Jean Paul
Titan
Jean Paul

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4. Zykel

Zesara hatte bloß drei Gläser Wein gekostet; aber der Most seines heißen dichten Blutes gor davon stärker. Der Tag erwuchs immer mehr zu einem daphnischen und delphischen Hain, in dessen flüsterndes und dampfendes Dickicht er sich tiefer verlor – die Sonne hing wie eine weiße blitzende Schneekugel im Blau – die Eisberge warfen ihren Silberblick in das Grün herein – aus fernen Wolken donnerte es zuweilenTirare di prima vera nennts das Volk, und Peter Schoppe übersetzt es erhaben genug: elektrisches Pistolenzeug des Lenzes., als rolle der Frühling in seinem Triumphwagen daher und weiter zu uns – die Lebenswärme des Klimas und der Tagszeit, das heilige Feuer zweier Entzückungen (der erinnerten und der gehofften) brüteten alle seine Kräfte an. Jetzt ergriff ihn jenes Fieber der jungen Gesundheit, worin ihm allemal war, als schlage in jedem Gliede ein besonderes Herz – die Lunge und das Herz von Blute schwer und voll – der Atem ist heiß wie ein Harmattanwind – und das Auge trübe in seiner eignen Lohe – und die Glieder sind müde vor Kraft. In dieser Überfüllung der elektrischen Wolke hatt' er einen besonderen Trieb nach Zertrümmern. Er half sich jünger oft, daß er Felsenstücke an den Gipfel wälzte und niederrollen ließ; oder daß er im Galopp so lange lief, bis der Atem – länger wurde, oder am gewissesten dadurch, daß er sich (wie er von Kardan gehört hatte) mit einem Federmesser Schmerzen und sogar kleine Verblutungen erregte. – Selten gewinnen gewöhnliche, und noch seltener ungewöhnliche Menschen die volle, mit allen Zweigen blühende Jugend des Leibes und Geistes; aber desto prangender trägt dann eine Wurzel einen ganzen Blumengarten. –

Mit diesen Wallungen stand Albano jetzt hinter dem Palast einsam gegen Süden, als ihm ein Spiel seiner Knabenjahre einfiel.

Er war nämlich oft im Mai auf einen säulendicken Apfelbaum, der ein ganzes hängendes grünes Kabinett erhob, bei heftigem Wind gestiegen und hatte sich in die Arme seines Gezweigs gelegt. Wenn ihn nun so die schwankende Lusthecke zwischen dem Gaukeln der Lilienschmetterlinge und dem Summen der Bienen und Mücken und dem Nebeln der Blüten schaukelte und wenn ihn der aufgeblähte Wipfel bald unter fettes Grün versenkte, bald vor tiefes Blau und bald vor Sonnenblitze drehte: dann zog seine Phantasie den Baum riesenhaft empor, er wuchs allein im Universum, gleichsam als sei er der Baum des unendlichen Lebens, seine Wurzeln stiegen in den Abgrund, die weißen und roten Wolken hingen als Blüten in ihm, der Mond als eine Frucht, die kleinen Sterne blitzten wie Tau, und Albano ruhte in seinem unendlichen Gipfel, und ein Sturm bog den Gipfel aus dem Tag in die Nacht, und aus der Nacht in den Tag. – –

Er sah jetzt zu einer hohen Zypresse empor. In Rom war aus dem Mittags-Schlaf ein Südostwehen aufgestanden und hatte sich unterwegs fliegend in Limoniengipfeln und in tausend Bächen und Schatten gekühlt und lag nun gewiegt auf Zypressenarmen. Da erkletterte er den Baum, um sich wenigstens zu ermüden. Aber wie dehnte sich die Welt vor ihm aus mit Bergen, mit Inseln und Wäldern, da er das donnernde Gewölke über Roms sieben Hügeln liegen sah, gleichsam als rede aus dem Dunkel noch der alte Geist, der in den Hügeln wie in sieben Vesuven gearbeitet hatte, welche vor der Erde so viele Jahrhunderte lang mit feurigen Säulen, mit aufgerichteten Gewittern standen und sie mit glühenden Strömen, mit Aschenwolken und mit Fruchtbarkeit übergossen, bis sie sich selber zersprengten! Die Spiegelwand der Gletscher stand wie sein Vater unzerrüttet vor der Wärme des Himmels und wurde nur glänzend und nicht warm und nicht weich – aus dem weiten See schienen überall die warmen Hügel wie aus ihrem Bade auszusteigen, und die kleinen Schiffe der Menschen schienen in der Ferne strandend zu stocken – und im weiten Wehen um ihn gingen die großen Geister der Vergangenheit vorüber, und unter ihren unsichtbaren Tritten bogen sich nur die Wälder nieder, aber die Blumenbeete wenig. – Da wurde in Albano die fremde Vergangenheit zur eignen Zukunft – keine Wehmut, sondern ein Durst nach allem Großen, was den Geist bewohnt und hebt, und ein Schauder vor den schmutzigen Ködern der Zukunft zogen sein Auge recht schmerzlich zusammen, und schwere Tropfen fielen daraus. – Er stieg herab, weil das innere Schwindeln zuletzt äußeres wurde. Die ländliche Erziehung und Dian, welcher den gehaltenen Gang der Natur verehrte, hatte den Knospengarten seiner Kräfte vor frühzeitiger Morgensonne und schnellem Aufspringen bewahret; aber durch die Erwartung des Abends und durch die Reise wurde der Tag seines Lebens jetzt zu warm und zu treibend.

Zufällig und träumend verlor er sich unter Orangeblüten; plötzlich war ihm, als mache ein süßes Wühlen im innersten Herzen diese beklemmend weit und leer und wieder voll. Ach er wußte nicht, daß es die Düfte waren, die er hier in seiner Kindheit so oft in die Brust gesogen, und welche nun jede Phantasie und Erinnerung der Vergangenheit dunkel, aber gewaltsam zurückriefen, eben weil Düfte, ungleich den abgenützten Merkmalen des Auges und des Ohres, seltener kommen und also leichter und heftiger die verbliebene Empfindung erneuern. Aber als er in eine Arkade des Palastes, welche bunte Steine und Muscheln stickend färbten, geriet, und als er die Wogen spielend auf die Schwelle der Grotte hüpfen sah: so deckte sich ihm auf einmal eine bemoosete Vergangenheit auf – er durchsuchte seine Erinnerungen – die Farbensteine der Grotte lagen gleichsam voll Inschriften der vorigen Zeit vor seinem Gedächtnis. – – Ach hier war er ja tausendmal mit seiner Mutter gewesen, sie hatte ihm die Muscheln gezeigt und die Nähe der Wellen verboten, und einmal, da die Sonne aufging und da der durchwebte See und alle Steinchen glänzten, war er auf ihrem Schoße mitten unter den Lichtern aufgewacht. –

O war denn nun die Stelle nicht geheiligt und auf ihr seine überwältigende Sehnsucht nicht entschuldigt, die er heute so lange gehabt, die schöne Armwunde dem tobenden und quälenden Blute aufzumachen?

Er ritzte sich, aber zufällig zu tief, und mit einem schönen kühlen Heben seines leichter atmenden Wesens sah er der roten Quelle seines Armes in der Abendsonne zu und wurde wie nach abgefallnen Bürden leichter – nüchtern – still – und weich. Er dachte an die verschwundne Mutter, deren Liebe nun ewig unvergolten blieb – ach er hätte dieses Blut gern für sie vergossen –; und nun quoll heißer als je in seiner Brust die Liebe für den kränklichen Vater auf: o komme bald, sagte sein Herz, ich will dich so unaussprechlich lieben, du lieber Vater!

Die Sonne erkaltete an der feuchten Erde – nur noch die zackige Mauerkrone aus den Goldstufen der Gletscherspitzen glühte über ausgelöschten Wolken – und die Zauberlaterne der Natur warf ihre Bilder nur noch gezogner und matter: da ging eine lange Gestalt in einem offnen roten Mantel langsam um die Zedratobäume auf ihn zu, rieb mit der Rechten an der Stelle des Herzens, woran kleine Funken verglommen, und zerdrückte mit der halb erhobnen Linken eine Wachslarve zum Klumpen und blickte in die eigne Brust. Plötzlich erstarrete sie an der Wand des Palastes in versteinerter Stellung. Albano drückte die Hand auf die kleine Wunde und ging nahe zu dem Versteinerten – Welche Gestalt! – Aus einem vertrockneten hagern Angesicht erhob sich zwischen Augen, die halb unter den Augenknochen fortbrannten, eine verachtende Nase mit stolzem Wurf – ein Cherub mit dem Keime des Abfalls, ein verschmähender gebietender Geist stand da, der nichts lieben konnte, nicht sein eignes Herz, kaum ein höheres, einer von jenen Fürchterlichen, die sich über die Menschen, über das Unglück, über die Erde und über das – Gewissen erheben, und denen es gleich gilt, welches Menschenblut sie hingießen, ob fremdes oder ihres. –

Es war Don Gaspard.

Die Funken-werfende Ordenskette aus Stahl und Edelsteinen verriet ihn. Die Starrsucht, seine alte Krankheit, hatt' ihn ergriffen. »O Vater!« sagte Albano erschrocken und umfaßte die unbewegliche Gestalt, aber er drückte gleichsam den kalten Tod ans Herz. Er schmeckte die Bitterkeit einer Hölle – er küßte die starre Lippe und rief lauter – endlich trat er vor ihm mit fallenden Armen zurück, und die aufgedeckte Wunde blutete ungefühlt nieder – und er blickte, zähneknirschend vor wilder junger Liebe und vor Schmerz, und mit großen Eistropfen in den Augen, den Stummen an und riß ihm die Hand vom Herzen. – – Hier schlug erwachend Gaspard die Augen auf und sagte: »Willkommen, mein lieber Sohn!« – Da sank ihm mit unüberschwenglicher Seligkeit und Liebe das Kind ans Vaterherz und weinte und schwieg. »Du blutest, Albano,« sagte Gaspard, ihn sanft zurückstemmend, »verbinde dich!« – »Laß mich bluten, ich will mit dir sterben, wenn du stirbst – o wie hab' ich so lange nach dir geschmachtet, mein guter Vater!« sagte Albano, noch tiefer erschüttert von dem kranken väterlichen Herzen, das er jetzt an seinem heftiger schlagen fühlte.

»Recht gut, verbinde dich aber!« sagt' er; und als der Sohn es tat und während des schnellsten Umwickelns mit unersättlicher Liebe in das väterliche Auge schauete, und als das Auge nur kalte Blitze warf wie sein Ring-Juwel – so schlug auf den Kastaniengipfeln, dem heutigen Throne der Morgensonne, der leise Mond sein frommes Auge stillend auf, und dem entflammten Albano war es an diesem kindlichen und mütterlichen Wohnplatze, als schaue der Geist der Mutter vom Himmel und rufe: »Ich werde weinen, wenn ihr euch nicht liebt.« Sein wollendes Herz zerfloß, und er sagte sanft zu dem im Mondlicht bleichern Vater: »Liebst du mich denn nicht?« – »Lieber Alban,« versetzte der Vater, »man kann dir nicht genug antworten – du bist recht gut – es ist recht gut.« Aber mit dem Stolze der Liebe, die sich kühn mit der väterlichen maß, ergriff er fest die Hand mit der Larve und sah den Ritter mit feurigen Tränen an. »Mein Sohn,« versetzte der Müde, »ich habe dir heute noch viel zu sagen und wenig Zeit, weil ich morgen reise – und ich weiß nicht, wie lange mein Herzklopfen mich sprechen lässet.« – Ach also war das vorige Zeichen einer gerührten Seele nur ein Zeichen eines nervenkranken Pulses gewesen ... Du armer Sohn, wie mußte vor dieser scharfen Luft dein bewegtes Meer erstarren – ach wie an einem eiskalten Metall mußte deine warme Hand ankleben und davon sich wundgeschält abziehen! –

Aber guter Jüngling! Wer von uns könnte dich tadeln, daß Wunden dich gleichsam mit Blut an deinen wahren oder falschen Halbgott binden – wiewohl ein Halbgott sich öfter mit einem Halbtier als mit einem Halbmenschen schließet – und daß du so schmerzlich liebst? Ach welche warme Seele sprach nicht einmal die Bitte der Liebe vergeblich aus und konnte dann, gelähmt vom erkaltenden Gifte, gleich andern Vergifteten, die schwere Zunge und das schwere Herz nicht mehr bewegen? – Aber liebe fort, du warme Seele; gleich Frühlingsblumen, gleich Nachtschmetterlingen durchbricht die zarte Liebe zuletzt doch den hartgefrornen Boden, und jedes Herz, das nichts anderes verlangt als ein Herz, findet endlich seine Brust! –


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