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Die Zeugin

Vor der Strafkammer des Landgerichts wurde wegen schweren Diebstahls verhandelt. Angeklagt waren zwei junge Männer von vier- und fünfundzwanzig Jahren, von denen der eine bildhübsch war, leichte und elegante Formen besaß, was um so mehr zur Geltung kam, als sein Anzug in jeder Beziehung tadellos war. Er drehte seinen flotten, braunen Schnurrbart, den er offenbar auch in der Untersuchungshaft pflegte, und warf häufig Blicke zu der Zeugin hinüber, einer reizenden jungen Frau, die mit gesenkten Lidern neben ihrem Gatten saß.

»Also, Frau Hagenau, wollen Sie bitte vortreten!« sagte jetzt der Vorsitzende, ein schon älterer Jurist, dessen Stimme einen wohlwollenden, ja väterlichen Klang bekam und dessen Augen die schlankgewachsene, vollbusige Gestalt gleichsam hingeleiteten zum Zeugenpult.

»Sie heißen Else, geborene Windhalm, nicht wahr?

Die Frau nickte, ihr Ja war kaum hörbar.

»Wir wollen Sie jetzt vereidigen. Ich mache Sie, wie auch schon Ihren Gatten, darauf aufmerksam, daß der Meineid ein schweres Verbrechen ist, das mit Zuchthaus bestraft wird … Verwandt oder verschwägert sind Sie nicht mit dem Angeklagten?«

Frau Else schüttelte nur den Kopf. Die dunklen Augen unter dem hellen Haar wichen dabei nicht von dem Pultdeckel.

»Also, bitte, Frau Hagenau, sehen Sie mich an und erheben Sie die rechte Hand …«

Die schmale Rechte der jungen Frau, von welcher der dänisch-lederne Handschuh schon abgestreift war, kam zögernd herauf.

»So … und nun sprechen Sie mir nach: »Ich schwöre, bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde – so wahr mir Gott helfe!«

Sie wiederholte; ihre weiche Stimme ging zögernd über die Worte hin, setzte ruckweise an und schien nur mit Anstrengung dieser sich so heftig an den göttlichen Namen klammernden Formel Herr zu werden.

»Also, nun sagen Sie uns bitte, was Sie zu der Sache selbst bekunden können.«

Die junge Frau schwieg lange, dann sagte sie mit einer Bewegung, als wolle sie sich nach links, der Anklagebank zuwenden:

»Ich weiß nichts.«

»Hm …« Der Präsident dachte ein wenig nach, lieh dann das Ohr einem der Beisitzer, der ihm etwas zuzuflüstern hatte, und meinte schließlich:

»Sie erinnern sich nicht, Frau Hagenau, einen von den beiden Angeklagten jemals gesehen zu haben?«

»Nein.«

»Und Sie waren an dem fraglichen Tage den ganzen Vormittag zu Hause? – Darin können Sie sich nicht irren?«

Die Stimme der Zeugin klang eintönig, beinahe gleichgültig, als sie erwiderte:

»Vormittag war ich daheim …« – in ihrem süddeutschen Dialekt klang das »ei« wie »a« –. »und am Nachmittag bin ich dann zu meiner Freundin gegange, nach Friedenau, aber, wie ich so auf'm Weg war, hat mich halt auf amal die Sehnsucht packt, 'naus ins Freie! Un da hob' i mi halt auf d' Bahn g'setzt, und bin 'nausg'fahre nach'm Grunewald.«

»Tun Sie das öfter, Frau Hagenau?«

»Jo, Herr Präs'dent!« Sie verfiel immer mehr in ihr heimisches Idiom. »I bin ja kan Stadtkind! Mai Voater war Forschtmann un i bin erscht mit mei siebzöhntes Löbensjahr in d' Stadt kimma …«

»Dann sind Sie aber erst gegen zehn Uhr abends nach Hause gekommen, wie uns Ihr Gatte vorhin erzählt hat … er hat Ihnen Vorhaltungen gemacht darüber … aber wohl hauptsächlich, weil in der Zeit, wo Sie fort waren, der Einbruch verübt worden ist?«

Die Zeugin sah erst den Präsidenten an und wandte sich dann mit halber Drehung ihres biegsamen Leibes nach der Zeugenbank um, auf der ein etwas lächerlicher Mensch saß: ein Mann von vielleicht fünfzig Jahren, dessen länglich spitzer Kopf mit den engstehenden Augen und dem langen Zwischenraum zwischen Mund und Nase keineswegs den Eindruck großer Intelligenz hervorrief. Dafür las man in dem markanten Kinn, dessen Spitzbart er malträtierte, wie auch in dem verkniffenen, etwas nach beiden Seiten herabgezogenen Munde, Rechthaberei und Zähigkeit. Er war Materialwarenhändler.

Der Richter hatte seine schwatzhaften Ausführungen vorhin mehrere Male unterbrechen müssen. Jetzt bezeigte Frau Elses Gatte, der sicherlich kleiner als sie war, nicht übel Lust, sich abermals zu erheben und weiter mitzureden. Der Vorsitzende winkte ihm aber ab, und mit mahlenden Bewegungen seiner starken Kinnbacken blieb der Krämer sitzen.

Indessen sprach die Zeugin; der Vorsitzende ermahnte sie freundlich, lauter zu reden und sie fuhr fort:

»… Mai Mann schimpft eben a bisserl oft …«

Der Krämer hinter ihr schüttelte seinen Kopf, dessen Blondhaar mit der Maschine einen halben Zentimeter über der Kopfhaut weggeschnitten war, dann blickte er, wie schon vorher, zu dem elegant gekleideten von den beiden Angeklagten hinüber, der seinerseits fortwährend zu der Frau hinlächelte.

»Ich würde,« meinte der Vorsitzende nun wieder, »ja gar nicht auf alle diese ziemlich nebensächlich scheinenden Begleitumstände eingehen, wenn es nicht zur Beurteilung gerade dieses Falles auf …«

Er hatte, während er sprach, der jungen Frau in die dunklen Augen gesehen, die mit einem so merkwürdig hilflosen, flehenden Ausdruck die seinen suchten, und fing seinen Satz deshalb noch mal an:

»Die Persönlichkeit der Angeklagten, und zwar hauptsächlich des beschuldigten Berger, der nicht umsonst in seinen Kreisen »Der schöne Adolf« heißt – ebenso wie ihre eigentümliche Art, schwere Diebstähle auszuführen, nötigen das Gericht, hier Dingen nachzuforschen, um die es sich sonst gar nicht kümmern würde.«

Die Zuschauer, welche die Bank hinter der Gerichtsschranke dicht besetzt hielten, machten lange Hälse, und dem Staatsanwalt, der die Sache von seiner seitlich stehenden Kanzel herab beobachtete, schien es, als gehe ein Beben durch die jugendliche Gestalt der Zeugin, deren Aussage noch nicht beendet war.

Das Licht der Maiensonne fiel auf einmal voll durch die hohen Fenster, es bestrahlte den auf erhöhtem Podium stehenden Richtertisch so sehr, daß der Vorsitzende den Gerichtsdiener beauftragen mußte, er solle die Fenstervorhänge zuziehen. Als das geschehen war und eine weiche, traumgoldige Dämmerung im Saale herrschte, sprach der Präsident weiter:

»Der Angeklagte,« er winkte mit seinem vornehmen Kopf leicht hinüber, »macht ganz den Eindruck, als wollte er sich auch hier auf den angenehmen Schwerenöter Herausspielen, ich werde ihm aber …« Die Stimme des Vorsitzenden bekam etwas unterdrückt Mächtiges: »ich werde ihm aber die Lust dazu sehr bald ein für alle Mal nehmen!«

Ein Dankesblick aus hingebendem Augenpaar lohnte den Richter. Drüben auf dem Armesünderbänkchen duckte sich einer, um dann allerdings mit trotzigem Lächeln den Rücken hinten anzulehnen, während der Komplice, ein Kerl mit Galgen und Rad auf der Stirn, sich feixend zu ihm wandte.

»Der Angeklagte Berger,« wiederholte der Vorsitzende, schon wieder völlig leidenschaftslos, »hat nämlich die Angewohnheit, sich den weiblichen Personen zu nähern, welche in dem Hause beschäftigt sind, das er und sein Freund »Masemattenschulze« später bestehlen wollen. Es handelt sich da nicht immer bloß um Dienstmädchen, nein, dieser eigenartige Spezialist nähert sich auch den Kinderfräuleins, Bonnen und Erzieherinnen. Das ist natürlich hier ganz ausgeschlossen,« der alte Herr sprach plötzlich viel schneller, »Frau Hagenau hat uns ja soeben gesagt, daß sie den Angeklagten nicht kenne und nie gesehen habe … was ist denn, Herr Hagenau? … Sie wollen sagen, daß Sie den Zeugen gesehen zu haben glauben? Ja, ja, das haben wir ja schon vorhin von Ihnen gehört: an dem Tage des Einbruches haben Sie, als Sie früh Ihre Wohnung verließen, einen Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlangpatrouillieren sehen, der auffällig nach Ihrem Fenster hinaufblickte, an dem gerade Ihre Frau stand, die Ihnen nachsehen wollte … nicht wahr? … nun, Sie können doch aber selbst nicht mit Sicherheit bekunden, daß dieser Mann mit dem Angeschuldigten Berger identisch ist!«

»Hat vielleicht Frau Hagenau den Mann unten auf der Straße auch gehen sehen?« warf der Staatsanwalt unvermittelt dazwischen.

Die Frau erschrak, viel heftiger als vorhin. Ihr zartes Gesicht flog mit dem Ausdruck des Entsetzens herum zu dem Staatsanwalt und weiter zu dem schönen Adolf hin, der diesen Angstblick grinsend festzuhalten suchte. Dann sah sie den Richter an, der sagte mit verhaltener Stimme:

»Regen Sie sich doch nicht auf, Frau Hagenau,« er rückte ein bißchen an der goldenen Freiherrnkrone auf seinem schwarzen Atlasschlips, »es wäre ja übrigens möglich, daß Sie den Menschen an jenem Morgen auch gesehen hätten … entsinnen Sie sich dessen vielleicht?«

»Nein, nein!« sagte sie hastig, »ich …« Sie hatte sagen wollen: »Ich habe überhaupt nicht runtergesehen!« Aber sie besann sich noch rechtzeitig, daß das eine Lüge wäre, die jeder merken müßte. Und während ihr Geist so hin und her sprang wie ein Hündchen, das man an der Leine vorwärts zerrt, mußte sie immerzu an die Photographie denken, die kleine, zwei Zentimeter große Photographie denken, die er ihr fortgenommen hatte, als sie bei Paulsborn im Restaurant saßen – sie und der fürchterliche Mensch da hinten auf der Anklagebank, dessen Augen ihren Rücken versengten … während sie mit ihm … im Walde … war …, hatte der andere … zu Hause … die Wohnung leer gemacht …

Ah, sie hatte das Bedürfnis, immer los zu schreien, zu schreien … und davon zu laufen … Und statt dessen stand sie am Zeugentisch und schielte verstört nach der Hand, die den Meineid geleistet hatte …

Aber da war es ihr plötzlich, als lege jemand stützend den Arm um ihre müden Schultern. Aufblickend sah sie in das stolze und doch so gütige Gesicht, und ihr Widerstand wurde stärker und ihre Seele ruhig in aller Schuld.

Sie hatte gar nicht gehört, daß er ihr sagte: »Sie können sich setzen!« Erst wie er ihr zunickte, verstand sie es nachträglich.

Dann sprach der Staatsanwalt, der die Angeklagten der ganzen Strenge des Gesetzes empfahl. Und nun kam der von Staatswegen gestellte Verteidiger, ein junger, ziemlich unbeholfener Referendar heran. Aber indem er aufstehen wollte, tippte der schöne Adolf ihm auf die Schulter und gab ihm etwas.

Die junge Frau wußte in diesem Augenblick, ohne sich umgesehen zu haben, daß jetzt ihre Photographie zum Vorschein käme. Aber sie zitterte nicht mehr, ihr Blut war erstarrt und ihr Herz hatte zu schlagen aufgehört.

Der junge Verteidiger trat vor. Mit einem argwöhnischen Seitenblick auf die Zeugin ging er die Stufen der Estrade hinauf zum Richtertisch. Während er leise mit dem Präsidenten sprach, versteckte sich draußen die Sonne – im Saal wurde es ganz dunkel.

Der Vorsitzende räusperte sich, ließ seine klaren Augen einen Augenblick auf dem gefolterten Weibe ruhen und sagte dann mit tönender Stimme:

»Gottlob! Das erleichtert uns unser Urteil. Bis jetzt war es im wesentlichen ein Indizienbeweis, der für die Schuld der beiden Angeklagten vorlag! Adolf Berger selbst gibt uns jetzt das Material zu seiner Verurteilung … Diese Photographie hier, welche die Frau Hagenau vorstellt! Er zeigte sie soeben dem Herrn Verteidiger, mit einer Angabe, die eine so abscheuliche Verdächtigung der Zeugin involviert, daß ich mich nicht befugt halte, sie hier öffentlich zu wiederholen! … Schweigen Sie!« donnerte er dem schönen Adolf zu, der, sich erhebend, etwas sagen wollte.

»Schweigen Sie oder ich lasse Sie auf der Stelle geschlossen abführen! …« Und wieder so ruhig, als hätte sein Auge gar nicht blitzen können: »Ich erteile jetzt dem Herrn Staatsanwalt nochmals das Wort zur Vervollständigung seiner Anklagerede!«

Der faßte sich kurz, und als von den beiden Angeklagten der Gelegenheitsarbeiter Berger zuerst zum letzten Wort verstattet wurde, stammelte er deh- und wehmütig nur das eine: Er war's nicht gewesen, er sei sich keiner Schuld bewußt. – Man verurteilte beide …

Als die junge Frau den Saal mit einem tiefen Neigen ihres bleichen Gesichtchens verließ, sah sie den Vorsitzenden noch einmal an, und die sterbende Glut ihrer Augen sprach:

»Das Leben, das du gerettet hast, ist dein!«

Er aber erwiderte mit seinem Schweigen und leisem Lächeln:

»Geh' hin in Frieden!«


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