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Es hatte doch länger gedauert, als Hermann Hempel glaubte, bis alles Nötige erledigt war und er Ulrichs Freilassung erwirkt hatte.
Zuerst fanden wiederholte Telephongespräche mit Doktor Ullmann statt, die zu nichts führten. Der Kriminalinspektor war so stolz gewesen, Ulrich Gottschalk verhaftet zu haben – und nun sollte man den Falschen erwischt haben!
Als dann aber aus Bruck ein Bericht der Polizei kam, daß der Mann, den Hermann Hempel dort abgefaßt habe, der Verbrecher sei, denn er habe ein volles Geständnis abgelegt, da mußte auch Inspektor Ullmann nachgeben.
Bis alle Formalitäten erledigt waren, dauerte es noch einen vollen Tag, und am Morgen des dritten Tages konnten Hermann Hempel und Ulrich Gottschalk endlich nach Tannroda zurückkehren.
Unterwegs erfuhr der Detektiv von Ulrich, wie er zu dem Namen Juan Andagola gekommen war, und Ulrich wiederum hörte von Hempel, welch schwerer Verdacht ihn belastet und schließlich zu seiner Verhaftung geführt hatte.
Als die beiden Frau Gottschalks Schlafzimmer betraten, saß sie bereits wieder auf dem Liegestuhl, umgeben von ihren Kindern und der neuen Schwiegertochter.
Das Wiedersehen Ulrichs mit seiner Mutter und die Begrüßung der Geschwister untereinander wollte Hempel nicht stören. Er zog sich in eine der Fensternischen zurück und starrte auf den Kiesplatz und den Brunnen hinab. Es war ihm ein Stein vom Herzen gefallen, als er Frau Leonie so frisch in ihrem Liegestuhl sitzen sah. Die Kinder gingen vor – das war selbstverständlich. Allmählich fiel die Spannung der letzten Wochen von ihm ab, und es wurde ihm auf einmal klar, daß er in Tannroda eigentlich nichts mehr zu suchen hatte. Er war ein Fremder. In seine Grübeleien hinein rief Frau Gottschalk:
»Aber, lieber Freund, warum sondern Sie sich so ab? Wer gehört heute wohl mehr zu uns als Sie? Ihnen verdanken wir unser Glück! Wer weiß, wie alles gekommen wäre, wenn Sie uns nicht beigestanden hätten!«
Hermann Hempel wehrte ab: »Ach, das war ja nur meine Pflicht – und die Wahrheit wäre wohl auch ohne mich ans Licht gekommen.«
»Die Wahrheit kennen wir noch nicht einmal. Ulrich sagt mir eben, daß er selbst noch nicht erfahren hat, wer der Mörder nun eigentlich ist, dessen Verbrechen man fälschlich ihm zuschrieb.«
»Ja, ich sprach zu Herrn Gottschalk noch nicht darüber, weil ich Ihnen gemeinsam davon berichten wollte, wer beabsichtigte, hier als Ulrich Gottschalk aufzutreten und sein Erbe zu verlangen.«
»Was? Wer hat denn so etwas geplant?«
»Seit dem Verschwinden des Reverses war es ganz klar«, fuhr Hempel fort, »daß der Verbrecher nur auf dieses Ziel hinarbeitete. Wir mußten deshalb zunächst annehmen, daß der wahre Ulrich Gottschalk hinter allem steckte – um so mehr, als wir nichts über sein weiteres Leben wußten und die Möglichkeit nahe lag, daß sein hartes Jugendschicksal ihn verbittert haben konnte. Sie verzeihen wohl, Herr Gottschalk, daß diese Zweifel und Vermutungen sich mehr und mehr verdichteten.«
»Selbstverständlich – nach allem, was ich heute weiß, konnten Sie einfach nichts anderes vermuten.«
»Ach – so einfach war es nun auch wieder nicht. Manches wollte durchaus nicht auf Sie stimmen, vor allem die Mordversuche auf Ihre Mutter. Das war eben der verhängnisvolle Irrtum, daß wir immer nur an Sie dachten und nie die Möglichkeit in Betracht zogen, jemand anders außer Ihnen könnte sich ebenfalls für Ihr Erbe interessieren – jemand, der Ihre Jugendgeschichte kannte und sich entschloß, Ihre Rolle zu spielen, um dadurch in den Besitz eines großen Vermögens zu kommen. Das erklärte dann die Mordversuche auf Frau Gottschalk ohne weiteres. Denn sie vor allem hätte den Betrug zuerst erkannt, deshalb mußte sie aus dem Wege geräumt werden.
Das wurde mir aber erst völlig klar, als ich den wahren Namen des Mannes erfuhr, den ich lange vergeblich verfolgte, weil ich ihn für einen Helfershelfer Ulrich Gottschalks hielt.«
Ulrichs Gesicht hat sich langsam verändert:
»Wollen Sie etwa sagen, der Mensch, der meine Jugendgeschichte kennt und sie ausnützen wollte, sei dieser Schuft . . .«
Er konnte vor Erregung nicht weitersprechen.
»Ja, Herr Gottschalk, Ihr alter Feind Franz Malten.«
Ungläubig starrte Ulrich ihn an:
»Es ist doch nicht zu fassen! War es noch nicht genug, daß er mir meine Jugend zerstörte und mein Leben zerbrach? Was habe ich diesem Kerl denn getan? Irren Sie sich auch gewiß nicht?«
»Ich habe ihn selbst festgenommen und ihn dann mit einiger Mühe zum Geständnis bewegt.«
»Wie? Er hat sogar gestanden?«
»Oh, nicht sofort, das können Sie sich wohl denken. Anfangs lachte er mir ins Gesicht und nannte mich verrückt. Als ich ihn beim wahren Namen anredete und ihm seine Verbrechen aufzählte, spielte er noch meisterhaft den Unschuldigen. Doch als ich ihm dann sagte, daß Sie am Leben seien und sich bald in Tannroda befänden, ging eine Veränderung mit ihm vor. Er starrte mich entsetzt an. Sein ganzer Plan brach mit einem Mal zusammen. Alle seine Taten hatte er vergebens auf sich geladen. In dieser Gemütsverfassung war es mir dann ein Leichtes, ihn zum Geständnis zu bringen.«
»Und er gab zu, daß er meine Rolle hatte spielen wollen?«
»Ja. Er war fest überzeugt, daß Sie nicht mehr am Leben seien. Er habe Sie in Argentinien und anderen Ländern Südamerikas suchen lassen. Das einzige, was er erfuhr, war Ihre Ankunft in Buenos Aires. Von da an verlor sich Ihre Spur – wegen des Namenswechsels natürlich. Auf seinen jetzigen Plan verfiel er erst im vorigen Jahr. Als er sein Spiel verloren sah, war ihm alles gleichgültig. Er gab alles zu, und auch die Wiener Kriminalpolizei bewegte ihn noch zum Geständnis verschiedener anderer Verbrechen.«
»Und was wird nun mit ihm geschehen?«
»Nichts. Er ist tot. Heute früh hörte ich, daß er sich in der Zelle erhängt habe.«
»Schrecklich«, flüsterte Frau Leonie, der das Gesicht des Verbrechers wieder vor Augen stand.
Vera dagegen rief: »Gott sei Dank, daß er tot ist, jetzt kann er dir doch nie wieder etwas antun«, und umarmte ihren ältesten Bruder. Auch Ronny trat auf Ulrich zu und sagte:
»Ulrich, ich möchte, daß du wieder Herr auf Tannroda wirst.«
Ulrich lachte freundlich:
»Unsinn, Ronny! Du bleibst hier, und hoffentlich hält deine Braut bald ihren Einzug in Tannroda. Hela und ich sind nun einmal in Solis beheimatet, was sollte denn daraus werden? Nein, nein, wir müssen wieder hinüber. Aber es wäre herrlich, wenn wir noch etwas länger bleiben könnten, bis Mama ganz hergestellt ist. Vielleicht nehmen wir sie dann sogar für ein Weilchen mit?«
Lachend gehen seine Blicke zwischen seiner Mutter und seiner Frau hin und her.
»Was meinst du dazu, Hela?«
»Das ist ein herrlicher Plan«, rief Frau Andagola begeistert, »und Vera muß auch mitkommen!«
Vera stotterte ausweichend:
»Das kann ich leider nicht! Mama, ich habe dir noch nicht gesagt, daß ich mich mit Doktor Sorel verlobt habe. Und wir wollen, wenn du nichts dagegen hast, am gleichen Tage wie Ronny und Lilli heiraten.«
Frau Leonie betrachtete sie lächelnd:
»Du bist sicher glücklich, Vera?«
»Ja«, erwiderte sie strahlend. »Er kommt heute, Mama, noch vor Tisch! Er möchte bei dir anfragen, ob . . . gleich wird er hier sein!« Sie warf einen unsicheren Blick auf ihre Mutter und die andern Anwesenden.
Frau Leonie kam ihr zu Hilfe:
»Dann geh ihm nur entgegen, und am besten nimmst du Ronny und Ulrich und Hela mit und machst ihn gleich mit seinen neuen Geschwistern bekannt.«
»O Mama, wirklich?« rief Vera beglückt.
»Natürlich«, nickte Frau Leonie, »und erzählt ihm nur alles ausführlich, ehe ihr wieder zu mir kommt, denn noch einmal kann ich die gräßliche Geschichte nicht mitanhören. Gönnt mir ein klein wenig Ruhe! – Halt, lieber Freund!« rief sie, als auch Hermann Hempel sich entfernen wollte. »Sie meinte ich nicht damit. Bleiben Sie! Ich muß Sie etwas fragen!«
Hempel atmete auf, als die Türe hinter den anderen ins Schloß fiel.
»Setzen Sie sich zu mir, lieber Freund! So – und nun sagen Sie mir einmal, was für finstere Gedanken Sie vorhin hatten, als Sie da ganz allein in der Fensternische standen?«
Hermann Hempel sah sie bestürzt an. Dann raffte er sich zusammen und sagte verlegen:
»Ich dachte an meine Vögel!«
Frau Leonie war entgeistert.
»Wie? Haben Sie etwa Vögel? Davon habe ich ja noch nie gehört?«
Hempel gestand ihr, daß er den Abschied von Tannroda vor Augen gehabt habe, und da seien ihm seine Vögel daheim eingefallen, die er ja nun bald wieder füttern würde.
»Sie lieben sie scheinbar sehr, wie?« fragte Frau Leonie.
Hermann Hempel sah zum Fenster hinaus.
»Ja, ich liebe meine Vögel. Nach all dem Bösen und Ungereimten, das einem im Verkehr mit den Menschen begegnet, sind mir die Vögel die liebsten Freunde. Ich bin kein Menschenfeind, durchaus nicht, aber manches Mal ist mir die einfältige Kreatur lieber als selbst die besten Freunde.«
Frau Leonie sah ihn nachdenklich an.
»Das heißt also, daß Sie sich jetzt wieder in ihre Klause zurückziehen wollen.«
Hempel nickte und sah sich nach seinem Hut und Mantel um, den er in der Eile in Frau Gottschalks Zimmer abgelegt hatte. Während er ihn anzog, sagte er:
»Ja, wenigstens für die nächste Zeit; aber wenn mich der Zufall hier in die Nähe bringt, werde ich es nicht versäumen, Ihnen meine Aufwartung zu machen.«
*
Frau Gottschalk sah ihm vom Fenster aus nach, wie er sich langsam über den Kiesweg gegen die Allee hin entfernte. Dann schloß sie das Fenster.
Ende