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Eugen Sprauhn beugte sich zu ihr hinunter. »Lisa, darüber darfst du jetzt nicht grübeln! Nicht rückwärts schauen! Sondern vorwärts! Du mußt an dich denken! An Valerie! Und auch an mich!«
Sie nickte. »An dich! Eugen ….« Ihre Hand, eiskalt, tastete, Verzeihung suchend, nach der seinigen.
Er nahm sie in seine knochigen Finger. »Es wird alles in Ordnung kommen, Lisa. Nur: Du mußt mit dir selbst anfangen!«
Doch sie war noch nicht so weit; sie war noch bei dem Toten. »Du hast den Brief aufgehoben …. Niemand hat ihn gelesen?« fragte sie.
»Niemand. Der Brief ist an mich gerichtet.«
Sie verlor sich hartnäckig in ein »Wenn«, das ihr gefährlich hätte werden müssen. »Wenn du ihn gezeigt hättest – –«
»Was hätte mir das genützt? Und dann, Lisa: Er hat mir den Brief doch nicht geschrieben, damit ich mit ihm hausieren ginge, nicht wahr? Oder sollte ich vielleicht – –?«
Sie verstand ihn. »Du hast mich geschont! Und ich – –?«
Er wurde ungeduldig. Das Herumwühlen in Gefühlen war nicht mehr seine Sache. Weiter! Dort unten in Monte Carlo hatte er eine Rechnung abzuschließen.
»Und doch –«, sprach sie weiter, »wenn du mir den Brief gezeigt hättest! Mir wenigstens! Dann wäre ich alle Zweifel los gewesen. Ich hätte vielleicht – –« Dann beugte sie sich weit vor und sah ihn beinahe drohend an. »Du glaubst ihm doch, Eugen?«
»Ich habe ihm immer geglaubt!«
Sie nickte. Sie war wie ausgewechselt. Der Druck wich von ihr. »Dann will ich alles sagen! Dann fürchte ich mich nicht! Dann können sie mich meinetwegen vor Gericht stellen!«
Die Kraft ihres zermürbten Körpers hielt mit dem Aufschwung ihrer Seele nicht gleichen Schritt. Ein heftiger Anfall packte sie, und Sprauhn war schon auf dem Sprunge, den Arzt zu holen. Doch sie sammelte die Reserven ihrer Kraft und bat ihn, die Tropfen zu bringen, die sie auf dem Nachttisch stehen hatte. »Zwanzig – besser gleich fünfundzwanzig!«
Langsam, Schluck um Schluck, trank sie das Wasser mit den Tropfen. »Wenn das der Sanitätsrat sähe!« Der Schatten eines Lächelns schlich um den eingefallenen Mund. »Ich will, daß du mich begreifst, Eugen! Ich habe alles geopfert – nicht, um mich zu schützen. Nein – nein: nur, um das Andenken des Toten zu retten. Er war mein Leben – er ist es heute noch!«
Dieses Eingeständnis einer großen Liebe erschütterte den Zuhörer. Und doch: Die Lebenden allein haben recht!
Sie sprach weiter. Aber nicht zu dem Manne neben ihr, sondern in die Vergangenheit hinein, wie wenn sie zu dem Toten redete: »Der dort unten in Monte Carlo behauptet, er habe Philipp hinter dem Gebüsch stehen sehen. Er behauptet, er habe ihn schießen sehen …. Das behauptet er!«
Dem Zuhörer versagte der Atem. »Das –! Warum hat er denn nicht vor Gericht – –?«
»Sein teuflischer Plan – verstehst du? Er hat mich ruhig den falschen Eid schwören lassen und sich noch nicht einmal gerührt, als wir heirateten. Er ist gleich nach der Geschichte von Roboritz fort und hat seine Geliebte mitgenommen ….«
»Madame Durand?«
»Jawohl: Heute heißt sie Madame Durand! Sie sind beide fort. Ich habe nichts von ihnen gesehen und gehört, bis – bis – –« Sie hob den Brief, den sie noch immer in der Hand hatte, hoch und hielt ihn weit von sich, als riefe sie ihn zum Zeugen an. »Da steht es! Philipp – – o Gott! …. Dann war der Mensch plötzlich da. Er kam nach Belau. Und er brachte die Durand mit. Die wußte, daß ich in jener Nacht allein in meinem Zimmer war. Es konnte niemand zu mir hinein; Slevan hatte die Tür abgesperrt. Auch sie hat sich während des Prozesses nicht gerührt. Ihr Plan – verstehst du? Sie haben mich in Sicherheit gewiegt. Aber als Philipp im Grab war und sich nicht mehr verteidigen konnte, sind sie über mich hergefallen …. Eugen: Ich hätte mich für den falschen Eid einsperren lassen – ja, ja! Aber Philipp? Er konnte sich nicht mehr verteidigen …. Sie haben sich ihr Schweigen bezahlen lassen. Ich habe alles hergeben müssen. Zuerst meinen Schmuck. Dann die Meierhöfe. Zum Schluß Roboritz selbst. Belau gehört euch – das konnten sie nicht anrühren. Eugen – Eugen: Dein Bruder konnte sich doch nicht verteidigen!«
Sprauhn stand langsam auf und trat an die Brüstung der Terrasse. Er war jetzt wirklich der wilde Sprauhn. Seine langen, knochigen Finger streckten und dehnten sich. Haß und Wut brannten in ihm. Der Bruder konnte sich nicht verteidigen! And er selbst saß im Gefängnis! Zwanzig lange Jahre! »Zeig mir seinen Brief!«, sagte er, als er sich wieder zu ihr zurückwendete. Seine Stimme war ruhig und verriet nichts von dem Sturm in ihm.
Sie zog sich ängstlich in sich zusammen. Für einen Augenblick griff die Furcht, die ihr ganzes Leben beherrscht hatte, wieder nach ihr. »Was willst du mit dem Brief? Der Mensch ist ein Teufel!«
Eugen Sprauhn schob sich einen Stuhl zu ihr hin und rieb sich, wie es seine Gewohnheit war, die Knie. »Hör mich mal an, Lisa! Wovor fürchtest du dich eigentlich? Vor dem neuen Prozeß? Du sagst selbst, er solle kommen! Ich will dir keine Vorwürfe machen. Aber ich will, daß du endlich auch an mich denkst und an dein Kind! Wo ist der Brief?« Das war keine Bitte mehr – ein Befehl: hart, grausam beinahe.
»Ich habe ihn drinnen in meinem Schreibtisch. Schieb mich hinein! Ich werde ihn dir geben!«
Das geschah. Mit zitternden Fingern zog sie eine Lade auf und kramte einige Papiere heraus. Sprauhn sah seinen eigenen Brief und bekam den de Reux':
»Verehrte Frau Baronin! Ich halte es für meine Pflicht, Sie davon zu benachrichtigen, daß Ihr Herr Schwager sich seit seiner Freilassung unter dem Namen Robert Hasse hier in Monte Carlo, in meinem Hause, befindet. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, welches Ziel er verfolgt? Er ist derselbe geblieben, der er war: egoistisch und gewalttätig. Die zwanzig Jahre im Kerker haben ihn nicht besser gemacht. Ich weiß, daß er Sie aufsuchen und alles daransetzen wird, Sie zum Widerruf Ihres Schwurs zu bringen. Ich warne Sie daher, Frau Baronin! Denn wenn Sie reden, wäre ich zu meinem größten Leidwesen gezwungen, das Schweigen zu brechen, das ich zwanzig Jahre lang, meiner Verpflichtung getreu, bewahrt habe ….
Ihrem Fräulein Tochter geht es ausgezeichnet. Ich fürchte nur, auch sie wird sich von Herrn Hasse betören lassen. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, Frau Baronin, daß ich dann veranlaßt wäre, ihr gegenüber Maßregeln zu ergreifen, die ich aufs allerheftigste bedauern würde, die mir aber für unser aller Sicherheit unerläßlich erscheinen.
Genehmigen Sie, Frau Baronin, den Ausdruck meiner unveränderten Ergebenheit! – Hektor de Reux.«
Lisa Sprauhn lag in ihrem Rollstuhl und ließ den Blick nicht von dem Gesicht ihres Schwagers.
Er starrte über sie hinaus ins Weite, und seine Zähne nagten an den Lippen. Also de Reux hatte gewußt, daß er nach Kudowa fuhr? Woher? Einen Moment zuckte ihm der Gedanke durch den Kopf: Dale? Zu kaufen war schließlich jeder; Sprauhn hatte nicht viel Respekt vor Menschlichem und Allzumenschlichem. Doch unwahrscheinlich: Dale selbst hatte alles Interesse daran, de Reux zu Fall zu bringen. Also wer? Valerie? Die Tochter ihrer Mutter? Lüge? Lüge?