauchen verboten!) von der Kaugummi-Industrie angeordnet wurden. Automaten sind da: Einwurf ein Cent, Auswurf ein Kaugummi. Solch ein Stückel Chicle reicht bis zur zwanzigsten Haltestelle. Alles kaut.

In den neunziger Jahren, als die Allgegenwart der Bazillen entdeckt und gleichzeitig der Glaube an die Heilwirkung von Pfefferminze und Krauseminze Mode wurde, setzte der große Aufschwung ein. Eilig wurden den Kaugummiplätzchen diese Ingredienzien beigemengt, und sie gingen nun als Bazillentöter reißend ab.

Der Hauptgrund für den Erfolg lag im amerikanischen Volkscharakter, der zu rasend geschäftigem Müßiggang neigt. Immerfort wird etwas getan und nichts geschieht, fleißig ist man beschäftigt und nichts wird gearbeitet, große Bewegungen werden entfesselt, auf daß alles beim alten bleibe, die »headline«, die Riesenüberschrift aller Zeitungen, wird heute leidenschaftlich diskutiert, um morgen total vergessen zu sein. Der Mann in der Subway oder auf der Fähre spricht mit dem Freund von irgend etwas, liest dabei in der Zeitung irgend etwas anderes, denkt wahrscheinlich an irgend etwas drittes, es sei denn, daß er das Kreuzworträtsel löst, streckt dem Schuhputzer die Beine hin, und damit auch Zähne und Zunge auf ähnliche Weise vom Faulenzen abgehalten werden, kaut er Gummi.

Im Automatenrestaurant verschlingen die New Yorker binnen fünf Minuten ihre Mahlzeit, um dann stundenlang die Wälder von Mexiko zu zerbeißen und zu zerlutschen.

Beim Raspeln von Süßholz, beim Kauen der Betelnuß, beim Priemen von Tabak, beim Zermalmen der Sonnenblumenkerne erntet man einen Geschmack. Der des Kaugummis geht jedoch nach einer Minute verloren, und für den Rest der Stunde bleibt ein klebriger Klumpen im Mund.

Die Kaugummi-Erzeugung ist die nationalste Industrie von USA. Seit dem Weltkrieg ist sie besonders gewachsen; als Soldat auf den Märschen und auf den Wachen hat sich jeder Amerikaner das Kauen angewöhnt und ganze Landstriche Europas für diese Tätigkeit erobert. Während vor dem Kriege nur 74 Fabriken mit einer Belegschaft von 2689 Personen und 1 648 000 Dollar Jahreslohn ein Rohmaterial von 322 000 Dollar zu einem Produkt von 17 159 000 Dollar verarbeiteten, zahlt heute der Konsument bereits 150 Millionen Dollar jährlich, ohne daß sich die Zahl der Fabriken und der Belegschaften auch nur in annähernder Relation erhöht hätte, da alles maschinell erzeugt wird.

In riesigen Fabrikhallen der American Chicle Company auf Long Island bekommt man wenig Menschen zu Gesicht, und nur in den Versandräumen und in den Sälen der Fehlerkontrolle funktioniert ein Heer von Frauen, die immer noch billiger sind als die billigste Maschine, in weißen Kitteln und mit weißen Hauben zu Hunderten am laufenden Band.

Die Laboratorien kann man nicht besichtigen. Wie man den Geschmack von Ananas, Zitrone, Orange und Nelkenwurzelöl erzeugt, bleibt secret, und ebenso die Farben.

Und außerdem wird dort um das Geheimnis gerungen, den Rohstoff synthetisch zu fabrizieren. Hat doch 1914 der kriegerische Konflikt mit Mexiko die furchtbare Gefahr heraufbeschworen, Nordamerika könnte eines Tages ohne Kaugummi dastehen. Ein Versuch mit dem aus Borneo eingeführten »Pontianac«-Harz hat sich ebensowenig bewährt wie die Versuche, den Chicle künstlich herzustellen. Daher ist die Behauptung eines sozialistischen Kongreßmitgliedes glaubhaft, daß die imperialistischen Gelüste der Vereinigten Staaten auf Mexiko geschürt werden von Mr. Wrigley und den übrigen Kaugummifabrikanten.

 

Vorläufig sind die Lieferanten des Rohstoffs noch Ausländer, heißen »Chicleros« und leben in den mexikanischen Kiefernforsten davon, mit Riesenmessern die Baumrinde zu ritzen, das Harz, das zur Heilung der Wunde herausquillt, zu sammeln und, in Jute verpackt, auf Schiffe zu verfrachten.

Da liegt nun der zukünftige Kaugummi auf Long Island City, jedes Stück sieht einem Baumstrunk gleich und enthält genausoviel schweren Unrat, als man in gerinnendes Harz hineinzustecken vermag, um das Maximum an Gewichtserhöhung zu erzielen . . .

Davon und überhaupt gereinigt, in handliche Stücke zerschnitten, geknetet, in Platten gegossen und filtriert, tropft die Materie ein Stockwerk tiefer hinab, wo die Mischmaschinen stehen; verblüffenderweise nicht amerikanischen Ursprungs, sondern von »Werner Pfleiderer, Cannstatt-Stuttgart«.

Dick und süß von Zuckerstaub ist die Luft in dieser Mischhalle. Dem Chicle wird hier der feingemahlene Zucker zugesellt, die Salben für die unterschiedlichen Geschmäcke und die Öle für die unterschiedlichen Gerüche der einzelnen Sorten. Die Arbeit an den glühend fauchenden Pfannen, das Losreißen der Klumpen von den Walzen und die neuerliche Behandlung der Masse ist die schwerste; kein Amerikaner leistet sie, nur Italiener und Juden sind in der Kesselstraße am Werk.

Das Resultat: Teig. Der geht nun automatisch weiter, durch Räume mit künstlicher Luft von besonderer Temperatur und besonderer Konsistenz, durch Schneidemaschinen, Ausroll- und Formapparate, worin er zu Prismen, Stangen und Kugeln wird.

Zweihundert schräggestellte Kupferpfannen rotieren im coating department, welches in einer deutschen Kaugummifabrik »Dragier-Abteilung« heißen würde (der Verfasser weiß es aus der Pralinenindustrie). An der Wand hängen Tafeln mit den »Rekorden« einzelner Arbeiter – die Fabrikanten sind bemüht, die zu ihren Gunsten vollbrachte Höchstleistung als Sport hinzustellen.

In den bewegten Pfannen rattern rauhe Kugeln, in manchen rauhe Prismen. Sie reiben sich aneinander, sie schmiegen sich zueinander, sie stoßen sich durcheinander, bis sie glatt sind, poliert, und blitzblank leuchten.

Selbige höchst symmetrischen Körperchen mit den bunt strahlenden Reflexen sind also identisch mit den dreckbeschwerten Klötzen, die wir aus Mexiko ankommen sahen, und bald werden sie auch identisch sein mit dem schleimigen Klümpchen, das irgendein Bursche unter seinen Stuhl pickt, nachdem er es stundenlang im Mund hin und her gewälzt hat.

So freundlich und unschuldig und verlockend sehen die kaubaren Kügelchen, Würfelchen und Plätzchen aus, sie sind fertig und rollen schnurstracks in die Kartonierungs-, Expeditions- und Verladeräume, wo die Maschinen individuell und vielseitig arbeiten, die Menschen aber mechanisch und eintönig.

 


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