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35

Das Mädchen setzte den Hund nieder, der alsbald an de Reux hochsprang. Merkwürdig: Dieser Mensch, der über das Leben anderer verfügte, wie es ihm paßte, der keine Rücksicht, kein Mitleid kannte, verstand es gut, mit Tieren umzugehen. Jerry war ein spezieller Freund von ihm. Selbst jetzt ließ er es sich nicht nehmen, das drahtige goldbraune Fell zu streicheln.

Valerie kam herein, kühl und hochmütig. Sie war nicht im geringsten verlegen, sondern stellte sich mit einer Gelassenheit, die de Reux verblüffte, mitten ins Zimmer. »Nun?«

De Reux gab der Durand einen Wink; doch diese zuckte wütend mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Geh!« herrschte er sie an. Sie wollte sprechen, deutete mit dem Finger auf Valerie. Er wiederholte nur das eine kurze Wort. Da ging sie. In der Tür drehte sie sich noch einmal um: Ihr Blick, voll Haß und Wut, hing an dem Mädchen. Valerie lachte.

Sie waren jetzt allein: Onkel und Nichte – dieses Spiel war vorbei.

»Ich habe zwar sonst nicht viel Sympathie für Leute, die hinter Türen lauschen«, sagte de Reux, »aber in diesem Falle wäre nichts dagegen einzuwenden. Du weißt nun wenigstens, wie die Dinge stehen. Dein Stiefonkel, Herr Robert Hasse, alias Eugen von Sprauhn, entlassener Mörder und Zuchthäusler – –«

»Lieber Onkel!« unterbrach sie ihn. »Ich werde dich noch für die kurze Zeit, die wir zusammen sind, ›Onkel‹ nennen, der Bequemlichkeit halber …. Also, mein lieber Onkel: Dir steht es nicht, auf so kleinliche Art Leute herabzusetzen! Das ist für Madame Durand – die schimpft und keift. Sprauhn ist hier und wird sein Recht haben wollen; und ich werde ihm helfen, so gut ich es kann.«

De Reux spielte mit Jerry, der unter drohendem Gekläff einen seiner beliebten Scheinangriffe auf die Schuhe seines Freundes auszuführen sich anschickte. »Jerry! Wirst du – –! Wart, wenn ich dich erwische!«

Jerry brummte, knurrte, kläffte und bellte, und es war ein ganzer Aufruhr.

Valerie setzte sich nieder und war verwirrt. Die Kaltblütigkeit dieses Menschen erdrückte die ihrige. Aber sie war aus dem Holz ihres Vaters geschnitzt und fürchtete sich vor nichts auf der Welt. Sie hatte erwartet, de Reux in Verzweiflung zu finden, zerknirscht, ratlos. Jetzt sah sie ihn vor sich: elegant, soigniert, Lebemann vom Scheitel bis zur Sohle. Seine Freundschaft für Jerry wirkte als mildernder Umstand für das Urteil, das sie bereits über ihn gefällt hatte.

Endlich wandte er sich zu ihr hin. Durch seine Tändelei mit dem Hunde hatte er sie mürbe machen wollen. Doch da er sah, daß sie mit lächelnder Behaglichkeit der Schlacht um die Schuhe zusah, änderte er seine Taktik. »Du hast vorhin gesagt, du wolltest mich noch für kurze Zeit ›Onkel‹ nennen. Du scheinst also die Absicht zu haben, dich von mir zu trennen?«

»Allerdings, die habe ich! Und zwar so bald wie möglich! Bei aller Dankbarkeit gegen dich ziehe ich es doch vor, zu meiner Mutter zurückzukehren.«

»Dieser Wunsch macht dir alle Ehre. Leider wird aber nichts aus ihm; denn ich befürchte, die Aktivität des Herrn von Sprauhn wird mich zu gewissen Verteidigungsmaßregeln zwingen. Ich werde genötigt sein, das Schweigen zu brechen, das ich bis jetzt, mit Rücksicht auf deine Mutter und ihren zweiten Gatten, beobachtet habe. Darf ich dir kurz auseinandersetzen, über was ich geschwiegen habe? Ja? Vor zwanzig Jahren wurde dein Vater, Anton Slevan, als er sich auf der Terrasse seines Hauses befand, vom Garten aus erschossen. Die beiden Brüder Sprauhn – Philipp, der ältere, und Eugen, der jüngere – wurden, als des Mordes verdächtig, verhaftet. Deine Mutter sagte vor dem Untersuchungsrichter unter ihrem Eid aus, daß Philipp von Sprauhn nicht der Mörder sein könne, denn um die fragliche Zeit sei er in ihrem Zimmer gewesen. Dieser Schwur war falsch; denn Philipp Sprauhn, dein Stiefvater, war der Mörder. Ich selbst habe ihn bei der Tat beobachtet. Ich habe während des Prozesses geschwiegen. Auch nachher. Und, Valerie, ich werde solange schweigen, solange du bei mir bleibst!«

Das Mädchen hörte ihm zu, und als er zu Ende war, hatte sie nicht einen Tropfen Blut im Gesicht. Steif und starr saß sie da.

De Reux tat nichts, um die Wirkung seines Schlages abzuschwächen. Er spielte wieder mit Jerry. Lärm im Zimmer, Knurren, Bellen ….

Endlich hatte Valerie wieder die Herrschaft über sich selbst zurückgewonnen. Sie zweifelte nicht daran, daß de Reux die Wahrheit sprach; denn alles, was sie erlebt und von ihrer frühesten Kindheit in Erinnerung hatte, war Beweis für seine Behauptung: die Tränen der Mutter, das gedrückte Wesen des Stiefvaters, die Scheu, mit der die Eltern oft umeinander herumgingen. Kinder sehen scharf, und ihnen prägt sich vieles ein, was bis spät ins Leben hinein seine Deutlichkeit bewahrt. Dann, nach dem Tod des Stiefvaters, die Angst der Witwe vor de Reux …. Mehr als eine Szene kam Valerie ins Gedächtnis zurück, wo die Mutter mit Zittern seinen Besuch erwartete. Dazu die Weigerung, nie über das Geschehene zu reden – nie über ihn. De Reux war ein Schuft, ein Erpresser; aber er hatte recht …. »Was willst du also?« fragte sie kalt.

Er erhob sich und trat vor sie hin. Nie hatte er dieses schöne Geschöpf leidenschaftlicher begehrt.

Sie rührte sich nicht, sah ihn nur von unten her an.

»Was willst du?« wiederholte sie.

»Dich! Ich bin nicht sentimental veranlagt – aber ich habe einmal deine Mutter geliebt. Sie war hochmütig, eine vornehme Dame, und sie hat mich nicht einmal angesehen …. Verstehst du? Ich bin ganz von unten herauf das geworden, was ich heute bin. Ich trage meinen Titel zu Recht: Hab' mich in Paris von einem alten, versoffenen Aristokraten adoptieren lassen; für zwei Jahre freien Absinth machte er mich zu seinem Sohn – in Anbetracht seines Durstes eine ziemlich kostspielige Angelegenheit …. Aber ich bin heute de Reux. Du brauchst mich nicht mehr ›Onkel‹ zu nennen! Dafür aber – –«

»Und wenn ich mich weigere?« Sie fühlte seine Hand auf ihrem Arm. Seine Leidenschaft war kaum noch zu zügeln. Der Griff schmerzte und ekelte sie.

»Dann wäre ich gezwungen, den Dingen ihren Lauf zu lassen.« Er gab sie frei und stellte sich, mit dem Rücken zu ihr, an die Glastür, die auf die Terrasse hinausführte. Er wollte nicht, daß sie in ihn hineinsähe. Als er sich zurückwendete, war er wieder der Förmlich-Liebenswürdige, den sie kannte. »Es ist das beste, wenn ich jeder Diskussion mit Sprauhn vorläufig aus dem Wege gehe. Ich habe keine Angst vor ihm; aber das Geheimnis muß bewahrt bleiben, solange deine Mutter lebt!«

»Es muß für alle Ewigkeit bewahrt bleiben!« rief sie und stand auf. »Du willst – –« Das »Du« wollte ihr nicht mehr recht über die Lippen. »Wir sollen also fort? Wann?«

»Das hängt von verschiedenen Dingen ab, die ich vorher noch zu erledigen habe. Vielleicht heute abend; vielleicht morgen. Halte dich auf jeden Fall bereit! Wir werden entweder mit dem Auto oder mit dem Boot nach Nizza fahren.«

Sie neigte den Kopf, zum Zeichen des Einverständnisses, und wandte sich zur Tür. »Und wenn Herr von Sprauhn mich zu sprechen wünscht?«

Er lächelte. »Euer letztes Gespräch auf der Terrasse des Kasinos habe ich glücklicherweise belauschen können …. Ja, es war gut, daß ich's tat – in unser beider Interesse. Da ich den ganzen Tag über beschäftigt sein werde«, fuhr er in liebenswürdigstem Ton fort, »kann ich nicht wieder deine Unterhaltungen mit unseren Feinden – mit unseren, Valerie! – überwachen. Ich halte es daher für zweckmäßig, wenn du auf deinem Zimmer bleibst, bis ich dich rufe.«

»Also eine Gefangene?«

»Man muß die Dinge nie mit ihren schärfsten Namen nennen! Man sollte sie scharmanter bezeichnen. Du kannst es auch so ansehen, daß ich mir's zur Pflicht mache, dich vor jeder Unannehmlichkeit zu bewahren. Denke, bitte, daran!«

»Ich denke daran …. Komm, Jerry!«


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