Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Verborgen in den Glatzer Bergen liegt das kleine Herzbad Kudowa. Jetzt, zu dieser vorgeschrittenen Jahreszeit, war es still dort. Und schön. Die Wälder ringsum trugen ihr Herbstkleid: gelb, braun, dunkelrot.
In dem Sanatorium, auf einem mit Tannen bestandenen Hügel, wohnte Lisa Sprauhn. Sie hatte das schönste Zimmer mit einer Terrasse, von der aus man in die Berge schauen konnte und auf die den ganzen Tag die warme Oktobersonne schien. Dort lag sie, sorglich eingehüllt, bleich, abgezehrt, ein Schatten der schönen, lebenslustigen Frau, um derentwillen vor zwanzig Jahren der wilde Sprauhn und Anton Slevan ins Raufen geraten waren.
Zwei Briefe hatte sie in den letzten Tagen bekommen. Einen von Sprauhn selbst und den anderen von de Reux. Sie wußte also, wen sie zu erwarten hatte, und mit Schrecken stellte der alte Sanitätsrat fest, daß sie immer erregter wurde. Eines Nachts hatte sie sogar einen sehr heftigen Anfall.
»Ich erwarte Besuch!« vertraute sie ihm an. »Den Bruder meines Mannes. Das regt mich so auf ….«
Der Arzt wollte sein Veto einlegen.
»Nein, nein, Herr Sanitätsrat! Ich muß ihn sehen!«
Und dann kam der Bruder ihres Mannes, und er entsetzte sich, als er sie erblickte. Er hatte es gelernt, sein Gesicht in Disziplin zu halten, doch sie ließ sich nicht täuschen.
Klagen? Das nicht. Sie hielt ihm die Hand hin: eine ganz dünne, durchsichtige Hand. »Ich wußte, daß du kommen würdest«, sagte sie. »Ich habe nicht das Datum vergessen, weißt du? Du hast Valerie gesehen? Du bist unten?«
Er erzählte, wie er sie und das Mädchen hatte suchen lassen. Er sprach auch von der Villa Plunkett, von Herrn de Reux, von Madame Durand. Die Kranke lag in ihren Stuhl weit zurückgelehnt und hatte die Augen geschlossen. Die Lippen zitterten, und die Hände glitten rastlos auf der Stuhllehne auf und ab.
»Lisa«, sagte Sprauhn, »glaubst du nicht, es wäre an der Zeit, daß du endlich die Wahrheit sagst? Ich will dich nicht drängen und dir nicht weh tun. Ich habe zwanzig Jahre lang gewartet; Da kommt es auf ein paar Tage nicht an ….«
Die magere, eingefallene Brust der Frau hob sich. Sie hustete. Als sie den Blick zu ihm hinwandte, lag so viel Jammer, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung darin, daß er nahe daran war, den Kampf aufzugeben, ehe er ihn recht begonnen hatte.
»Warum fragen, Eugen? Du weißt ja nicht …. Du hast zwanzig Jahre deines Lebens verloren; aber er – er hat doch das Leben ganz verloren! Er ist tot. Warum dann heute noch – –? Du kannst von vorn anfangen. Du nennst dich anders –: Hasse ….«
Er fuhr überrascht auf. »Woher weißt du das? Ich habe es dir nicht geschrieben!«
»Valerie ….« Sie blickte dabei von ihm weg, und er erkannte, daß sie wieder einmal nicht die Wahrheit sprach. Lisa Sprauhn, reizend, lebensfreudig und liebenswert, hatte immer die Schwäche gehabt, sich hinter der Lüge zu verstecken. Nicht Schlechtigkeit das; Schwäche. Mit dieser Schwäche hatte sie den Mut Philipp Sprauhns vernichtet. Seine Kraft war dieser Schwäche erlegen.
»Valerie hat dir geschrieben?« wiederholte Eugen. »Sonst niemand?«
»De Reux –!« stammelte sie. »Eugen: Warum quälst du mich? Ich warte doch nur darauf, daß ich die Augen zumachen kann. Dann weiß ich nichts mehr.« Sie suchte seine Hand. Sie bettelte um Mitleid.
Aber er ließ sich durch diese Dialektik der Verzweiflung nicht von seinem Vorhaben abbringen. »Du weißt nicht mehr?« sprach er ihr nach und gab sich keine Mühe, den bitteren Vorwurf in seiner Stimme zu mildern. »Das ist bequem, Lisa. Du mußt aber an dein Kind denken! Du weißt, bei wem sie ist! Soll sie dort bleiben? Ihr Leben lang? De Reux wird sie nehmen, wenn er Lust hat, und sie wegwerfen, wenn er genug hat.«
Sie zuckte unter diesen Worten, wie unter Schlägen. »Nein, nein!« keuchte sie. »Das nicht!«
»Die Wahrheit, Lisa! Du mußt endlich aufhören, dich vor der Wahrheit zu fürchten!«
Der Ausdruck ihres Gesichts bekam etwas Starr-Feierliches. Sie beugte sich vor, wie wenn sie aus irgendeiner Ferne eine Stimme hörte. »Ich möchte dir alles sagen, was ich weiß«, fing sie dann zögernd und stockend an. »Du wirst mich verfluchen, aber – – Philipp – ich liebe ihn heute noch ….«
Er versuchte, ihr das Geständnis leichter zu machen. »Du hast damals einen Meineid geleistet, um ihn zu retten?«
Sie ließ den Kopf sinken. »Ich wollte, er wäre bei mir gewesen. Ich hätte tausend Meineide geschworen! Tausend, Eugen! Wenn ich nur sicher sein könnte –!«
Er vergaß sich und schrie sie beinahe an. »Ja, um's Himmels willen, Lisa, glaubst du denn am Ende – –?« Und dann erinnerte er sich, daß er den Abschiedsbrief seines Bruders noch immer in der Tasche trug. Der Tag und die Stunde waren gekommen. »Ich will dir etwas zu lesen geben«, sagte er und hielt ihr die zwei dünnen, zerknitterten Blätter hin.
Sie erkannte auf den ersten Blick die Schrift. »Philipp –!« Das klang wie ein Schrei. Dann las sie. Ihre Lippen formten jedes Wort, und ihre Augenlider zuckten. Der Brief lautete:
»Lieber Eugen! Ich schreibe diese letzten Zeilen, so gut ich kann. Jeder Buchstabe tut weh, aber ich muß Dir wenigstens jetzt das sagen, wozu ich bei unserer letzten Zusammenkunft nicht den Mut hatte.
Eugen, ich habe die Frau geheiratet, die ich liebe, und habe doch in der Hölle gelebt, denn diese Ehe war auf einer furchtbaren Lüge begründet. Sie hat falsch geschworen –: Ich war in der Nacht nicht bei ihr, sondern draußen in unserem Lewanitzer Revier hinter dem alten Czernek her, den ich selbst beim Schlingenlegen packen wollte.
Lisa tat, was nur eine großherzige Frau tun kann: Sie kompromittierte sich und leistete einen Meineid, um mich zu retten. Aber sie besiegelte damit Dein Schicksal. Du, mein Bruder, wurdest als der Mörder verurteilt. Ich habe nie geglaubt, daß Du es wärst. Und nun versuch Dir auszumalen, was ich gelitten habe! Ich war ein Schwächling, der verächtlichste aller Feiglinge: ein moralischer Feigling. Ich hätte hingehen und die Wahrheit gestehen müssen. Aber die Frau wegen Meineids in den Kerker schicken? Auf der anderen Seite – Dich als Mörder leben lassen? Gott im Himmel, Eugen: Ich war oft nahe daran, mich zu erschießen ….
Wenn ich es nicht tat, so geschah es nur, weil ich hoffte, doch noch den wirklichen Mörder zu finden. Ich habe Tausende für alle möglichen Detektive ausgegeben. Nichts zu machen! Bleibt und bleibt ein Rätsel. Du warst es nicht – davon bin ich jetzt nach unserer Unterredung fester denn je überzeugt. Ich war es auch nicht. Aber wer?
Lisa hat Roboritz verpachtet und Slevans ganze Dienerschaft entlassen. Sie wollte keines der alten Gesichter um sich sehn. Die Leute sind in alle Winde. Niemand weiß etwas. Niemand. Und Du sitzt im Kerker!
Der Krieg, Eugen, war ein Ausweg. Ich habe von der ersten Kugel an, die ich an mir vorbeipfeifen hörte, gehofft, daß ich nicht lange auf die für mich bestimmte zu warten brauchte. Sie hat mich auch, Gott sei Dank, schnell erreicht …. Schwerer Bauchschuß – die Ärzte wundern sich, daß ich nicht schon längst hinüber bin. Aber ich wollte, ich mußte Dir das noch schreiben. Du wirst begreifen, vielleicht sogar verzeihen ….
Ich habe mich Dir gegenüber versündigt. Aber, Eugen, was wäre aus der Frau geworden, aus Lisa? Ich liebe sie! Eugen – verzeih! Gott wird Dir gnädig sein, und Du wirst des Kaisers Rock wieder anziehen! Ich aber – ich bin nicht wert, ihn zu tragen …. Leb wohl! – Philipp.«
Sie war zu Ende und sank mit geschlossenen Augen zurück. »Er hat sterben wollen!« flüsterte sie vor sich hin. »Ich bin schuld!«