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Der Feldräuber

In der Stube des Bauernhauses, der einzigen, deren Wände unbeschädigt waren – die Decke freilich hatte ein großes, zackiges Fenster von einem anderthalb Fuß langen Granatsplitter, der in der Ecke lag – in dieser Stube saß Anton Jeremias Jeruscheit auf einer kleinen, hölzernen Fensterbank.

Er kaute ein wenig Tabak, den er von einem mitleidigen Soldaten des Transportkommandos erbeten hatte, und dachte über sein fünfundzwanzigjähriges Leben nach, das heute mittag um zwölf Uhr zu Ende gehen sollte.

Das heißt, daran glaubte er vorläufig nicht. Er glaubte überhaupt nicht an die Dinge, ehe sie nicht wirklich da waren; gerade wie er auch vorher nicht lange überlegte, was er in diesem oder jenem Fall tun würde. Wenn's soweit war, sprang der Entschluß in ihm auf, wie der Hase aus dem Lager, den er als Junge in seinem Heimatdorf Pitschwinken mit dem Knüppel totgeschmissen hatte … Später war er mit seinem Vater, der sich als Holzfäller und Flößer verdingte, nach Königsberg gekommen; wie, wußte er eigentlich gar nicht mehr. Aber da in Königsberg hatte man ihn abgefaßt, wie er einen Schinken stahl, und ihn ins Gefängnis gesteckt.

Seine Eltern bekam er nachher nicht mehr zu sehen, hatte auch gar keine Sehnsucht nach ihnen. Er kam aufs Land in Fürsorge, riß aus, wurde eingefangen und riß wieder aus, überall mausend, wie ein Kater, der von seinem Hof gekommen ist und allmählich ganz verwildert.

Siebzehnjährig vagabondierte er mit einem Frauenzimmer umher, einer alten, trunksüchtigen Person, die zweimal seine Mutter hätte sein können und die ihn ernährte. Und die brachte ihn nach Berlin.

Er lachte laut auf, wie er jetzt daran dachte, daß sie damals sich immer als Mutter und Sohn vorstellten, wenn sie betteln gingen, und daß die alte Margell so heiser schluchzte und heulte, daß ihr die Leute schon etwas gaben, bloß um sie loszuwerden.

Aber in Berlin wurden sie doch geklappt und kamen nach Verwarnung und kurzer Haftstrafe schließlich ins Arbeitshaus. Von da aus hatte sie einmal an ihn geschrieben, die Alte; der Pastor hatte ihm den Brief vorgelesen. Dann war er entlassen worden und in die Arbeiterkolonie gekommen.

Ach, da oben auf dem Balkensplitter am Loch in der Decke, da saß ein kleiner Vogel, der sang ein bißchen, dann flog er fort … Ja, so, wenn man Flügel hat, da kann man fortkommen!. Die Sonne leuchtete schön herein … Aber draußen klang der Schritt des Wachtpostens … trapp … trapp … trapp … trapp … nein, kein Weg war mehr frei. um zwölf Uhr. wenn man bloß wüßte, wie spät es war?

Ja, in Berlin, da war er eine Zeitlang Hausdiener gewesen beim Kaufmann. Ach, da hatten er und der eine Kommis immer soviel Spaß gemacht; sie hatten heimlich im Keller eine Scheibe gezimmert und mit Eiern danach geschmissen. Bis der Kaufmann dahinterkam, und warf sie beide vor die Tür.

Und da hatte er die Marie kennen gelernt. Na, die verdiente aber Geld! … Hui, das war ein Leben! Nach einem halben Jahr hatte er sie geheiratet, aber sie zeigte ihn doch an wegen Mißhandlung, und er bekam wieder zwei Jahre Arbeitshaus. Und nachher war er von ihr geschieden.

Und wie er dann wieder herauskam, da hatten sie ihn erst gar nicht losgelassen; er mußte Soldat werden, zweitklassiger, sie transportierten ihn nach Spandau. Und das war noch schlimmer wie in Rummelsburg, denn nichts war ihm so zuwider, wie arbeiten. Er dachte sonst nicht darüber nach, das war ihm ja viel zu unbequem, aber eines Tages, wie er im Arrest saß in »Spanien«, da war der Garnisonprediger zu ihm gekommen und hatte ihn gefragt, ob er sich denn gar nicht bessern wollte?

Er sah den Mann mit seinen leeren, schwarzen Augen, die an ein unvernünftiges Tier erinnerten, groß an.

»Ja, das will ich wohl, Herr Garnisonprediger.«

Aber in seinem Innern dachte er:

»Laß mich nur erst wieder draußen sein, du! Dann wirst du schon seh'n, was ich mache!«

»Trinken Sie denn sehr?« fragte der Geistliche.

»Bloß, wenn ich was habe, Herr Garnisonprediger.«

Der Pfarrer schüttelte leise den Kopf.

»Lesen Sie denn manchmal in der Bibel?«

»Jawohl, Herr Garnisonprediger.«

»Können Sie denn lesen?«

»Jawohl, Herr Garnisonprediger.«

Der Pfarrer nahm ein kleines Neues Testament. aus seiner Rocktasche, öffnete es, hielt es dem Arrestanten hin und sagte:

»Hier, lesen Sie mal!«

Jeruscheit brachte keinen Satz zustande.

Dann war der Pfarrer mit stillem Gruß hinausgegangen. Und das hatte der Strafsoldat von damals, an dem sonst alles vorüberflatterte wie leichte Wolken, nicht vergessen. Er mußte heute, am letzten Tage seines Lebens, noch über das betroffene Gesicht des stillen, ernsten Mannes lachen, der ihn nie mehr besucht hatte.

Aber nachher, als er vom Militär entlassen war, da hatten sie ihn nicht mehr gekriegt! Bis der Krieg ausbrach und er sofort über die Grenze ging, nach Rußland.

Und da begann das gute Leben! Von da an hatte es ihm an nichts mehr gefehlt. Er brauchte nur zugreifen und nehmen, was die, die ausrissen vor dem Kriege, liegen ließen! Ja, Schnaps und Essen gab's in Hülle und Fülle! Auch Weiber, gutwillig oder nicht. Kümmerte sich ja keiner drum, wenn man nur den Truppen geschickt auswich … Und das konnte er; wandern, laufen, von Ort zu Ort bummeln, das war seine Lust! Ach, selbst da, wo er sich's hätte wohl sein lassen können, so abseits der großen Heerstraße, in verlassenen Gehöften, um die sich niemand kümmerte, auch dort blieb er nicht! Er mußte immer weiter, es trieb ihn unwiderstehlich vorwärts! Und nun gar im Sommer, wo die Sternennächte so warm sind, wie sonst der helle Mittag!

Der Gefangene mußte wieder zu dem großen Loch in der Decke emporblicken. Seine Seele, wenn dieses armselige, verkrüppelte, gleichgültige und öde Etwas in Jeruscheits Brust den hohen Namen verdiente, seine arme Seele hob zum letzten Male ihre kümmerlichen Flügel und sank nach einer kurzen, vergeblichen Anstrengung, die sie hinaufheben sollte in die goldene Sonnenhöhe, zurück in ihr trostloses Dämmern.

Die Tür ging rasselnd auf.

Zwei Soldaten traten ein, sie holten Jeruscheit.

Das Kriegsgericht tagte in einer Scheune.

Jeruscheit wurde vorgeführt … Da war ihm bange …

Er wurde aufgerufen, sein Nationale verlesen. Auf die Frage, ob er sich schuldig bekenne, den Hof des Kleinbauern Piotr Dombrowski überfallen, die Frau niedergeschlagen, die beiden Kinder mit Erschießen bedroht, sie dann eingesperrt und am Ende versucht zu haben, das Gehöft anzuzünden, antwortete er mit einem frechen:

»Nein!«

Die Bäuerin, die nun als Zeugin auftrat, eine noch junge Polin, wendete mit dem Ausdruck großer Angst ihren verbundenen Kopf dem Verbrecher zu, der sie bös anstierte. Dann machte sie ihre Aussage, die ein Dolmetscher übersetzte.

Und dann kamen die Kinder. Das jüngste, ein kraushaariger Junge von drei Jahren, schrie laut und zeigte auf Jeruscheit mit seinem kleinen, schmutzigen Händchen.

Da erbebte der Vagabund, er mochte fühlen: das war des Herrgotts Finger selbst, der sich anklagend gegen ihn ausstreckte!

Nun traten die drei Mann der Radfahrerpatrouille vor, die den ihnen verdächtigen und obendrein bei ihrer Annäherung ins Feld fliehenden Räuber festgenommen hatten.

Das Verhör war geschlossen. Die Offiziersrichter traten einen Schritt beiseite und besprachen sich leise.

Jeruscheit, der gefesselt zwischen den beiden Posten stand, die ihr Bajonett aufgepflanzt hatten, um ihn bei dem geringsten Fluchtversuch niederzumachen – Jeruscheit blinzelte hinüber zu seinen Richtern. Ihm war auf einmal, als kröchen tausend Ameisen über seinen Leib. Das Fieber der Todesangst jagte sein Blut und er empfand eine wütende Übelkeit in der Magengegend.

Indem traten die Richter an den grünbehangenen Tisch:

»Der Angeklagte ist schuldig befunden des schweren Raubes und Totschlagsversuchs im Felde. Er wird zum Tode durch Erschießen verurteilt.«

Wer eigentlich gesprochen hatte, das wußte Jeruscheit nicht … War die Stimme durch die Decke gekommen? Aber nein, hier war gar kein Loch im Dach …

Er ging vorwärts.

Die Soldaten hatten ihn an beiden Armen fest.

Da drüben die Mauer … hellrot in der Sonne … Irgendwo knallte es … krachte … galt das ihm? –

Kommandoworte …

Er sah ja nichts mehr! … Was war das? …

Wollte rufen … Und stand doch still und horchte …

In diesem Augenblick, zum erstenmal in seinem Leben, brachte er alles Vergangene und alles Gegenwärtige in reißender Folge aneinander. Er sah deutlich und hell, von innen heraus beleuchtet, seine Schuld und wußte, daß er sie sühnen mußte. Er wunderte sich nicht mehr. Er sah ein, daß das das Ende war. In ihm selbst war es nie so licht gewesen, wie in dieser Sekunde, in der sechs Schüsse, fast zu gleicher Zeit, mit einem wütenden Gekrach sich lösten.

Der Feldräuber griff mit der Rechten aufwärts, als wollte er einen Halt suchen. Die Linke tastete vor, nach dem Boden, da er in die Knie sank.

Da knallte es noch einmal. Mit zerschmetterter Hirnschale fiel der Körper vornüber. Die Beine stießen ein paarmal gegen die Mauer, der linke Arm, der oben lag, ging zwecklos hin und her, und ein Ton, ganz eigen, wie ein befreites Aufatmen fast, klang in den stillen, sonnigen Mittag.


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