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Am nächsten Tag fand unter Beteiligung zahlreicher Persönlichkeiten und einer Menge von Neugierigen das Leichenbegängnis des Rechtsanwalts statt.
Der Tote wurde auf dem Hietzinger Friedhof, wo auch seine Eltern und zwei Schwestern ruhten, beigesetzt.
Hermann Hempel, der im Auftrage Frau Gottschalks einen Kranz bestellt hatte, nahm auch am Begräbnis teil, doch hielt er sich absichtlich im Hintergrund.
Er hatte den Toten ja nicht persönlich gekannt.
Er betrachtete aufmerksam die Trauergemeinde. Die einzige wirklich Leidtragende schien die Haushälterin des Verstorbenen, Frau Erber, zu sein. Übrigens entsprangen ihre Tränen nicht nur echter Zuneigung, sondern auch dem Gefühl der Dankbarkeit.
Als nämlich das Testament des Ermordeten eröffnet worden war, stellte sich heraus, daß der Rechtsanwalt nicht seine entfernten Verwandten, sondern seine Haushälterin zur Erbin eingesetzt hatte.
Während Hermann Hempel die fassungslos weinende alte Dame betrachtete, konnte er sich eines merkwürdigen Gefühls nicht erwehren. Es war der Gedanke, daß hier ein alter Junggeselle – gleich ihm – ohne Angehörige, aus dem Leben geschieden war, beweint nur von einer treu ergebenen, aber doch fremden Person. Und an seinem Grabe – Hempel stieg fast ein Lächeln auf bei dieser Vorstellung –, an seinem Grabe würde dann wohl eines Tages die dicke Kata voll Rührung in ihrem Sonntagsstaat dastehen und in ihr größtes Taschentuch hineinschluchzen? Hempel mußte sich zusammenreißen, um sich von dieser komischen Vorstellung zu befreien. Er betrachtete die Leute, um sich abzulenken.
Schon während der Einsegnung in der Kirche war ihm ein schwarzgekleideter, großer Herr mit einer jungen Dame aufgefallen. Doch war er zu weit von dem Paare entfernt. Jetzt war er nur durch eine Gruppe dunkler Buchsbäume von ihnen getrennt und konnte sie ungestört beobachten.
Fast hätte er einen Ruf der Überraschung ausgestoßen, als der Herr, der ihm irgendwie bekannt vorkam, das Gesicht seiner Begleiterin zuwandte, so daß Hempel ihn fast von vorne sah. Das dunkle Haar, die hellen Augen und die Narbe über der linken Braue konnten nur Juan Andagola gehören . . . gleichzeitig fiel aber Hempel eine gewisse Ähnlichkeit auf, die ihn an Frau Gottschalk erinnerte. – Ja, das konnte nur Ulrich Gottschalk sein.
Er ließ Andagola nun nicht mehr aus den Augen; dieser bemerkte ihn nicht. Er blickte, scheinbar in Trauer versunken, dem Sarge nach, der nun in die Gruft versenkt wurde. Dann beugte er sich zu der Dame, flüsterte ihr etwas zu, und beide entfernten sich unauffällig. Hempel ging ihnen vorsichtig nach.
Was konnte Andagola bewogen haben, sich zum Begräbnis einzufinden?
Diesmal war das Paar nicht im silbergrauen Auto gekommen. Es fuhr auch mit der Straßenbahn wieder in die Stadt zurück. Es war klar, daß es in keiner Weise die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte.
Als das Paar in die Straßenbahn einstieg, überlegte Hempel, ob er folgen sollte. Da erblickte er im Anhängewagen Franz Kobler, der also, wie erwartet, auf seinem Posten war.
Hempel wartete den nächsten Wagen ab und fuhr nach Hause. Sein Hausdrachen, die mürrische Kata, erwartete ihn schon und meldete, daß vor einer Viertelstunde eine junge Dame gekommen sei. Sie habe bereits gestern nach Herrn Hempel gefragt und sei wieder gegangen, ohne Nachricht zu hinterlassen. Heute habe sie erklärt, sie müsse unbedingt auf Herrn Hempel warten.
Hempel legte seinen Mantel ab und ging in das Empfangszimmer. Aus dem Sessel erhob sich ein schlankes junges Mädchen. Es blieb zaudernd stehen.
»Sie kennen mich wohl nicht mehr, Herr Hempel?«
»Poldi – Sie sind's? Nein, wirklich, im ersten Moment . . . ich habe Sie ja so lange nicht gesehen! Aber kommen Sie, wir gehen in mein Arbeitszimmer!«
Er öffnete die Türe und ließ dem jungen Mädchen den Vortritt. Sie blieb schüchtern im Zimmer stehen.
*
Hempels Bekanntschaft mit Poldi Wieser stammt von einem Dienst her, den er vor zwei Jahren ihrem Vater, einem kleinen Bankbeamten, erwiesen hatte. Damals bekleidete Wieser eine bescheidene Stellung bei der Landesbank. Fälschlich war er in den Verdacht geraten, Geld veruntreut zu haben. Hempel hatte damals Herrn Wieser verteidigt. Das war fast zwei Jahre her.
Inzwischen hatte sich Poldi in den angebotenen Stuhl gesetzt.
»Ich komme in einer besonderen Angelegenheit . . .« Sie bricht errötend ab.
»Aber Poldi – Sie werden doch nichts angestellt haben?« lachte er und neckte das hübsche Mädchen, weil es so reizend verlegen war.
»Doch, ja. Aber es ist nichts Schlimmes. Nicht sehr schlimm, meine ich. Jedenfalls muß ich es Ihnen mitteilen. Doch es muß streng geheim bleiben, sonst verliere ich noch meine Stellung. Sie wissen sicher nicht, daß ich seit vorigem Monat beim Telephonamt bin? Ich habe die Prüfung mit Auszeichnung bestanden, und jetzt bin ich in der Zentrale und bekomme ein besseres Gehalt als früher auf dem Postamt in Meidlingen.«
»Wirklich? Da muß ich Ihnen ja gratulieren . . .«
»Ja, es ist auch viel interessanter. Leider . . . sollte ich fast sagen.«
»Nun sprechen Sie schon«, ermunterte sie Hempel. »So schlimm wird die Sache ja nicht sein.«
»Sie interessieren sich doch gewiß für den Fall Wendland? In Ihrem Beruf, meine ich . . .«
Hermann Hempel horchte auf.
»Warum fragen Sie?«
»Weil ich dachte, daß Sie vielleicht an der Abklärung des Falles mitarbeiten. Ich habe nämlich das Telephongespräch zwischen Doktor Wendland und dem Mann, der ihn auf die Schmelz bestellte, mitangehört. Aus Neugierde . . .«
Hermann Hempel sprang auf.
»Donnerwetter«, entfuhr es ihm »Sind Sie aber sicher?«
»Ja, ganz sicher. Es ist zwar streng verboten. Aber ich bin noch nicht lange da, und an dem Abend war's mir so langweilig zumute, und dann hörte ich eben zu. Das Gespräch kann ich Ihnen wortwörtlich wiederholen. Doch wenn es herauskommt, verliere ich meine Stelle. Aber ich dachte, vielleicht nützt es Ihnen etwas . . .«
Hermann Hempel saugte an seiner Zigarre, die er sich unterdessen umständlich angezündet hatte. War das ein Zufall, überlegte er. Solche Zufälle waren sehr selten. Er kannte dieses Mädchen zwar; aber wer konnte wissen, wer ihre Unerfahrenheit ausnützte. Immerhin konnte es nichts schaden, sie einmal anzuhören.
So sagte er ganz ruhig: »Ich habe nicht lange Zeit, Sie anzuhören; aber erzählen Sie einmal, was Sie wissen.«
»Ich hatte gerade erst angefangen mit Abhören, da hörte ich auf einmal eine komische Stimme nach Doktor Wendland fragen. ›Spreche ich mit Doktor Wendland persönlich‹, fragte es immerzu. Der andre Teilnehmer hatte ihm das ein paarmal ziemlich ungeduldig bestätigt, und dann rief dieser Mann mit einer etwas hohen Stimme weiter: ›Hier Sterneck, Doktor Sterneck‹. Er sei der behandelnde Arzt eines Sterbenden, zu dem Doktor Wendland sich sofort begeben möchte, da der Sterbende sein Testament machen wolle. Der Kranke sei im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte, habe aber höchstens noch vier oder fünf Stunden zu leben, und es handle sich um ein bedeutendes Vermögen, das den nächsten Angehörigen gegen ein erbschleicherisches Ehepaar in der letzten Minute gesichert werden solle.
Doktor Wendland habe zuerst abgelehnt. Er dächte nicht daran, so spät noch den weiten Weg zu machen. Er solle doch einen jüngeren Kollegen anrufen.
Aber der Doktor war ganz aufgeregt geworden.
Schließlich hätte Doktor Wendland nachgegeben. Er erkundigte sich nach der Nummer des Hauses und dem Namen des Patienten.
Der Unbekannte hatte geantwortet, sein Patient heiße Wurm und wohne im eigenen Hause. Doktor Wendland möge am besten ein Taxi nehmen und in der Märzstraße, wo diese an der Rudolfshöhe vorüberführt, halten lassen. Dort würde er ihn selbst erwarten und ihn die paar Stufen bergauf begleiten.
Das ist alles. Als ich es hörte, schien es mir furchtbar romantisch; als ich am andern Morgen aber in der Zeitung von dem Mord las und meinen Augen nicht trauen wollte, weil da der Name Wendland stand, den ich am Abend vorher noch am Telephon vernommen hatte – da wurde mir angst und bange zumute. Glauben Sie nicht, daß der arme Rechtsanwalt nur in eine Falle gelockt worden ist?«
Hempel saugte noch immer an seiner Zigarre; nun hatte er auch noch die Beine übereinandergeschlagen und sah Poldi nachdenklich an. Schließlich stand er auf und marschierte etwas unruhig im Zimmer auf und ab.
»Wer hat Ihnen das beigebracht, Poldi?« fragte er auf einmal ganz trocken. Poldi sah ihn entgeistert an.
»Beigebracht? Ich . . . ich habe das selbst gehört . . . am Telephon.«
Hempel brach seinen Spaziergang durch das Zimmer noch nicht ab.
»Gut, lassen wir das. Und wie war das mit der Stimme? Können Sie sich an den Ton erinnern?«
»Ich weiß nicht recht, wie ich sie beschreiben soll. Zuerst tönte sie mir ganz unangenehm. Aber eigentlich war sie nur merkwürdig, etwas hoch für eine Männerstimme und etwas heiser.«
Hempel dachte an die Beschreibung der Stimme Andagolas durch den Kriminalinspektor. Das war ja ein Gegenstück dazu. Hatte er vielleicht seine Stimme verstellt? Oder gehörte diese »Männerstimme« sogar einer Frau?
»Sie haben die Stimme sicher nicht verwechselt, Fräulein Poldi? Auf einer Telephonzentrale schwirren ja soviele Stimmen über- und durcheinander?«
»Nein, ich weiß es ganz genau, daß der Mann, der Doktor Wendland anrief, so gesprochen hat.«
Hempel blieb am Fenster stehen und sah nachdenklich auf die Bäume hinaus, ›Andagola muß seine Stimme verstellt haben‹, dachte er. ›Oder er hat einen Helfershelfer‹!
Jedenfalls wußte er nun, daß Wendland nicht die Straßenbahn, sondern ein Taxi benutzt hatte, um in jenen einsamen Stadtteil zu fahren. Auch den Punkt, wo er das Taxi verlassen hatte, kannte er nun. Dort hatte ihn der Mörder abgeholt und den für Taxis nicht befahrbaren Steig an der Rudolfshöhe hinaufgeführt – oder auch nicht. Das müßte sich herausfinden lassen, sobald er den Taxifahrer ausfindig gemacht hatte.
Er nickte und legte die erloschene Zigarre in den Aschenbecher.
»Es tut mir leid, Fräulein Poldi, daß ich Sie hinauswerfen muß, ich habe nämlich noch viel zu arbeiten. Was Sie mir berichtet haben, ergibt nicht viel Neues. Ich glaube kaum, daß ich damit die Polizei belästigen kann. Aber schweigen Sie darüber . . . in Ihrem Interesse. Die Telephondirektion kennt kein Nachsehen.« Damit gab er ihr die Hand und begleitete sie zur Türe.
Hempel wollte gerade telephonieren, als Kata in der Tür erschien:
»Schon wieder einer!« knurrte sie. »Soll auch kommen in schön geputzte Stube mit seine Schmutzschuhe?«
Hermann Hempel schob sie schmunzelnd beiseite und ging selbst an die Haustür. Der Mann, der dort stand, erklärte ihm, er sei von der Polizei geschickt worden.