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Die Vorstellung begann eben wieder. Das Licht der großen Kronleuchter verlosch langsam und mit Ausnahme der kleinen roten Glühbirnchen über den Türen der Notausgänge stand einzig das große, rechteckige Bild der Bühne hellglänzend im dunklen Raum.
Man gab ein französisches Detektivstück. Und der Akt, der zweite, spielte auf einem Landgut des Marquis de Verdi, eines französischen Edelmannes, der in eine Kaltwasserheilanstalt hineingehört hätte, wenn er sich in Wirklichkeit von einem so albernen Gauner derartig einwickeln ließ.
Mortdemavie lächelte voll Verachtung über diese elende Farce von einer Räuberkomödie, die das Publikum offenbar mächtig interessierte. Da kann man sehen, wie dumm der Pöbel ist und wie wenig er von Dingen versteht, die ihn doch, weiß Gott, selbst am allerbittersten treffen! Und gar erst der Verfasser dieses Schauerstücks! Eine schöne Nummer von einem Dramatiker, dessen ganzer Witz darin besteht, die lächerlichsten und veraltetsten Tricks gegen die Trottelhaftigkeit der sogenannten ehrlichen Leute auszuspielen! Wahrhaftig, wenn ein wirklicher Dieb so wenig verstände, wie die Hauptfigur dieses Sensationsschreibers – der müßte bei lebendigem Leibe verhungern!
Mortdemavie – der eigentlich ganz anders hieß, aber stolz war auf diesen Namen, der in seinem Fache und in zwei Erdteilen etwas galt – der lange, blasse und wirklich vornehm aussehende Mensch, lehnte den geschmeidigen Körper in den grauen Plüschfauteuil der Loge und musterte, rechts und links spähend, ihre Insassen. Da waren nur fünf Plätze besetzt: In der zweiten Reihe der seine; in der ersten saß ganz rechts eine alte Dame; neben ihr ein jüngerer Herr, der Ähnlichkeit nach ihr Sohn; und jenseits des schmalen Ganges ein wirklich distinguierter Kavalier – Mortdemavie verstand sich darauf! – übrigens schon fast weiß; und neben ihm die Dame!
Mortdemavie hatte es heute wie alle Abende gemacht, an denen er »arbeitete«. Er nahm einen Parkettplatz und studierte, zeitig ins Theater kommend, solange es im Zuschauerraum hell war, das Publikum, besonders in den Logen. Denn auf den anderen Plätzen war nicht viel los, er wußte das aus Erfahrung. Er starrte nun durch sein vorzügliches Glas – warum sollte er weniger ungeniert sein als die übrigen Parkettbesucher, die ihren Rücken der Bühne zudrehen, um nur ja kein hübsches Gesicht da oben auszulassen! Und sowie er eine Frau, die kostbaren Schmuck trug und hinter der einigermaßen freier Platz war, erspäht hatte, begab er sich abermals an die Theaterkasse und verlangte mit der eiligen Geste eines Verspäteten einen Platz in jener Loge, deren Nummer er ja aus dem Theaterplan leicht ersehen konnte.
Der zweite Akt fand ihn dann schon hinter seinem Opfer. Und kaum hatten sich die Logentüren von neuem geöffnet, so war Monsieur Mortdemavie, sein geliebtes Fluchwort stille auf den Lippen, hinaus und sogleich in einem Auto auf dem Wege zum Schärfer Hehler.. Er huldigte nämlich der Ansicht, gestohlenes Gut bringe keinen Segen und man müsse sich seiner deshalb sobald als möglich entäußern.
Sehr selten kam es vor, daß sein Geschäft nicht lohnte. Wenn man beinahe zwanzig Jahre in ein und derselben Branche tätig ist! Fünf davon waren allerdings einer unfreiwilligen Muße gewidmet; aber auch in solcher Zeit arbeitet der intelligente Mensch an sich und an der Ausbildung seiner Fähigkeiten. Ja, da lernt man schließlich den Eventof Edelstein. vom Blitzkeeterling Similibrillantring. unterscheiden. Trotzdem war es vorgekommen, daß eine Diamantrivière, die er voller Entzücken zum »scheckigen Lehmann« brachte, sich als Straß erwies und in mattiertes Silber, statt in Platin gefaßt war! Und dabei hatte das Frauenzimmer ausgesehen wie eine Fürstin. Bande infame! Da müht man sich ab, hat Auslagen und arbeitet wie ein Künstler, und dann schmieren sie einen noch an mit solchem Tinnef.
Na, heut hatte er nichts derart zu fürchten! Dieser alte Gentleman mit dem rassigen Profil trug eine Perle am kleinen Finger … eine Perle … ah! Mit einem wehmütigen Blick sah Mortdemavie auf dieses Prachtstück, das in dem gedämpft in die Loge hereinschimmernden Bühnenlicht wie eine schöne Träne glänzte, und wandte sich in stummer Resignation – Ringe stehlen ist schwerer als alles andere – der Dame zu.
Oh, es verlohnte sich auch bei ihr. Eine wundervolle Frau, Rasseweib, und im rotlockigen Haar einen süperben Pfeil, der mit Brillanten besetzt war … tausend Mark gab Lehmann sicher.
Mortdemavie beugte sich vor, wie wenn ihn das Stück maßlos interessiere, hob sein Glas mit beiden Händen und hatte zwei Sekunden später in der Rechten, die schnell wieder in die Tiefe sank, den goldnen, mit blitzenden Steinen besetzten Pfeil!
Die Dame hatte nichts gemerkt. Wie sollte sie auch, – bei ihm konnte man wirklich von einer absolut schmerzlosen Behandlung reden.
Aber wie seine feinen, glatten Fingerspitzen, die er jeden Abend mit einem besonderen französischen Creme einrieb und, in weiches Rehleder gehüllt, zur Ruhe bettete, wie er diese schlanken, fast aristokratischen Finger mit dem flammenden Gelock der höchstens Zwanzigjährigen in Berührung brachte, da flackerte etwas in dem temperamentvollen Mann auf, das ihm für Augenblicke die Luft benahm und das ihn noch eine ganze Weile unruhevoll und hastig atmen ließ. Nicht um eine Welt hätte er jetzt von hier fortgehen können.
Und nun sah sie sich auch noch um!
Er umfing ihr Gesicht mit einem festen, saugenden Blick seiner dunklen, im Feuer des Begehrens lodernden Augen. Sie sah rasch fort, als fühle sie sich zu eng umfangen von seinen Blicken; aber nach kurzer Zeit änderte sie ihre Stellung ein wenig, stützte den Arm auf das Plüschpolster der Logenbrüstung und zeigte ihr zartes Profil, das er, der an allen Kulturstätten der Welt, auch in den Museen umhergeschlendert war, mit den größten Kunstwerken aller Zeiten verglich.
Zum erstenmal in seinem Leben empfand er etwas wie Reue. Er hatte diese Frau bestohlen! … sie, die er liebte! … die schönste, die allerschönste, nach der sein unruhiges, von allen Hemmungen freies Herz sich plötzlich so leidenschaftlich sehnte.
Und es schien, als wolle sie diese Flamme noch anfachen! Ihr Interesse am Stück war offenbar geschwunden. Sie blickte öfter und öfter zu ihm zurück und suchte die düsteren Flammen, die ihr aus dem Dunkel der Loge, über der großen, geraden Nase, dem schwarzen, vollen, seidigen Schnurrbart des Diebes entgegenblitzten.
Auf der Bühne suchte jetzt dieser Talmiverbrecher die Tochter des Marquis mit seinen Phrasen zu betören. Nicht einmal das konnte der Mann! Lächerlich, so spricht doch keiner, wenn er verliebt ist! Ach, wenn er jetzt hätte reden dürfen! Mort-de-ma-vie! … Wie Brandpfeile hätten seine Worte ihr ins Herz dringen sollen! Und er war keiner aus der Gesellschaft. In einem schmutzigen Hause in Ragatz hatte seine Wiege gestanden. Kellner war er gewesen und noch anderes in den kleinen Schiebercafés in Wien und sonstwo … Aber man lernt ja! Man sieht alles mögliche und hat offene Ohren. Sind denn die Reichen etwa gebildet?! Bloß mit dem richtig Schreiben, da haperte es bei ihm; sonst hätte er ihr ein Briefchen geschrieben, einen Zettel.
Einen Augenblick hatte er geglaubt, sie wäre demimonde. Aber das schob er weit von sich, so bewegen sich die nicht! Keine Idee! Und dann die Eifersucht des alten Kavaliers, der sich soeben gar nicht greisenhaft herumdrehte. Und trotzdem! … Der Dieb und der Mann in ihm witterten einen Erfolg.
Sie lehnte lässig gegen die Logenwand, behielt ihre Stellung unverändert und blitzte ab und zu herum zu Mortdemavie, der jede Bewegung ihres schönen Kopfes, jedes Herüberleuchten der blaugrünen Augen mit Leidenschaft auffing.
Ganz wirbelig wurde dem sonst so Gerissenen und Kaltblütigen zu Sinn. Er mußte alle seine Beherrschung aufbieten, um nicht eine ungeschickte Bewegung zu machen und die Glut nicht zu verraten, die ihm das Blut durch alle Adern peitschte.
Aber nein, das ging nicht! Er hatte sie bestohlen und trug den Brillantpfeil in seiner Smokingtasche! Sowie der Akt zu Ende war und es hell wurde, würde ihr Begleiter, der größer war als sie, den Verlust merken! Dann fuhren sie gewiß nach Hause, und 's konnte auch sein, daß sie Verdacht gegen ihn schöpften. Wenn er den Brillantpfeil behielt, so mußte er vor dem Aktschluß hinaus, wie immer, wenn er seinen Zug gemacht hatte. Aber er wollte nicht fort! Auf keinen Fall! Er hatte das sichere Gefühl, daß er sich ihr, von deren Schönheit sein ganzes Innere brannte, in irgendeiner Weise würde nähern können! Das ging nicht, mit ihrem Eigentum in der Tasche! Und selbst wenn's nicht so gefährlich gewesen wäre – es war ihm peinlich. Wenn man eine Frau lieb hat, beschenkt man sie, aber man stiehlt ihr nicht ihre Schmucksachen!
Natürlich, er hätte den Pfeil bloß zu Boden fallen lassen brauchen! Aber das wäre ihm dumm vorgekommen! lächerlich! geradezu ekelhaft wäre das gewesen! Nein, der Brillantpfeil sollte wieder genau an dieselbe Stelle, wo er ihn herausgezogen hatte! Das war er einfach seinem Renommee schuldig! Und er tat es auch ihretwegen! Das gesteigerte Bewußtsein seiner selbst überkam den Dieb wie ein Rausch und machte ihn tollkühn. Und … und seine Fingerspitzen dürsteten danach, sie verschmachteten nach ihrem Haar, das wie Gold um den herrlichen Kopf da vor ihm flirrte.
Und was hatte er denn schon viel zu riskieren?! Er war ja erst zum zweitenmal in diesem Theater, das, soviel er wußte, kein Greifer heute abend unsicher machte … Vier-, fünfmal ging er oft in ein und dasselbe, ohne daß die bestohlenen Frauen Lärm schlugen, denen er in der Hauptsache von hinten die feinen goldenen Halskettchen aufschnitt, um dann mit einer geschickten Bewegung die Medaillons und wertvollen Gehänge einzuheimsen.
Sollte er da nicht einen einfachen Haarpfeil wieder an seine Stelle bringen können?
Das Stück gab ihm die Gelegenheit: Der Salonräuber da unten spielte eben einen seiner Tricks aus, indem er einen Polizeikommissar für wahnsinnig erklärte und verhaften ließ.
Das im Alter so ungleiche Paar sah nach vorn. Leise, unmerklich, mit fabelhafter Geschicklichkeit schoben die Finger des Gauners den Brillantpfeil in das duftende Haar der schönen Dame zurück. Aber sei's, daß die vor Zärtlichkeit glühende Hand sich nicht trennen konnte, oder empfanden die Augen der Frau zu schnell wieder Sehnsucht nach dem Untergrund der Loge, und hatte sie selbst die unbefangene Fühllosigkeit nicht mehr, die zum Gelingen des Diebstahls notwendig war – ein kleiner Schrei flog auf, ein Stuhl kippte und ein Mann war im Sprung aus der Loge, dem der zweite folgte. – – »Halten Sie 'n fest!« rief der alte Kavalier dem Logenschließer zu, an dem Mortdemavie vorbeistürmte. Der Dieb sah seinen Fehler jetzt ein und blieb – zu spät – stehen.
»Sie wünschen, mein Herr?«
»Schutzmann! Schutzmann!«
Der zweite Logenschließer holte schon den wachehabenden Beamten, mit ihm kam ein Kriminalpolizist.
Dem Taschendieb lag nichts daran, von all' den Zuschauern gesehen und angestarrt zu werden, die bald genug herauskommen würden.
Und sich umblickend biß er die Zähne in die Lippe: ihr süßes, erschrecktes Gesicht staunte im Logenausgang …
So ließ er sich, voll Scham und Ingrimm über sich selbst, wortlos abführen. Und hörte im gehen den alten Kavalier sagen:
»… Kokettiert wahrhaftig in aller Form mit meiner Frau … und ist ein ganz gewöhnlicher Taschendieb … nein sowas! …«
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Druck: Dr. Eysler V- Co. A.-G.
Berlin SW 68