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Aus dem Portal des roten Hauses war er eben herausgetreten und stand, vielleicht doch ein bißchen verwirrt von der neuen Freiheit und geblendet von der Aprilsonne, die so lachend leuchtete, ein paar Augenblicke ganz still. Dann drehte sich Theodor Rossalius bedächtig um nach dem Gefängnistor und spuckte dreimal symbolisch in diese Richtung – ein abergläubischer Gebrauch, den zu befolgen er nicht unterließ; und der den, der aus jener Pforte herausgetreten war, davor bewahren sollte, dort je wieder einzutreten. Dabei rechnete Rossalius nach, wie oft er das †††Haus schon angespien hatte, und kam zu dem Resultat, daß es beinahe zu einem zehnmaligen Jubiläum langen könnte.
So stand er noch immer und ließ den Arbeitsaufseher Meier, der eben herauskam und der ihn jetzt zweiundeinhalbes Jahr beschäftigt hatte, kaltlächelnd, ohne auch nur mit den Augen zu grüßen, an sich vorbeigehen. Dann fing er an, langsam vor dem Gefängnis auf und nieder zu wandeln. Er wartete hier auf jemand, wenngleich er selber noch nicht wußte, auf wen.
Da tat sich abermals die schwere Eichentür auf, und Johann Kawnulski trat heraus, der wegen Körperverletzung mit dem Erfolge des Ablebens der Gegenpartei drei Jahre hiergewesen war. Johann, gebürtig aus Rossulken, d. h. von der ostöstlichen Grenze des Vaterlandes herstammend, war gleichfalls nicht das erstemal hiergewesen und spie deshalb seinerseits auch nach dem roten Gebäude zu, aber nicht nur symbolisch, aus. Der Unterschied im Bildungsgrad der beiden Männer war unverkennbar.
Kawnulski eröffnete die Verhandlungen: »Host du Priem?«
Rossalius lächelte: Selbstverständlich. Er hätte sich ja vor sich selber geschämt, wenn er nicht während seiner ganzen Strafzeit »'n lütten Swatten« gehabt hätte! Und er gab dem Kameraden ein ansehnliches Ende der »schwarzen Strippe«, die er im Gefängnis um ein Sechzehntel Schweineschmalz und ein Ende Bleistift eingehandelt hatte.
»Kumm!« sagte Kawnulski, und ging voran.
Mit einem nachsichtigen Lächeln folgte ihm Rossalius. Diese Polacken sind nicht erzogen, aber oft recht brauchbar.
Sie gingen ein Weilchen schweigend. Dann lachte der Pole mit witternd breiten Nasenflügeln. »Hob ich Durscht!«
Das konnte Theodor Rossalius für sich auch nicht leugnen.
Sie verschwanden im »Willkommen, Wanderer!« Dieses Wirtshaus lag an der großen Heerstraße derer, die den Weg meist in der Magistratsequipage machtet und deshalb erst auf dem Rückwege Zeit und Muße fanden, bei dem alten Plötzenseer Kollegen einzukehren, der sich und seinen Nachfolgern im Zellenstaat der heiligen Justitia hier eine bescheidene Erholungsstation geschaffen hatte.
»Na, da seid ihr ja wieder!« begrüßte der »olle Lehmann« seine langjährigen Bekannten, deren er sich zwar persönlich absolut nicht erinnerte, die er aber mit geschultem Auge richtig einschätzte. »Ihr wart ja lange nicht hier!«
»Ja, wir haben uns 'n bißchen länger da drüben aufgehalten, als wir eigentlich wollten!« bemerkte Rossalius, der bei seinen Scherzen ernst blieb und andere lachen ließ.
Der Pole wieherte.
»Vafluchtija Hund! … hoho! … Reiß dir 'n Schlung uff!«
Dank ihrer längeren Abgeschlossenheit von der Außenwelt war das Vermögen der beiden Zecher hinreichend, um nicht allein ihre Bedürfnisse nach Alkohol zu befriedigen – sie aßen auch, vornehmlich der Pole, die ganze Speisekarte rauf und runter. Rossalius trank mehr und wurde bald sehr mutig.
Dann bei der Zigarre legte sich Rossalius, dessen »Dessin« die »Wechselfalle«, d. h. die Einwechselung der bereits in Zahlung gegebenen Münzen in geringwertigere Stücke war, weltmännisch in seinen Stuhl zurück, sah den Rauchringeln nach und meinte leichthin: »Zwei Leute sind mehr wie einer.«
Das begriff selbst der Pole ohne weiteres, weswegen er denn auch herzlich lachte: »Psiakrew!«
Rossalius nickte und neigte sich dem Komplimente anerkennend. Dann redete er bedächtig weiter.
Er hätte da einen Zellennachbar gehabt, einen ganz kessen Baldower! Und der hatte es ihm mitgeteilt! …
Der Pole lachte. Wenn er das nicht tat, konnte es leicht sein, daß er zustach oder doch wenigstens mit den Fäusten dreinhieb.
Theodor nickte bedächtig.
»Wir sollen drei Teile machen, wenn wir's haben. Du einen, ich einen und der da drin einen. – – »Aber ich lehne die »Kippe« ab!« setzte er in Gedanken hinzu, »und ich brauche dich, du polnisches Hornvieh, nur, weil ich mich alleine nicht an das Ding 'rantraue … Oder meinst du, ein Gent wie ich geht aus Vergnügen mit solchem Wasserpolacken auf die Fahrt?«
Der Pole lachte und trank und trank und lachte. Einer der Anwesenden, seines Zeichens Leichenwäscher, und auch fortgewesen, sechs Jahre, weil er außerdem der Ansicht gehuldigt hatte, Tote würden in ihrer Grabesruhe durch weltliche Gegenstände, besonders durch Pretiosen, nur beeinträchtigt – der richtete an Kawnulski die Frage, ob vielleicht seine Eltern in dem Moment, dem Johann seine Entstehung verdankte, auch so heiter gewesen seien?
»Holt' Fresse!« Weiter sagte Kawnulski darauf nichts; er hatte ja nicht die Absicht, den Leichenwäscher zu beleidigen.
Dann gingen die beiden ungleichen Gesellen. Und Theodor Rossalius gedachte der Zeit, da er noch andauernder Student der Rechte war; da er noch nicht Objekt, sondern Subjekt der Rechtspflege zu werden hoffte. Er sah nämlich eine Dame, die ihm gefiel, die ihm aber in der augenblicklichen Aufmachung seines äußeren Menschen nicht leicht erreichbar dünkte … »Geld,« murrte er, »viel Geld!«
Der Pole nickte. Er fragte: »Wo hast du?«
Und nun berichtete Rossalius ausführlich. Jener andere – seine Freunde nannten ihn »den Halblangen« – der hatte zur Zeit seiner letzten »Fahrt« bei einem Ehepaar in der Petersburger Straße gewohnt. Der Mann war Athlet. Die Frau sogenannter »Untermann« bei einer dreiteiligen Parterreakrobatengruppe, die auf den Rummelplätzen arbeitete. Sie schlug ihn, den Gatten, obgleich er zwei Fünfzigpfünder ein dutzendmal streckte, braun und blau, wenn er auch nur das kleinste Äffchen mit nach Hause brachte. Sie war bekannt und gefürchtet in der ganzen Petersburger Straße wegen ihrer Kraft, Gerechtigkeit und Strenge. Selbst der Wachtmeister des Reviers, ehemaliger Flügelmann bei den Pasewalker Kürassieren, legte vor ihr die Hand an die Mütze.
Das hatte Theodor Rossalius alles erfahren. Und vielleicht hätte es ihn nicht einmal interessiert, wenn nicht gerade hinter dem Küchenspind dieser Frau, angeklebt an dessen Rückwand mit Fischleim, das Kuvert mit den vier Tausend und sechs Hundertmarkscheinen gesessen hätte, die der »Halblange«, wie er angab, bei seinem letzten Masematten gemacht und da kabore gelegt hatte.
Sie standen vor dem Haus.
»Vier Treppen. Hof zweiter Seitenflügel … rechts …« murmelte der einstige Jurist und sah zweifelnd an seinem mageren, spacken Körperchen hinab.
»Komm ruff!« sagte der Pole.
Oben öffnete sie, er war nicht zu Hause.
»Wat wünschen Sie?«
Der Plan war: Johann Kawnulski sollte Frau Amalie Pupper beschäftigen, womöglich aus der Küche in die Wohnung locken, wenn auch nur für einen Augenblick; den würde dann Rossalius schon richtig ausnutzen.
»Wir möchten die Schlafstelle besichtigen … Sie haben doch eine Schlafstelle zu vermieten, nicht wahr?«
»Jo! Schlofstelle!« echote der Pole.
Frau Pupper sah mißtrauisch auf das Paar. Sie kannte die Sorte vom abendlichen Zudrang der Rummelplätze.
»Kost' fimf Mark de Woche,« sagte sie, absichtlich ein wenig übertreibend.
Den beiden Männern gefiel der Preis dennoch. Sie wollten das Logis sehen. Frau Amalie ging voraus, ohne Bangen.
Drin guckte Theodor in alle Ecken, aus dem Fenster, an die Decke. Er sprach: »Die miet' ich sofort!« Und zahlte eine Mark an.
Frau Pupper spuckte auf den Geldschein und steckte ihn ein. Dabei lachte sie:
»Wenn man det von frieher so jewehnt is, nich wahr? … Na, det macht nischt, ick hab' mir noch immer jut verdragen mit meine Mieter! Bloß stänkern, det kann ick nich leiden! Und keene Damens nich, det bitt' ick mir aus! Wenichstens nich in meine Bleibe! Draußen, da kennt ihr machen, wat 'a wollt …«
»Und das da ist die Küche?« meinte Rossalius und schlängelte sich, wie traumverloren, über den Korridor nach dem Ziele seiner sehnsüchtigen Wünsche hin.
Einen Augenblick blieb Frau Pupper bei dem kräftigen Polen, der sie so nett anlachte. Das Weib in ihr besiegte für kurze Zeit ihre Wachsamkeit und Stärke. Und schäkernd ersah Kawnulski seinen Vorteil. Er hielt die noch recht respektabel aussehende Frau bei den Armen fest, deren nackter Drall ihn allerdings hätte warnen sollen.
In der Küche raschelte etwas.
»Wat macht'n der da draußen? … Sie!«
Der Pole bekam einen Stoß.
Aber der war auch kein Mann der blassen Furcht und besaß Muskeln – wie hätten sonst seine Körperverletzungen immer gleich so schwer sein können!
Kawnulski hielt die Frau fest – sie war wohl überrascht und besann sich erst einen Moment auf ihre Rechte und Pflichten.
Der ehemalige Rechtsgelehrte stellte unterdessen in der Küche die Untersuchung nach dem bewußten Kuvert an. Jetzt aber hörte er Lärm und suchte das Freie zu gewinnen. Aber die Sekunden, die doch vergingen, ehe er den Ausgang hatte, waren genug, um Frau Pupper so auslangen zu lassen, daß Kawnulski unter einem schrecklichen Linkser wie ein Ochs zusammenstürzte. Rossalius griff sie gleich einem Hähnchen. Und ihre Stimme gellte:
»Frau Müllern! Müllern! Holen Se ma janz schnell 'n Schutzmann!«
Mit dem brachte sie die beiden aufs Polizeirevier.
Die Beamten lächelten. Zu lachen, erschien ihnen riskant. Aber Kawnulski meinte anerkennend: »Is sich stärker wie Mann!«
Gestohlen hatten sie nicht, denn ein Kuvert hatte gar nicht hinter dem Schrank geklebt, der »Halblange«, draußen in der »Plötze«, hatte sich einen kleinen launigen Scherz geleistet damit. So mußte der Untersuchungsrichter die beiden wieder freigeben.
Theodor Rossalius kam zuerst heraus, er spuckte symbolisch nach dem Torflügel hin. Da erschien Kawnulski. Er ging auf den gewesenen Juristen zu und schlug ihm den Hut über die Augen. Rossalius stand zitternd. Dann gab ihm der Pole noch einen Hieb und sagte: »Kumm! Du Schwein! Hob ich Durscht!«
Sie verschwanden in der nächsten Budike.