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Er blieb also im Zuchthaus bis zum 8. Oktober des Jahres 1931. Und trat nun, als Zweiundvierzigjähriger, aus der Abgeschiedenheit des Kerkers in eine Welt hinaus, in der inzwischen alles von unterst zuoberst gekehrt worden war ….
»Die Welt ist verrückt geworden!« sagte Eugen Sprauhn zu seinem Rechtsanwalt, als er ihm in dessen Wiener Kanzlei gegenübersaß. »Ich kenne mich wenigstens vorläufig nicht in ihr aus.«
Dr. Schwarz-Heller, ebenso lang und hager wie sein Klient, hatte ein feines, geistiges Gesicht. Er war zwanzig Jahre älter als Sprauhn; doch wer sie nebeneinander sah, mußte ihn für den Jüngeren halten. Er blätterte in den Akten, die er vor sich liegen hatte, und sagte nichts. Leute, die solche Erfahrungen hinter sich hatten wie Sprauhn, ließ man reden, wenn sie wollten. Wenn nicht, fragte man sie nicht.
Sprauhn streckte die Beine von sich, legte die Hände zwischen die Knie und blieb eine Zeitlang still. Es fiel ihm schwer, den Ausdruck für die Gefühle zu finden, die ihn beherrschten.
Vor einer Stunde war er nach Wien gekommen. Zum erstenmal seit zwanzig Jahren. Er war in demselben Hotel abgestiegen, in dem er früher gewohnt hatte. Die Gesichter alter Bekannter hatten ihn gegrüßt. Sogar dasselbe Zimmer hatte er bekommen, das er früher immer hatte. Neues Mobiliar darin, ein Badezimmer dabei, Telephon neben dem Bett. Man nahm den Hörer ab, konnte sich mit Paris verbinden lassen oder mit Berlin. Das war früher noch nicht gewesen. Und sonst? Langsam war er über die Ringstraße zur Dominikanerbastei hinuntergegangen, auf der sich Schwarz-Hellers Büro befand. Da und dort war er vor einer Auslage stehengeblieben, hatte den Kopf geschüttelt und war weitergegangen. Zaghaft, zögernd, wie wenn er sich nicht recht traute. Leer erschien ihm die Straße, entvölkert ….
»Die Leute sehen alle so arm aus«, sagte er schließlich. »Schäbig beinahe. Ist es denn wirklich wahr, daß der Wiener ein Bettler geworden ist?«
»Lieber Baron: Die Kreditanstalt hat Pleite gemacht! Was wollen Sie? Die Kreditanstalt war Österreich …. Wir haben allerdings noch die Oper und die Philharmoniker und prägen Silbermünzen mit dem Kopf Schuberts. Wir leben von der Tradition und reden uns ein, wir würden davon satt. Wir haben aufgehört, eine Kaiserstadt zu sein, und sind jetzt die Hauptstadt einer Republik.«
Der Besucher nickte. Wieder eine Pause. »Ich war in Prag«, Fing er dann an. »Das ist auch die Hauptstadt einer Republik. Denen scheint es doch gut zu gehen –?«
»Ja, die haben auch auf der anderen Seite gestanden.«
In Prag ist Leben und Bewegung. Und überall Tschechisch! Aus dem »Kaiser-Franz-Joseph-Bahnhof« haben sie einen »Wilson-Bahnhof« gemacht! Na, ja ….« Er zuckte die Achseln. »Mir haben sie mein halbes Gut weggenommen. »Bodenreform« nennt man das in der neuen Tschechei …. Vielleicht, wenn ich Tscheche geworden wäre –?« Er hob die Achseln.
Gleichgültig war ihm alles. Er sprach auch so. In seiner Stimme war nicht ein warmer Ton. Sein Gesicht unbeweglich. Die Hände lagen zwischen den Knien und waren hart und knochig. Der Anwalt hatte noch sehr gut in Erinnerung, wie jung, blühend, von Lebenskraft überschäumend dieser Mensch ehedem gewesen war, den das Gericht ins Zuchthaus geschickt hatte. Wenn je das Wort vom »Schatten des früheren Selbst« angebracht schien, so hier.
»Ich hab' ein Gesuch eingereicht an die Regierung und gebeten, das Fideikommiß aufzuheben. Ich will es verkaufen. Früher hieß es »Belau«, und jetzt heißt es »Belovice«. Ringsherum reden sie Tschechisch; sogar der Pfarrer kann nicht richtig Deutsch. Ich bin fremd geworden bei mir zu Hause – ein Fremdrassiger …. Mein Gott: Vielleicht haben sie recht? Wer siegt, hat immer recht!«
Er stand auf, stellte sich ans Fenster. Ein Gefühl mochte in ihm aufgestiegen sein, das er fremden Augen nicht zeigen wollte. Als er sich zurückwendete, war fein Antlitz kalt und bewegungslos, wie immer. »Meine Leute liegen dort in der Kirche alle – bis zu dem Feldmarschalleutnant, der unter London gekämpft hat. Gräber wird man wohl auch in der heutigen Zeit nicht enteignen? Also: Die können ruhig schlafen ….« Er setzte sich wieder in seinen Sessel. Schwerfällig rieb feine Land auf dem hageren Knie hin und her. »Nun: Irgendwelches Glück gehabt?« fragte er.
»Ich glaube, es zeigt sich eine Spur«, erwiderte Schwarz-Heller. »Ich schrieb Ihnen ja, daß Ihre Frau Schwägerin im Jahre 1929 mit ihrer Tochter Wien verlassen hat. Sie sagte mir damals, sie ginge nach Berlin. Das Mädchen sollte dort eine Anstellung bekommen in einer Bank oder so was Ähnliches ….«
»Ich verstehe das einfach nicht!« warf Sprauhn ein. »Die Frau muß doch Geld gehabt haben und Schmuck …. Soviel ich weiß, war Roboritz eine halbe Million wert. Wo ist denn das alles hin? Schmuck hat sie bestimmt gehabt. Sie haben mir immer geschrieben, in der Inflation sei alles draufgegangen. Gewiß, ich ließ es mir gut gehen da hinter Schloß und Riegel – ich hab' diese verrückten Zeiten nicht mitgemacht; aber – – ich verstehe es einfach nicht!«
»Ihre Schwägerin ist's nicht allein, die durch die Inflation mittellos wurde. Gehn Sie mal hier durch unsere guten Viertel und sehen Sie sich die Leute an, die vor dem Kriege wohlsituiert waren! Wir haben doch Patrizierfamilien gehabt, alteingesessene Familien. Alle verarmt …. Sie sind nicht der einzige, der diese Zeit und ihre Welt nicht begreift.«
Sprauhn zuckte die Achseln. Das Schicksal fremder Menschen war ihm gleichgültig. »Von hier ging sie nach Berlin …. Sie schrieben mir, Doktor, Sie ließen sie auch dort überwachen?«
»Hab' ich auch getan. Mein Kollege, Rechtsanwalt Lutz, hat das besorgt. Aber vor drei Wochen waren Mutter und Tochter aus ihrer Wohnung verschwunden. Gerade vor drei Wochen! Ich hab' Ihnen ja ausführlich Bericht erstattet.«
»Seitdem lasse ich sie überall suchen. Es hat eine Menge Geld gekostet. Ich werde Ihnen nachher die Abrechnungen zeigen ….«
Eine verächtlich abwehrende Bewegung Eugens. »Die Hauptsache ist, daß Sie eine Spur haben!«
»Ich glaube wenigstens. Unten an der Riviera.«
Sprauhn zog die Brauen hoch. Sein Gesicht machte dadurch den Eindruck, als würde es noch einmal so lang. Unter der gespannten Haut traten die Backenknochen stärker hervor. Kein angenehmes Gesicht – ein Gesicht, das seit langem das Lachen verlernte …. »Was machen sie an der Riviera?«
»Weiß ich nicht. Ich weiß ja nicht mal genau, ob es Frau Lisa mit ihrer Tochter ist. Man hat auch nicht die Mutter gesehen, sondern nur das Mädchen. Ihre Schwägerin gab mir, bevor sie Wien verließ, zur Erinnerung ein Bild. Das hab' ich vervielfältigten lassen und an alle möglichen Agenturen geschickt. Wollen Sie's sehn?« Er öffnete die Lade seines Schreibtisches, zog eine Photographie heraus.
Wortlos streckte Sprauhn die Hand nach ihr aus. Wortlos betrachtete er sie. Und sah eine Frau und ein Mädchen. Das Mädchen war ihm fremd, doch die Frau – die kannte er wohl. In den ersten Jahren, da er den grauenhaften Kampf mit sich selbst auskämpfte, hatte ihn dieses Antlitz verfolgt, mit seiner Lieblichkeit gemartert. Allmählich war es – so, wie die Sonne im Abendnebel verschwindet – hinter Schleier entwichen und undeutlicher geworden, immer undeutlicher, bis nichts blieb als eine schmerzlose Erinnerung …. Hier nun wieder dasselbe Gesicht …. Aber ein pathetisches Gesicht, voll unendlichen Leides …. Ihr lebendes Bild stieg vor ihm auf – so, wie er sie damals in Trauer vor sich sah, zwischen ihm und ihr das Gitter …. Das Mädchen das Abbild der Mutter. Aber jung, unverbraucht. Augen, die groß und lebenslustig in die Welt schauten. Ein Geschöpf, das noch Fragen an das Schicksal zu richten hatte.
»Wie alt ist das Bild?« fragte Sprauhn, indem er die Photographie zurückgab.
»Drei Jahre.«
»Also, da wird sie sich wohl seither kaum verändert haben …. Sie sagen, man habe die Tochter gesehen?«
»Jawohl: in Monte Carlo, im Café de Paris.«
»Und die Mutter nicht?«
»Nein. Mein Agent schreibt ausdrücklich, die Dame, deren Aussehen diesem Bild da entspricht, befand sich in Begleitung eines älteren, sehr elegant aussehenden Herrn – eines Herrn von Reux, wie der Mann später herausbekam.«
Wieder das Hochziehen der Brauen. »Reux?« Eugen Sprauhn schüttelte langsam den Kopf.
»Hab' nie den Namen gehört ….« Er stand auf. »Nun, wir werden ja sehn! Wie heißt Ihr Agent da unten?«
Der Anwalt hielt ihm eine kleine Geschäftskarte hin, auf der als Adresse stand: »Lewis J. Dale, Private Agency, La Condamine (Monaco), 24 Rue Grimaldi.«
»Wollen Sie mir bitte eine Empfehlung an den Mann geben?« fragte Sprauhn. »Ja? Gut! Ich werde gleich darauf warten.«
Dr. Schwarz-Heller ließ eine Stenotypistin kommen und diktierte den gewünschten Einführungsbrief.
Währenddes saß Sprauhn bewegungslos im Sessel, die langen, dünnen Hände auf den Knien, und blickte starr geradeaus. Als der Brief fertig war, steckte er ihn, ohne einen Blick darauf zu werfen, in die Tasche und erhob sich. »So – das wäre alles! Sobald Sie mir den Paß besorgt haben, fahre ich. Glauben Sie, daß Sie Schwierigkeiten haben werden?«
»Ist beinah schon so gut wie erledigt. Ich hab' dem Minister die Sache vorgetragen. Er erinnerte sich sogar an den Prozeß und findet es begreiflich, daß Sie Ihren Namen verbergen wollen, bis er wieder sauber ist. Ich hoffe, morgen können Sie den Paß haben.«
»Also dann besten Dank für Ihre bisherigen Bemühungen, Herr Doktor!« Eugen Sprauhn legte eine kalte, ausdruckslose Land in die des Anwalts.
Der hielt ihn noch einmal zurück. »Ich weiß, Herr Baron, daß Ihnen Anrecht geschehen ist –«
Weiter kam er nicht. Sprauhn machte sich brüsk frei. »Das ist nun einmal geschehen, Doktor! Vergangenen Dingen soll man nicht nachweinen …. Ich hoffe, ich finde die Frau!«
»Sie ist schuldlos!« warf Schwarz-Heller rasch ein. »Sie hat genug gelitten! Was wollen Sie von ihr?«
Statt einer Antwort, fragte Sprauhn mit kalter, tonloser Stimme: »Sie haben mich damals verteidigt, Doktor. Aber waren Sie wirklich davon überzeugt, daß ich nicht geschossen habe?« Hohn in seinem Blick, mit dem er den Anwalt ansah, Herausforderung geradezu.
Schwarz-Heller schüttelte langsam den Kopf. »Hätte ich diese Ueberzeugung nicht gehabt, würde ich Sie nicht verteidigt haben. Ich bin keiner von den Anwälten, die den Geschworenen ein X für ein U vormachen; ich muß selbst an das glauben, was ich vertrete. Sie sind nicht der Mörder!«
»Und mein Bruder?«
Der Rechtsanwalt zögerte einen Augenblick. »Gegen den Schwur Ihrer Schwägerin läßt sich nichts tun. Er ist eine Mauer.«
Sprauhn zog seine Landschuhe an. »Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Doktor: Schwur hin – Schwur her ….«
Über des Anwalts Gesicht zuckte Überraschung. »Was reden Sie da?«
»Ich rede gar nichts! Meine Schwägerin Lisa hat geschworen. Damit fertig! Aber auch, wenn sie nicht geschworen hätte, Doktor, dann hätten Sie meinen Bruder mit derselben Ueberzeugung verteidigen können wie mich. Ich sage Ihnen nochmals: Weder er noch ich haben Slevan erschossen! Das steht fest. Also war es ein Dritter!«
»Und den wollen Sie bei Ihrer Schwägerin finden?«
Sprauhn antwortete nicht gleich. Er hielt den Arm weit von sich gestreckt und betrachtete nachdenklich seine funkelnagelneuen Handschuhe. Es war lange her, daß er solche getragen hatte …. »Das hab' ich nicht gesagt. Aber irgendwo muß man doch zu suchen anfangen, nicht wahr? Und, Doktor, ich muß den Mann finden, um dessentwillen ich zwanzig Jahre lang im Kerker gesessen habe! Ich fordere von ihm Rechenschaft dafür, daß ich nicht einmal für gut befunden wurde, als gemeiner Soldat ins Feld zu ziehn! Ich hab' in der ganzen Zeit an nichts andres gedacht als an diese Abrechnung …. Auf Wiedersehn, Herr Doktor!«