Jean Paul
Titan
Jean Paul

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Dahin trage nur die scheuen Schmerzen! Liane wandte sich und sah sie schnell und heftig die Augen trocknen. Ach ihre waren ja auch voll. Da Rabette es sah, sagte sie mutig: »Ich kanns ja nicht hören – ich muß heulen – ich schäme mich wohl recht.« – »O du liebes Herz,« (rief Liane, freudig ihr um den Hals fallend) »schäme dich nicht und blick in mein Auge – Schwester, komme zu mir, sooft du bekümmert bist, ich will gern mit deiner Seele weinen und will dein Auge noch eher abtrocknen als meines.« – Ein überwältigender Zauber war in diesen Liebestönen, in diesen Liebesblicken, weil Liane wähnte, sie trauere über irgendeinen verfinsterten Stern des Lebens. – Und nie hat die furchtsame Dankbarkeit ein verehrtes Herz frischer und jugendlicher umarmet als Rabette Lianen.

Da kam Albano. Vom Austönen des Wiegenliedes erwachend, war er ihr nachgeeilt, ohne alle kalte und andere Tropfen von seinen feurigen Wangen zu wischen; »wie ist dir, Schwester?« fragt' er eilig. Liane, noch in der Umarmung und Begeisterung schwebend, antwortete schnell: »Sie haben eine gute Schwester, ich will sie lieben wie ihr Bruder.« Die süßen Worte, die so innig gerührten Seelen, der feurige Sturm seines Wesens rissen ihn dahin, und er umschloß die Umarmenden und drückte die verschwisterten Herzen aneinander und küßte die Schwester; als er über Lianens bestürztes Wegbeugen des Kopfes erschrak und blutrot aufflammte. – –

Er mußte entfliehen. Mit diesen wilden Erschütterungen konnt' er nicht vor Lianen und vor den kalten Spiegeln der Gesellschaft bleiben. Aber die Nacht sollte so wunderbar werden wie der Tag; er eilte mit Lebens-Blicken, die wie zornige aussahen, aus der Stadt zur Titanide, zur Natur, die uns zugleich stillet und erhebet. Er ging vor aufgedeckten Mühlenrädern vorbei, um welche sich der Strom schäumend wand. – Die Abendwolken streckten sich wie ausruhende Riesen aus und sonnten sich im Morgenrot Amerikas – und der Sturm fuhr unter sie, und die feurigen Zentimanen standen auf – die Nacht bauete den Triumphbogen der Milchstraße, und die Riesen zogen finster hindurch. – Und in jedem Elemente schlug die Natur wie ein Sturmvogel den rauschenden Flügel.

Albano lag, ohne es kaum zu wissen, auf der Wald-Brücke Lilars, worunter die Windströme durchrauschten. Er glühte, gleich den Wolken, von seiner Sonne nach – seine innern Flügel waren, wie die des Straußes, voll Stacheln und verwundeten ihn im Erheben – – der romantische Geistertag, der Brief des Vaters, Lianens Auge voll Tränen, seine Kühnheit und seine Wonne und Reue darüber und jetzt die erhabne Nacht-Welt auf allen Seiten um ihn her zogen erschütternd im jungen Herzen hin und her – er berührte mit der Feuer-Wange die beregneten Gipfel und kühlte sich nicht und war dem tönenden fliegenden Herzen, der Nachtigall, nahe und hörte sie kaum. – – Wie eine Sonne geht das Herz durch die blassen Gedanken und löschet auf der Bahn ein Sternbild nach dem andern aus. – – Auf der Erde und an dem Himmel, in der Vergangenheit und in der Zukunft stand vor Alban nur eine Gestalt; »Liane« sagte sein Herz, »Liane« sagte die ganze Natur.

Er ging die Brücke hinab und stieg die westlichen Triumphbogen hinauf, das dämmernde Lilar ruhte vor ihm. – Siehe da sah er den alten »frommen Vater« auf dem Geländer des Bogens eingeschlummert. Aber wie anders war die verehrte Gestalt, als er sie sich nach der des verstorbnen Fürsten vorgemalt! Die unter dem Quäkerhute reichvorwallenden weißen Locken, die weiblich und poetisch runde Stirn, die gebogne Nase und die jugendliche Lippe, die noch nicht im späten Leben einwelkte, und das Kindliche des sanften Gesichts verkündigten ein Herz, das in der Dämmerung des Alters ausruht und nach Sternen blickt. Wie einsam ist der heilige Schlaf. Der Todesengel hat den Menschen aus der lichten Welt in die finster überbauete Einsiedelei geführt, seine Freunde stehen draußen neben der Klause; drinnen redet der Einsiedler mit sich, und sein Dunkel wird immer heller, und Edelsteine und Auen und ganze Frühlingstage entglimmen endlich – und alles ist hell und weit! – Albano stand vor dem Schlaf mit einer ernsten Seele, die das Leben und seine Rätsel anschauet – – nicht nur der Ein- und Ausgang des Lebens ist vielfach überschleiert, auch die kurze Bahn selber; wie um ägyptische Tempel, so liegen Sphinxe um den größten Tempel, und anders als bei der Sphinx löset das Rätsel nur der, welcher stirbt. –

Der alte Mann sprach hinter dem Sprachgitter des Schlafs mit Toten, die mit ihm über die Morgen-Auen der Jugend gezogen waren, und redete mit schwerer Lippe den toten Fürsten und seine Gattin an. Wie erhaben hing der mit einem langen Leben übermalte Vorhang des veralteten Angesichts vor der hinter ihm tanzenden Schäferwelt der Jugend nieder, und wie rührend wandelte die graue Gestalt mit dem jugendlichen Kranz im kalten Abendtau des Lebens umher und hielt ihn für Morgentau und sah nach Morgen und der Sonne! – Nur die Locke des Greises rührte der Jüngling liebend-schonend an; er wollte ihn – um ihn nicht mit einer fremden Gestalt zu erschrecken – verlassen, ehe der aufgehende Mond seine Augenlider weckend berührte. Nur wollt' er vorher den Lehrer seiner Geliebten mit den Zweigen eines nahen Lorbeerbäumchens bekränzen. Als er davon zurückkam: drang schon der Mond mit seinem Glanze durch die großen Augenlider; und der Greis schlug sie auf vor dem erhabnen Jüngling, der mit dem glühenden Rosenmond seines Angesichts, vom Monde verkläret, vor ihm wie ein Genius mit dem Kranze stand. »Justus!« (rief der Alte) »bist du es?« Er hielt ihn für den alten Fürsten, der eben mit blühenden Wangen und offnen Augen in der Unterwelt des Traums mit ihm gegangen war.

Aber er kam bald aus dem träumerischen Elysium ins botanische zurück und wußte sogar Albanos Namen. Der Graf faßte mit offner Miene seine Hände und sagte ihm, wie lange und innig er ihn achte. Spener erwiderte wenig und ruhig, wie Greise tun, die alles auf der Erde so oft gesehen. Der Glanz des Mondlichts floß jetzt an der langen Gestalt herab, und das ruhig-offne Auge wurde erleuchtet, das nicht sowohl eindringt als alles eindringen lässet. Die fast kalte Stille der Züge, der junge Gang der langen Gestalt, die ihre Jahre aufrecht trug als einen Kranz auf dem Haupte, nicht als Bürde auf dem Rücken, mehr als Blumen denn als Früchte, die sonderbare Mischung von vorigem männlichen Feuereifer und weiblicher Zartheit, alles dieses weckte vor Albano gleichsam einen Propheten des Morgenlandes auf. Dieser breite Strom, der durch die Alpen der Jugend niederbrausete, zieht jetzt still und eben durch seine Auen; aber werft ihm Felsen vor, so steht er wieder brausend auf.

Der Greis sah den jugendlichen Jüngling je öfter je wärmer an; in unsern Tagen ist Jugend an Jünglingen eine körperliche und geistige Schönheit zugleich. Er lud ihn ein, ihn in dieser schönen Nacht in sein stilles Häuschen zu begleiten, welches droben neben der Turmspitze steht, die oben ins Flötental hereinschauet. Auf den sonderbaren Irrsteigen, die sie jetzt wandelten, verwirrte sich Lilar vor Albano zu einer neuen Welt, wie nächtliche fliegende Silber-Wolken baueten sich die dämmernden Schönheiten in immer andere Reihen durcheinander, und zuweilen drangen beide durch ausländische Gewächse mit grellfärbigen Blüten und wunderlichen Düften. Der fromme Vater fragt' ihn teilnehmend sein voriges und jetziges Leben ab.

Sie kamen vor einen dunkeln Gang in der Erde. Spener faßte freundlich Albanos rechte Hand und sagte, dieser führe zu seiner Bergwohnung hinauf. Aber bald schien es hinabzugehen. Der Strom des Tales, die Rosana, klang noch herein, aber nur einzelne Tropfen des Mondlichts sickerten durch zerstreuete, mit Zweigen übersponnene Bergöffnungen durch. Die Höhlung sank weiter nieder – noch ferner rauschte das Wasser im Tale. – Und doch sang eine Nachtigall immer nähere Lieder – Albano schwieg gefasset. Überall gingen sie vor engen Pforten des Glanzes vorbei, den bloß ein Stern des Himmels hereinzuwerfen schien. – Sie stiegen jetzt zu einer fernen erleuchteten Zauberlaube hinab, aus hellroten und giftigen dunkeln Blumen, aus kleinen Zackenblättern und großem breiten Laube zugleich gewölbt, und ein verwirrendes weißes Licht, halb von hereinschäumenden Strahlen lebendig verspritzt und halb aus Lilien nur als weißer Staub angeflogen, zog das Auge in einen trunknen Schwindel – Zesara trat geblendet hinein, und indem er rechts nach dem einregnenden Feuer sah, fand er Speners Auge scharf links geheftet – er blickte hin und sah im Vorübereilen einen alten Mann, ganz dem verstorbnen Fürsten ähnlich, in eine Nebenhöhle schreiten – seine Hand zuckte erschrocken, Speners seine auch – dieser drang eilig weiter hinab – und endlich glänzte eine blaue gestirnte Öffnung – sie traten hinaus ...

Himmel! ein neues Sternengewölbe – eine blasse Sonne zieht durch die Sterne, und sie schwimmen ihr spielend nach – unten ruht eine entzückte Erde voll Schimmer und Blumen, ihre Berge laufen leuchtend am Himmelsbogen hinauf und beugen sich herüber nach dem Sirius – und durch das unbekannte Land wandeln Entzückungen wie Träume, worüber der Mensch vor Freude weint.

»Was ist das? Bin ich in oder über der Erde?« (sagte Albano erstaunt und flüchtete das irrende Auge auf das Angesicht eines lebendigen Menschen) – »ich sah einen Toten.« – – Viel liebreicher als vorher antwortete der Greis: »Das ist Lilar, hinter uns ist mein Häuschen.« Er erklärte den mechanischen ScheinWeigel in Jena erfand die Verkehrtbrücke (pons heteroclitus), eine Treppe, wo der Mensch hinabzugehen glaubt durch Aufsteigen. Busch Handbuch der Erfindungen. 7. B. des Hinabsteigens. »Hier stand ich nun schon so viel tausendmal und ergötzte mich herzinniglich an den Werken Gottes. – Wie sah die Gestalt aus, mein Sohn?« – »Wie der tote Fürst«, sagte Alban. Betroffen, aber fast gebietend sagte Spener leise: »Schweig wie ich bis zu seiner Zeit – er wars nicht – dein Heil und vieler Heil hängen daran – gehe heute nicht mehr durch den Gang.« –

Albano, durch den ganzen sonderbaren Tag halb entrüstet, sagte: »Gut, so geh' ich durch den Tartarus zurück. Aber was bedeutet das Geister-Wesen, was mich überall verfolgt?« – »Du hast« (sagte der Alte, ihm liebend und erquickend auf die Stirn die Finger legend) »lauter unsichtbare Freunde um dich – und verlasse dich überall auf Gott. Es sagen so viele Christen, Gott sei nahe oder ferne, seine Weisheit und seine Güte erscheine ganz absonderlich in einem Saeculo oder in einem andern – das ist ja eitel Trug – ist er nicht die unveränderliche ewige Liebe, und er liebt und segnet uns in der einen Stunde nicht anders als in der andern?« Wie wir die Sonnenfinsternis eigentlich eine Erdfinsternis nennen sollten, so wird nur der Mensch verfinstert, nie der Unendliche; aber wir gleichen dem Volke, das der Verfinsterung der Sonne im Wasser zusieht und dann, wenn dieses zittert, ausruft: seht, wie die liebe Sonne kämpft!

Albano trat in die Einsamkeit der reinlichen geordneten Wohnung des alten Mannes nur beklommen, weil in der heißen Asche seines Vulkans alles üppiger trieb und grünte. Spener zeigte von seinem Bergrücken hinüber auf das sogenannte »Donnerhäuschen«Es hatte den Namen von seiner Höhe und von dem öftern Einschlagen des Blitzes. und riet ihm, es diesen Sommer zu bewohnen. Albano schied endlich, aber sein bewegtes Herz war ein Meer, in welchem die Morgensonne glühend noch halb steht und in welches sich in Abend ein bleifarbiges Gewitter taucht und das glänzend schwillt unter dem Sturm. Er sah aus der Tiefe nach dem nachblickenden Greise hinauf; aber er hätte sich heut kaum gewundert, wenn dieser versunken oder aufgestiegen wäre. In zornig-mutigen Entschlüssen, für seine Liebe, wornach kalte Hände griffen, mit seinem Leben zu bürgen und zu opfern, schritt er durch den vom Vergrößerungsspiegel der Nacht zum schwarzen Riesen-Troß aufgezogenen Tartarus ohne alle Furcht; so ist die Geisterwelt nur ein Weltteil unserer innern, und das Ich fürchtet nur das Ich. Da er vor dem Altare des Herzens in der stummen Nacht, wo nichts laut war als der Gedanke, stand, so riet ihm der kühne Geist einige Male, den alten Toten zu rufen und laut zu schwören bei seinem Herzen voll Staub; – aber als er zum schönen Himmel aufsah, wurde sein Herz geheiligt, und es betete nur: »O guter Gott, gib mir Liane!« –

Es wurde finster, die Wolken, die er für glänzende, in den Himmel herübergebogne Gebirge einer neuen Erde genommen, hatten den Mond erreicht und düster überzogen.


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