Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Henkersmahlzeit, verabreicht von Mister Stein

Es war der Tag, an dem der Doktor Becker in Chicago angekommen war. Die Interviewer hatten kaum sein Zimmer verlassen, als ihn eine Redaktion anklingelte, ob er eine Gastreportage über die heute abend stattfindende Hinrichtung schreiben wolle. Ja, sagte der Doktor Becker, er wolle eine Gastreportage über die heute abend stattfindende Hinrichtung schreiben. Wer es denn sei, der heute auf elektrischem Wege aus dem Wege geräumt werde. Es sei ein Neger, erwiderte der City Editor, aber der Name sei ihm augenblicklich entfallen.

Eine Stunde später hatte der Doktor Becker einen Admit in Händen to witness the execution of David Shanks at the County Jail at 12,05 a. m., gestempelt und unterschrieben von John E. Träger, Sheriff.

Im Gerichts- und Gefängnisgebäude, in dem sich der Doktor Becker nachts einfand, erfuhr er, die Hinrichtung sei abgesagt, was ihn weder verstimmen noch erfreuen konnte, da er nicht wußte, ob diese Verschiebung für den armen schwarzen Teufel David Shanks nur eine der in Amerika üblichen Verlängerungen der Todesqualen bedeute oder seine Rettung. Jedenfalls verließ der Doktor Becker das Kriminalgericht und ging in das Nachbarhaus, um an einer Bar Kaffee zu trinken.

Hier nun sah sich der Doktor Becker aus dem Regen in die Traufe gekommen oder – unbildlich gesprochen, obwohl es sich um Bilder handelt – aus einer Hinrichtung in viele.

Sie hingen an der Wand einer Nische, wo der, der Appetit hat, sein Abendbrot verzehren und sich manchmal an dem Gedanken begruseln kann, daß im nächsten Haus ein Armersünder genau das gleiche Menü als letzte oder als einzige irdische Wohltat zu sich nimmt.

Also hatte der Doktor Becker genügend Grund, sich die Tapete von Hinrichtungsbildern im Detail zu besehen und sogar seinen Bleistift hervorzuziehen, um sich einiges zu notieren, was dazu angetan schien, das kulturelle Niveau eines Landes einerseits und die Methoden von Henkersknechten anderseits zu illustrieren.

Kaum aber war der Bleistift des Doktor Becker gezückt, kam Mister Stein herbei, um sich dem des Journalismus verdächtig Gewordenen als Besitzer der Bar und als derjenige vorzustellen, der den auf den Photos verewigten Delinquenten das Henkersmahl hinüberbringe, ein »Chickendinner«, eine Mahlzeit mit gebratenem Huhn, für die er kein Honorar nehme.

Der Doktor Becker hatte während dieser Vorstellung immerfort auf ein Bild gestarrt und fragte nun den Mister Stein, wer von seinen Kunden darauf konterfeit sei. Das war freilich fehl, denn es erwies sich, daß dies der einzige Hingerichtete war, dem der Mister Stein kein letztes Abendmahl verabreicht hatte.

Das Bild stellte einen unzweifelhaft Toten vor mit verglasten Augen und einer verstümmelten Kinnbacke. Den Oberkörper des auf dem Boden liegenden Leichnams zerrt ein Vierschrot, auf dessen Uniformkappe das Wort »Guard« steht, der photographischen Linse entgegen, während ein anderer Dicker, »Warden« auf der Mütze, dem Kameramann zulächelt. Der Tote war, wie der Doktor Becker von Mr. Stein erfuhr, noch nicht tot, sondern nur in Agonie, da er – ein gewisser Harvey Church – aus einem der Öffentlichkeit unbekannt gebliebenen Grund in Hungerstreik getreten war. Am dreißigsten Tage der verweigerten Nahrungsaufnahme wurde er bzw. der Warden Mr. Westbroke für die Presse photographiert, und dann legte man Harvey Church noch die Schlinge um den Hals, obwohl dies zur Herbeiführung des Todes nicht mehr nötig war.

Auf einem anderen Bild sah der Doktor Becker einen kleinen Jungen mit mädchenhaftem Gesicht und hörte, dieser sei ein Chorknabe namens Viani gewesen und habe in seiner Zelle so schön gesungen, daß die Leute auf der Straße sich drängten. An seinem achtzehnten Geburtstag erhielt er das gebratene Huhn . . .

Erst seit April 1928 wird nicht mehr gehängt, sondern elektrifiziert. Der erste war der Arzt des Hospitals auf dem Ashland-Boulevard, Dr. Rongetti, gegen dessen Verbrechen Galgen und Galvanostrom geradezu als milde Rüge erscheinen: er hatte an einem Mädchen eine verbotene Operation gegen ein vereinbartes Honorar von fünfzig Dollar vorgenommen, von denen er fünfundzwanzig Dollar vorausbezahlt erhielt; als der Rest am nächsten Tag von dem Freund der Patientin nicht erlegt wurde, führte dieser Arzt, wie er vorher angedroht, die erforderliche Nachoperation nicht aus und ließ das Mädchen unter gräßlichen Schmerzen sterben. Eine bestialischere, gemeinere Meuchelei vermag man sich nicht auszudenken, zweifellos steht sie in Amerika vereinzelt da. Und doch, und doch – ihre Ursache ist amerikanisch.

In sozialer Beziehung bemerkenswert ist der Fall eines jungen, auf dem Bild bereits glatzköpfigen Deutschamerikaners namens Karl Wunder, der eines Abends die Polizei rief: er war in seiner Wohnung von einem Fremden überfallen worden und mit ihm in einen Kampf geraten, wobei der Räuber die Gattin Wunders und Wunder den Räuber erschoß. Die beiden Leichen wurden beerdigt und die Waffe des bis heute nicht agnoszierten Räubers der Heeresverwaltung zurückerstattet, da sie ein Armeerevolver war. Wie erstaunte aber die Polizei, als sie bald darauf von der Militärbehörde die Mitteilung erhielt, der Revolver dieser Nummer sei während des Krieges an Karl Wunder abgegeben und nicht zurückerstattet worden.

Nun verhaftet, gestand der Witwer, er sei, um seine Frau loszuwerden, einfach auf den »Sklavenmarkt« in Canal Street gegangen und habe den ersten besten der dort Stellungsuchenden für hundert Dollar geheuert, mit dem eingehändigten Revolver die Frau zu erschießen. Nachdem der arme Lump im Hause erschienen war und den Auftrag ausgeführt hatte, schoß ihn Wunder über den Haufen, um sich des Mitwissers zu entledigen und die hundert Dollar zu sparen. Nur die Nummer des Revolvers hatte er zu beseitigen vergessen, weshalb er auf den Elektrostuhl kam.

»Diesem da«, sagt Mr. Stein und deutet auf das Photo eines gewissen Russell Scott, »habe ich viermal das Huhn gebracht, viermal hat er es aufgegessen, und viermal wurde die Hinrichtung im letzten Augenblick abgesagt. Das fünftemal, als es schon ganz sicher war, fand man ihn in der Todeszelle tot vor – er hatte sich erhängt.«

Die meisten hier an der Wand haben sich das Anrecht auf ein einmaliges Sattessen durch einen »hold-up« erworben, jene amerikanische Art des Überfalls, bei der der Räuber seine Waffe und die Kassenbeamten ihre Hände erhoben halten; wenn das nicht klappt, gibt es Tote durch Revolver und dann durch Hinrichtung.

Mehrere sind Alkoholschmuggler; sie haben sich ihrer Verhaftung durch Schüsse zu entziehen versucht und dabei einen Polizisten getötet (»geharget« übersetzt Mister Stein, entweder weil er vermutet, der Doktor Becker werde das englische Wort »killed« nicht verstehen, oder um zu zeigen, daß er auch »deutsch« kann).

Wie es den Verhafteten auf dem Polizeirevier ergeht, zeigen manche Bilder mit erstaunlicher Unverschämtheit: die Festgenommenen haben blutige Wangen und zertrümmerte Nasen.

Die Tasse Kaffee, die der Doktor Becker bei seinem Eintritt in das kleine Gasthaus bestellte, ist auf der Theke kalt geworden, indes er die Bilder an der Wand besah. Der Doktor Becker bestellt keine zweite Tasse. Er hat um diese Zeit eigentlich eine amerikanische Hinrichtung sehen sollen, ist aber in effigie über alle belehrt worden. So entfernt er sich, nicht ohne von dem Nährvater der Hinzurichtenden eine Geschäftskarte zu erhalten:

 

Delaware 4262

Joe Stein
Court Restaurants
 

66 W Austin Ava.       Chicago, III.

 


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