Jean Paul
Titan
Jean Paul

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Dreizehnte Fahrt

Die Atonie des Jahrhunderts – das Bad Herrenleis – cû de Candide – Bauernhochzeit und Predigt dazu

Ich fliege gerade den Schweizer-Bergen zu; nur treiben die wie feindliche Parteien umherstreifenden Gewitterwolken, die meinen Globus attrahieren, ihn zu häufigen Konjunktionen mit der Erde nieder. Heute morgens ging ich ins Bad Herrenleis herab, wo ich jetzt sitze. Die invalide beau monde, die eben den Brunnen umrang, lief mit den Bechern zu mir heran. Ich machte kalt vor ihnen allen – wie etwan vor einer zuschauenden Wiederkäu-Herde – meine Sachen zurechte. Eine hübsche Sammlung von Gesichtern! Jedes war an seinen Eigentümer als das schwarze Täfelein angeschlagen, das im Hauptspital zu Wien am Bette eines Kranken hängt und worauf dessen Klistiere, Zuckungen, Husten, Stühle und Durst verzeichnet sind! Der größere Teil davon gehörte noch dazu nicht zu den dienenden, sondern regierenden Brüdern, welche in irgendein Teilchen von diesem Weltteilchen ihren Kranken- und Fürstenstuhl eingesetzet haben. So wird regiert, der Krankenwärter vom Siechling, der Blinde vom Hunde, die Frau vom Manne. Denn seitdem die Weiber männlich, und die Männer weibisch werden, wie in Aachen Hirten-Mädchen pfeifen, die Knaben aber nur singen, seit dieser Dynastie regiert ein Weib beinahe sich selber mehr als einen Mann, weil List und Schwäche lieber befiehlt als Stärke und leichter beherrschet als Recht.

Obgleich die Frage ist, was mehr plagt, ob die Schwere oder die Blendung einer Krone, ob die Handschwielen oder die Rücken-Striemen vom Zepter: so können die Menschen doch nicht einmal einen Ball, ein Essen, ein Schießen durchführen ohn' eine Ballkönigin, einen Eß-, Opfer-, Schützenkönig, die Vizekönige nicht einmal angeschlagen. Kurzsichtige Langhälse schreien über die Augenbraunen eines Monarchen, welche, so wie sie finster nieder- oder heiter aufwärtsgehen, eine Welt senken oder heben; aber zeigt mir in der Geschichte nur einen republikanischen Boden fünf Kubikfuß breit, wo nicht dieselben Augenbraunen wüchsen! Jeder Minister, jeder Generalissimus in Rom oder Paris hat Haare über dem Augenknochen, an deren einem Länder über den Abgrund hängenAllerdings ist diese Unterordnung der Vielheit unter die Eins sogar in den Demokratien, obwohl temporell (aber nur temporell ist auch jede despotische), da; allein eben darum fodert – mithin bereitet – die praktische Vernunft ein ganz anderes Menschen-Reich, wo man nicht bis eins zählt oder bis 5 oder bis 500, sondern bis ins Unendliche und wo keine andere Vernunft regiert als die eigne. Ist denn dieses moralische Reich darum unmöglich, weil es bloß moralische Mitglieder voraussetzt? Kann das in der größern Zahl unmöglich sein, was in der kleinern schon wirklich war?

D. H.
. Glaubt ihr Menschen denn etwa, daß ihr nicht kleinlich und Opfertiere des Zufalls wäret und daß ihr nicht Gott tausendmal dankt, wenn ein anderer aus Höflichkeit sich in eurem Namen – entschließet? – Warum achtet ihr die Gewohnheit so sehr, diese Geschäfts- und Waffenträgerin der Willenlosigkeit, und den Gebrauch, diesen Kurator des abwesenden Geistes? – Kommt ihr und die Frösche nicht um, aus euren stehenden Teichen in frisches, immer reges Flußwasser geworfen? – Duldet ihr nicht höchstens nur ein Original, wie Lübeck nur einen Juden, und Millionen Kopisten, anstatt umgekehrt so viele Originale und wenige Kopisten? – Und brütet nicht jedes Original gerade sein Gegenteil aus, den Nachahmer und Affen, und sitzt daher nicht in den deutschen und kritischen Wäldern der gemeine Affe – der Schweineschwanz-Affe – der Hundskopf – der weiße Bartaffe – der schwarze – der mit dem flügelähnlichen Bart – der Hutaffe – der blau- – der weißmäulige – der Gibbon – unzählige Paviane – und noch mehrere Meerkatzen? Endlich da die auslaufende Menschheit wie eine Sanduhr doch nur wieder geht durch Umkehren: wenden sich nicht die Menschen wie zusammengeschichtete, nach Amerika adressierte Soldaten in Schiffen wieder zu gleicher Zeit und in Massa um, so daß dabei mehr eine Reformation herauskommt als Reformierte? – Ich bescheide mich daher gern, daß die sattelfesten steifgestiefelten Deutschen mir auf alle jene weit voneinander entlegenen Gleichnisse von ihrer Sattelfestigkeit nur mit wahrem Abscheu nachgesprungen sind.

Jetzt ists Mitternacht; man glaube nicht, daß ich einen ganzen Tag, den ich hätte verfahren können, im Schwitzbad Herrenleis würde versessen haben, wenn nicht die westliche Deklination des Windes gewesen wäre; womit ich mich noch besonders beruhige, ist mit der Hoffnung, daß ich vielleicht (man gönne mir den frommen Traum) den Schwitz-Badort, nämlich den geadelten Teil davon, in einen mehr als gewöhnlichen Grimm und Harnisch gebracht.

Und zwar als Hochzeitprediger. Ich fand nämlich viele alte Bekannte, einen böheimischen Grafen, einen von der berlinischen Legations-Pepiniere, einen Landhofrichter und unsern alten Saufaus mit dem SternMir unbekannt. D. H.. Ich sprach mit dir, lieber Graul!

Hier ist nun die allgemein gelobte Fürstin Candide, für welche man gern alle Tage etwas anstellte, geschweige an ihrem Geburtstage. Um dir nur ein Beispiel der allgemeinen Verehrung zu geben, so erzähl' ich dir, daß sie die hiesige Gartenschaukel Candidens Steiß (cû de Candide) heißen, seitdem sie darin gesessen. Es kam von einem französischen Spaße her. Der besagte Saufaus machte, da sie in der Schaukel aufgezogen wurde, um hinauszufliegen, den sehr guten Calembourg: »Elle se leve le cû premier, mais c'est la premiere fois«Es heißet zugleich: sie steht unrecht auf, aber erst zum erstenmal; und: sie erhebt sich mit dem H. zuerst.

D. H.
; dadurch verfiel ein anderer darauf, die Schaukel einen Pariser cû de Herrenleis zu nennen; bis endlich der sämtliche Adel sich leicht vereinte, die Prinzessin und die Schaukel durch den obigen Titel zu verewigen. Eine Fürstin oder ihr Mann oder ein Genie huste, niese, stolpere an irgendeiner Bank oder Alpe in einem Park u. s. w.: so verewigt die Alpe die Sache und sich und nennt sich nun Nepomuzenas oder Nepomuks etc. Husten, Niesen etc. So purzelte zum Beispiel im Park zu Brüssel Peter der Große aus dem Wein, wovon er gefüllt herkam, in das dazugehörige Wasser in einem steinernen Becken: seitdem steht der Vorfall oder Fall ans Becken geschrieben. So weiset uns Leipzig im Paulinums-Zwinger – vorher lag der Tropf in der Pauliner Kirche – Tetzels Knochen vor; wozu freilich kommt, daß einer Stadt, die mit so vielen Waren handelt, ein Mann nicht gleichgültig bleiben kann, der den Ablaß dazu verkauft.

Diese schöne Fürstin nun und ihren Geburtstag hielt der gesamte Badadel für wert, daß er an demselben eine böheimische Bauern-Hochzeit ihr in bäuerischen Verkleidungen vorspielte; ich erbot mich zum Hochzeitpater, ich konnte meinen grünen Mantel als den nürnbergischen Kopuliermantel brauchen. Der Zug zog – einige Bäuerinnen waren Lilien und Engel – die Bauerngarnitur sah freilich mehr wie eine Schnur gedörrter Birnen aus, es waren Krebse in der Mause, nämlich unter dem Schein der Schalenpanzer nur eiweiche Naturen – Die Prinzessin wurde schön überrascht, aber nur von keinem Einfall; denn die Masken konnten nichts einkleiden als sich; bloß der Saufaus hatte einen, als Brautvater; die Bauern blieben höflich und stumpf. Die Hof-Deutschen halten die Anziehstube schon für die spaßhafte Bühne. Lange Libertinage macht nur die Weiber klüger, aber die Männer dümmer; die jungen Leute zünden sich wie Branntewein an, und ihr Geist brennt weg; bloß Titel und Zeichen ihres vorigen Verstandes tragen sie noch auf dem Gesichte fort, wie leere Bouteillen auf Tafeln die silberne Ordenskette ihres Inhalts. Aber wie schlecht müssen die Großen sein, da sie nicht einmal das Gefühl ihrer steigenden Entkräftung bessert!

Die langweilige Szene wurde mit Ergebung und Applaus gar durchgespielt. Ich lernte in Wien im Sperl, im Fasen, im Mondschein – es sind Schenken – mehrere »Saal- oder Tanzmenscher« kennen, denen der Wirt für jede Nacht vierzig Kreuzer gibt, welche sie mit seinen Gästen vertanzen; solche Freudentänze hat nun mein Badadel schon an Höfen für Pensionen u. s. w. zu machen gelernt.

Damit nur was passierte, sagt' ich, ich wäre der Hochzeitredner und wünschte wohl anzufangen. Ich stieg auf den cû de Candide, sah, darin aufgestellt, an der um mich versammelten gelben, welken, gedunsenen, suffisanten, platten Vexierbauern-Massa fast ironisch hin und her und sagte, so viel ich noch davon weiß, mit zynischer Badfreiheit dieses:

»Teuere Dorfgemeine!

Ich will euch und das Brautpaar heute bloß froh machen und weise des Endes bloß stärker auf die Vorzüge hin, die euer sonst verachteter Stand so sehr vor dem vornehmen voraus hat. Denn ihr schätzt sie nicht genug. Bedenkt ihr oft genug, ihr Kerngesunden, was ihr für Baummark unter eurer Rinde und was ihr für Blüten an euren Zweigen tragt? Seht euch alle an und dann haltet euch in Gedanken einen Augenblick gegen die Großen in Städten und Baddörfern, die ihr etwa kennt – damit ihr den Unterschied merkt –, ach wie erbärmlich mürbe, rosenfalb, gelbblätterig sehen die Armen aus! Ich bete oft für sie. Mehrere haben sich, so wie sich Scharfrichter ehrlich richten, zur Tugend hinaufgesündigt, z. B. zur unwillkürlichen Enthaltsamkeit, da ihnen als Moralisten freiwillige lieber wäre; einige sterben den ganzen Tag und leben ein wenig im Schlafe; die meisten zerfahren.

Euch, ihr festen unschuldigen Landleute und Böheimer, sind das freilich ganz andere böhmische Dörfer, als ihr bewohnt; euer gesundes Lebenslicht haben noch keine sanfte Frühlingslüfte ausgeblasen oder schneller brennen lassen. Wie, ihr steht den herrlichen, kecken, freien, muskulösen, brustbreiten, eingewurzelten, augenfeurigen Wilden so nahe (nur seid ihr gebildeter) und wisset nicht, was ihr damit habt?

Hört, euch neidet der Vornehme; zuerst um eure Anlagen zur Sünde und dann zur Tugend. Er betrachtet eure starken Fäuste, womit ihr so leicht totmachen könnt – so wie erschaffen –, und erwägt dann sein Nichts. Ja, er beneidet das gesunde Tier wie euch und wünscht, das menschliche Steißbein, das nach den Anatomen das güldene ABC und der Ansatz zum tierischen Schweife ist, wäre weiter fortgesetzt. Wie Mönche bewohnen sie die fruchtbarsten Gegenden Europas, mit dem »Gedenke des Todes« auf der Brust. Ich sag' euch, so wie Vornehme in Frankreich die Rechtschreibung ihrer Werke gern vom Setzer und Korrektor annehmen, so würden sie die moralische Orthographie ihres Lebens von ihrem Beichtvater und Leichenredner mit Vergnügen empfangen, wär's ihnen nur vorher vergönnt, ein recht unorthographisches zu führen.

Nicht einmal das Kleinere, eure Tugenden, entrinnen dem Neide der Großen, gute Böheimer! Die armen Reichen und Vornehmen, die noch immer eine gewisse Passion für die Tugend nicht verlassen will und die vielmehr auf diese erpicht sind wie Spinnen und Mäuse auf Musik, müssen sich aus Unvermögen aufs Anschauen dieser Grazie auf Bühnen, Bildern und romantischen Papieren einziehen; aber wie gerne wären sie gleich euch im Besitz derselben, wenn sichs geben wollte! Ihr wisset kaum, was ihr habt, Zuhörer! – Kränklichkeit gebiert Furcht; aber diese, die sonst die Götter erschuf, vernichtet jetzt das Göttliche. Es ist entsetzlich bis zum Ekelhaften, wie weit ein Gemütsschwächling sich an andern nicht sowohl versündigen kann als an sich, und es ist ordentlich jammerschade, daß er ein Ich hat; so sind auch Leute in physischer Ohnmacht wegen Lähmung der Schließmuskeln nicht in der besten Lage, sondern in ähnlicher. – Daher sagt und weht kein Mensch von einigem Stande mehr scharf Ja oder Nein, sondern er bläset (wie die Winde Nordostwind etc.) Janeinja oder Neinjanein; so wie auch einige deutsche Gelehrte anfangs sagen ›Allerdings‹ – dann ›Freilich‹ – dann ›Indes‹ – dann ›Insofern‹ – dann ›Wiewohl‹ – dann ›Demungeachtet‹ – endlich ›Vielleicht‹. – Daher sind die Großen so hart und kalt gegen eure Not; denn Kranke sind es gegen jede außerhalb ihres Bettes.

Seid indes nicht unbillig gegen den Höhern; wenn ihr euren Rock auszöget, würdet ihr vielleicht nach dem Sprichwort als Bauern, die Edelleute geworden, am schärfsten scheren. Ihr habt freilich mehr Geschmack für Essen als für Künste und Poesien; aber ihr übertrefft wieder den Adel an Adel und Zufriedenheit. Ihr seid keine Odmänner – Odelmänner – (meine heilige Stätte schaukelt zu sehr) – keine Athelinge – ÖlingeAlte Worte für Edelmann. D. H. – Stadtjunker – GottesjunkerStadtjunker hießen sonst die Patrizier, Gottesjunker die canonici. D.H.; aber Leute oder Litte – Gotteshausleute – Halbfreie – Dreiviertelfreie – Halbspänner – Kossäten – Das fatale Schaukeln! – Ihr habt zwar nichts mit dem Edelmann gemein als das Ackern mit dem polnischen; aber ihr seid doch keine Badgäste, sondern gesunde Badwirte – Ihr seid, wenn nicht zu Rittern, doch zu Bauern geschlagen – Ihr lebt unter dem Zepter der schönsten Landesherrin und begeht heute ihren Geburtstag an einem Hochzeittage. – Ihr seid (das bedenkt) arbeitsam, stark, jung, froh, keck, fest, feist –«

Das Schwingen der Kanzel nötigte mich, ohne Amen herauszuspringen. Man lachte und wurde um nichts besser; ich wußt' es vorher. Man dankte mir; ich fragte nichts darnach. Morgen entfahr' ich gewiß, der Wind dreht sich nördlicher. Tiefe Langweile füllet mit stehendem Ätzwasser den Napf meines Herzens. Sogar die derben Ulrichsschlager muß ich neben diesen Herrenleisern wieder vorziehen. Wie miserabel! –


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