Jean Paul
Titan
Jean Paul

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40. Zykel

Schnellatmend und glühend machte er sich in die bunte Wandel-Reihe mit irgendeiner alten Dame hinein, die ihn eitel mißverstand und auf einmal als eine Armschnalle mit Ressort an seinem Arme hing und die nichts von ihm erhielt als – Antworten. Mit durchfliegenden Blicken trat er in den hellen, wie aus Licht kristallisierten Saal voll Köpfe. Er antwortete eben, als er im Tumulte hinter sich das leise Wort vernahm: »Ich höre ja den Bruder« – und sogleich die leisere Widerlegung: »Es ist mein Graf.« – Er drehte sich um – zwischen dem Lektor und der Mutter stand die liebe Liane, der verschämte, erschrockne, blaßrote Engel, im schwarzen Seidenkleide, das nur der blinkende Frühlingsreif einer silbernen Kette überlief, und mit einem leichten Band im blonden Haar. Die Mutter stellte sie ihm vor, und die zarte Wange blühte röter auf – denn sie hatte ja die gleichen Stimmen des Gastes und des Bruders vermengt –, und sie schlug die schönen Augen nieder, die nichts sehen konnten. Ach Albano, wie zittert dein Herz so sehr, da die Vergangenheit zur Gegenwart, die Mondnacht zum Frühlingsmorgen wird und da diese stille Gestalt in der Nähe noch allmächtiger wirkt als in jedem Traum! – Sie war ihm zu heilig, als daß er vor ihr über die scheinbare Heilung hätte lügen können; er schwieg lieber; – und so kam der wärmste Freund ihres Lebens zum ersten Male nur verhüllt und stumm zu ihr.

Der Lektor führte sie bald weg an ihren Sitz unter dem zweiten Lüster – ihr gegenüber saß die Mutter (wahrscheinlich darum, damit die gute unwissende Tochter, die doch nicht immer die Augenlider senken konnte, diese freundlich und mit Anstand gegen ein geliebtes Wesen heben durfte) – der deutsche Herr, als Bekannter, setzte sich ohne weiteres zu ihrer Rechten, Augusti, zur Linken – Zesara, als Graf, kam oben weit hinauf neben die höchste Dame. – –

Der Henker hol's! – das ist leider so oft mein eigner Fall! Ich behaupte oben den Ehrenplatz – und bemerke unten eine Meile von mir die Tochter, aber als Myop nur halb und kann den ganzen Abend nichts machen. –Rangiert mich doch ungescheuet hinunter zu ihr – ihr habt mit nichts weniger als einem aufgeblasenen Manne zu tun – warum sollen denn auf der Erde, wie im Himmel, gerade die größten Wandelsterne am weitesten von ihrer Sonne absitzen? –

Ich ziehe jetzt die Leser an des Ministers Tafel, nicht um ihnen die ministerialische, auf Habsucht eingeimpfte Pracht oder seinen zwischen das Parallellineal der Etikette eingesperrten Ehrentanz oder auch dessen Familienwappen zu zeigen, das auf jedem Wärmteller und Salzfaß und mit dem Eise und Senfe herumgegeben wurde – uns sei die Allgegenwart des Wappenwerks auf seinen Blumentöpfen, Hemden, Bettschirmen, Hunds-Krawatten und Gedanken genug –, sondern der Leser soll jetzt nur auf meinen Helden sehn.

Sehr sticht er hervor. Über einen solchen Ankömmling hat man in einer Residenzstadt noch früher, als er dem Schwager das Trinkgeld gegeben, schon alles mögliche Licht der Natur und der Offenbarung; 19 Anwesende waren als seine moralischen Schrittzähler an ihm festgemacht. Die Kühnheit seines Wesens und sein Rang ersetzten bei ihm die Welt; und diese vermißte man nirgends als darin, daß er keinen andern Anteil nahm als den stärksten und daß er sich immer in allgemeine und weltbürgerliche Betrachtungen verlief. Aber seht doch – o ich wollte, Liane könnt' es sehen –, wie die Rosenglut und das frische Grün seiner Gesundheit unter den gelben Maroden des Jahrhunderts glänzt, denen wie Schiffen an der afrikanischen Küste der Jugend alles zusammenhaltende Pech abgeflossen war – und wie ihn das Wangenrot der geistigen Gesundheit, ein zartes, immer wiederkommendes Erröten (aus Sorge um Lianen), schmückt, indes mehrere Weltleute am Tische gleich der Baumwolle alle Farben leichter anzunehmen scheinen als die rote!

Er schauete und horchte, wider die Ordnung des Visiten-Heils, zu sehr Lianen zu. Sie aß, unter dem höhern Rote der Furcht, fehlzugreifen, nur wenig, aber unbefangen; der Lektor sperrte ihr mit leichter Hand den kleinsten Irrweg zu. Was ihn wunderte, war, daß sie ein so empfindliches und so leicht weinendes Herz mit einer so unbefangnen Heiterkeit des Angesichts und des Gesprächs bedeckte – – junger Mann, das ist bei den weichsten Mädchen ohne Schmerzen der Liebe kein Bedecken und Verstellen, sondern Genuß des Augenblicks und gewohnte Gefälligkeit! – Sie behielt so besonnen die (wahrscheinlich vorher gelernte) Rangordnung der bekannten Stimmen, daß sie ihre Antwort nie gegen eine falsche Stelle richtete. Sie blickte aber oft zu ihrer Mutter mit vollen Augen auf und lächelte dann noch heiterer, aber nicht um zu täuschen, sondern aus rechter herzlicher Liebe. –

Anlangend ihren Salat, so würde die beste und tafelfähigste Leserin, die ihn mischen sehen, mehrere Gabeln davon nehmen. Ungemein gut ließ es, da sie ernster und röter vor der blauen Himmels-Halbkugel aus Glas die Handschuhe abzog – mit weißen Händen und mit geschmeidigen Armen ohne eine seidne Falte zwischen dem gläsernen Blau und seidenem Schwarz im Grünen arbeitete – bedächtlich nach dem Essig- und Ölgestelle fassete und so viel zugoß, als ihre Übung (und der verzifferte Rat des Lektors; wenigstens scheint mirs so) gebot. – – Beim Himmel! das Machen ist hier der Salat; und der eitle Minister, der sich nicht auf Gemälde verstand, hatte viel Einsichten in Dingen, die zu Gemälden taugten.

Die Mutter schien kaum auf die Blätter-Mengerei hinzusehen. – – Dem Grafen schien heute die Ministerin nur Welt und keine fromme Strenge zu haben; aber er kannte noch nicht genug jene hellen Weiber, die Feinheit ohne Witz, Empfindung ohne Feuer, Klarheit ohne Kälte haben; die von den Schnecken die Fühlhörner, die Weichheit, die Kälte und den stummen Gang entlehnen und die mehr Vertrauen verdienen und fordern als erhalten.

Nun trat Zefisio als Engel unter drei Menschen im feurigen Ofen ein, aber als ein schwarzer. Dem Grafen war dessen Nahesitzen und jedes Wort zu ihr ohnehin eine Kreuzigung – nur von ihr zu ihm mit dem Blicke zu gehen war schon ein Jammer, wenig verschieden von dem, den ich haben würde, wenn ich in Dresden einen Tag im Antiken-Olymp der alten Götter zubrächte und dann bei dem Herausgehen in ein Refektorium voll geschwollner Mönche oder in ein Naturalienkabinett voll ausgestopfter Malefikanten-Bälge und einmarinierter Fötus-Kanker geriete. – Indes wurde er doch dadurch beruhigt – nach meiner Meinung nur getäuscht – daß der deutsche Herr nicht neben ihr lyrisch loderte, noch im Himmel oder außer sich war, sondern bei sich und ganz gesetzt und sehr artig. Auf keine Tauben, Graf, – frage die Landwirte – schießen die Habichte öfter nieder als auf glänzendweiße! –

Der deutsche Herr brachte jetzt eine Tabatiere hervor mit einem niedlichen Gemälde von Lilar und fragte Lianen, wie es ihr gefalle; ihm gefalle daran das Sentimentalische vorzüglich.

Der Lektor erschrak, bog sich dem Dosenstücke entgegen und jagte einige Urteile voraus, die die Halbblinde in den ihrigen führen sollten; aber nachdem sie damit ein paarmal schief gegen die Lichter und nahe vor ihren Augen vorbeigefahren war, konnte sie selber das eigne fällen, daß das von der halbuntergesunkenen Sonne angestrahlte Kind, das unter dem Triumphbogen eine Blumenkette in die Höhe zieht, nach ihrem Gefühle »so gar lieblich« sei. Hier kam – und ich habe denselben Fall an einer halbblinden Frau von mächtiger Phantasie und offnem Kunstsinne bemerkt – die Anstrengung und der Kunstsinn oder das geistige Auge dem leiblichen auf halbem Wege entgegen. – Die Dose wurde wie ihr Tabak weiterpräsentiert und stieg hinab zum Kunstrat Fraischdörfer – dem jetzt die Kunstliebe des neuen Fürsten und die Kunstgelehrsamkeit des Günstlings neue Kronen aufsetzten –; er rügte nichts als das Blütenweiß »Der Frühling« (sagt' er) »ist wegen seines verdrüßlichen Weißes ein leeres Monochroma; ich habe Lilar nur im Herbste besucht.« – »Wir können ja den Nachtigallengesang auch nicht malen, und hören ihn doch«, sagte Liane heiter; er war ihr Lehrer und jetzt in der malerischen Technologie sogar ihres Vaters seiner. Über allen ihren Kenntnissen und innern Früchten und Blüten war die Rose des Schweigens gemalt; daran hatte sie der gebieterische Vater überhaupt gewöhnt, und vor Männern besonders; in welchen sie immer kopierte Väter furchtsam ehrte. –

Als die Landschaft zu Albano kam und er jene Frühlingsnacht verkleinert vor sich hielt, wo ihm Lilar und der edle Greis so zaubernd erschienen – und da er berührte, was die liebe Seele angerührt – und da in der seinigen alle Wohllaute zitterten: so griff wieder der Teufel einen dissonierenden Septimenakkord:

»Der Fürst, gnädiger Herr,« (sagte der Minister zum deutschen Herrn) »wurde gestern heimlich beigesetzt; schon in acht Tagen haben wir das öffentliche Begräbnis. Wir müssen eilen, weil die Suspension der Hoftrauer so lange dauert, bis die Huldigung am Himmelfahrtstage vorüber ist.« Ich bin zu feurig, mich über den ewigen Zeremonienmeister Froulay auszulassen, der auf der Sonne Laternensteuer eingetrieben hätte und Brückenzoll vor Parks- und Eselsbrücken; aber Albano, von so vielen innern Seiten- und Streiflichtern geblendet – erinnert an Lianens Trauer über den alten Mann, an seinen Geburtstag, an das Herz ohne Brust und an den Wahnsinn der Welt –, war nicht imstande, so sehr er sich vorgesetzt, in Sanftmut und Lammskleidern vor Froulay zu erscheinen, letztere anzubehalten: sondern er mußte (und lauter, als er meinte) gegen seinen Gegennachbar, den Kirchenrat Schäpe, mit zu großer Jugend-Ergrimmung (die durch das nach der Bruderstimme sehnsüchtige Zuhören Lianens nicht kleiner wurde) sich erklären gegen viel – gegen das ewige tote Vexierleben der Menschen – gegen den zeremoniellen Hohn einer entseelten Gestalt – gegen dieses Darben an Liebe bloß aus Vorspiegeln derselben – – ach sein ganzes Herz brannt' auf seiner Lippe ...

Der redliche Schäpe, den ich oben einen Halunken genannt, trat ihm mit mehreren Mienen bei. – Aber ich gar nicht; Freund Albano! du mußt erst noch lernen, daß die Menschen in Rücksicht der Zeremonien, Moden und Gesetze, gleich einem Zug Schafe, insgesamt, wofern man nur den Leithammel über einen Stecken setzen lassen, an der Stelle des Stabes, den man nicht mehr hinhält, noch aus Vorsicht aufspringen; – und die meisten und höchsten Sprünge im Staate tun wir ohne den Stecken. Aber ein Jüngling wäre mittelmäßig, der das bürgerliche Leben sehr zeitig lieb hätte; so gewiß auch er und wir alle über die Fehler eines jeden Amtes zu bitter richten, das wir nicht selber bekleiden.

Die Gesellschaft hörte schweigend zu und wunderte sich aus Artigkeit nur innerlich; auf Lianens Gestalt trat weicher Ernst.

Man stand auf – die Enge verschwand – sein Eifer auch; – aber ich weiß nicht, kam es von der Trunkenheit des Sprechens oder des liebenden Anschauens, oder von einem jugendlichen Überspringen der Visiten-Zäune – (von Mangel an Lebensart kams aber nicht her), genug das Faktum ist nicht zu leugnen (und ich tu' auch am besten, es geradezu zu geben), daß der Graf die arme alte, von ihm hergeführte Dame – Hafenreffer weiß selber nicht, wie sie heißet – stehen ließ und, ich glaube unbewußt, zum Führen Lianen nahm. – Ach diese! Was soll ich sagen von der magischen Nähe der geträumten Seele – vom leichten Aufliegen ihrer Hand, das nur der Arm des innern Menschen, nicht des äußern spürte – von der Kürze des Himmelsweges, der wenigstens so lang hätte sein sollen als die Friedrichs-Straße? – Wahrhaftig er selber sagte nichts – er dachte bloß ans abscheuliche Inhibitorial-Zimmer, wo ihre Scheidung vorfallen mußte – er zitterte unter dem Suchen eines Lauts. »Sie haben wohl« (sagte Liane leicht und offen, die gern die befreundete Stimme, zumal nach der warmen Rede hörte) »unser Lilar schon besucht?« – »Wahrhaftig nicht, aber Sie?« sagt' er zu verwirrt. – »Ich und meine Mutter wohnten gern in jedem Frühlinge da.«

Nun waren sie im Scheide-Zimmer. Leider stand er so mit ihr, die nichts sah, einige Sekunden fest und sah geradeaus, willens, etwas zu sagen, bis die Mutter ihn aufweckte, die für ihre von dem ganzen Abend so genährte Liebe eifrig eine abgetrennte Stunde am Tochterherzen suchte. – Und so war alles vorbei; denn beide schwanden wie Erscheinungen weg.

Aber Alban war wie ein Mensch, den ein herrlicher Traum verlässet und der den ganzen Morgen so innig-selig ist, aber ihn nicht mehr weiß. – Und wie, steht ihm nicht Lilar offen, und sieht ers nicht gewiß, sobald nur Liane es auch sehen kann? –

Nie war er sanfter. Der aufmerksame Lektor legte in dieser warmen fruchtbaren Säezeit einigen guten Samen ein. Er sagte, als sie miteinander noch in die Mondnacht heraussahen, Albano habe heute fast bloß stachlichte und sperrige Wahrheiten vorgebracht; die nur erbittern, nicht erleuchten. – Zu einer andern Zeit hätt' ihn der Graf befragt, ob ers wie Froulay und Bouverot hätte machen sollen, die einander ganz tolerant Theses und Antitheses vortrugen wie ein akademischer Respondent und Opponent, die vorher bei einander logische Wunden und Pflaster von gleicher Länge bestellen; – aber heute war er ihm sehr gut. Augusti hatte so delikat und liebreich für Mutter und Tochter gesorgt – er hatte ohne Schwärzen und Schminken viel Gutes, aber nicht hastig gesagt, und man hatte seinem Auseinandersetzen ruhig zugehört – er hatte weder geschmeichelt noch beleidigt. Albano versetzte also sanft: »Aber erbittern ist doch besser, lieber Augusti, als einwiegen. – Und wem soll ich denn die Wahrheit sagen als denen, die sie nicht haben und nicht glauben? – Doch nicht den andern?« – »Man kann jede sagen,« sagt' er, »aber man kann nicht jede Art und Stimmung, womit man sie sagt, zur Wahrheit rechnen.«

»Ach!«sagte Albano und blickte hinauf; unter dem Sternenhimmel stand wie eine Schutzheilige die Marmor-Madonna des Palastes sanft beglänzt – und er dachte an ihre Schwester – und an Lilar – und an den Frühling – und an viele Träume – und daß sein Herz so voll ewiger Liebe sei und daß er doch noch keinen Freund und keine Freundin habe. –


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