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Ulrich kam langsam über den Kiesplatz.
Er sah sich gemächlich um, betrachtete das Haus, den Garten, die Blumenbeete. Dann hob er seinen Blick wieder zu den Fenstern des Hauses. Allmählich wandte er sich um, dem Park zu.
Wo der Weg rechts und links von alten Lebensbäumen flankiert wurde, stockte sein Fuß.
Vor ihm auf dem Gartenweg lag regungslos eine Frau. Er wußte sofort, wer es war.
Im Nu kniete er neben ihr:
»Mutter, aber Mutter? Was ist? Um Gottes willen, Mutter!«
Er wollte nach ihrem Puls tasten, da sah er Blut. War sie tot?
Hastig öffnete er das Kleid. Er sah Stichwunden . . .
Dann beugte er sich über sie. Er spürte, daß sie noch atmete!
Und im gleichen Augenblick schlug sie die Lider auf und sah ihn an.
Eine tödliche Blässe flog über ihre Züge, und sie verlor erneut die Besinnung.
Die Angst trieb ihn hoch. Er überlegte: einen Arzt – wo fände er schnell einen Arzt? Wenn nur Leute da wären, ein einziger Mensch . . . Er mußte sie allein lassen, mußte schnell ins Haus laufen . . .
Da rief ihn aus dem Schatten der Bäume ein Mann barsch an:
»Halt, hiergeblieben!«
Ulrich starrte erstaunt in ein fremdes Gesicht. Er hatte niemand kommen hören. Was wollte der?
»Halten Sie mich nicht auf! Sie sehen doch, daß hier ein Unglück geschehen ist und daß sofort ärztliche Hilfe herbeigerufen werden muß!«
»Jawohl, das werde ich auch veranlassen. Aber Sie kommen mit mir! Ich wünschte bei Gott, ich wäre eine Minute früher gekommen!«
Der Beamte packte ihn am Handgelenk.
Ulrich begriff nicht gleich, was der Beamte damit meinte; dann fuhr er ihn wütend an:
»Sind Sie verrückt? Glauben Sie etwa . . .«
»Ich glaube nicht, ich sehe!«
Der Beamte blickte auf Ulrichs blutbefleckte Hände.
Ulrichs Augen folgen seinen Blicken. Zuerst packte ihn die Wut; dann riß er sich zusammen. Auf ihn kam es jetzt am wenigsten an.
»Rasch jetzt!« sagte er. »Jede Minute Aufschub kann der Verletzten zur Lebensgefahr werden! Ich werde Ihnen im Gehen erklären, was ich sah.«
Der Beamte hielt Ulrichs Arm fest umklammert. Sie eilten dem Hause zu. Hastig versucht Ulrich dem Beamten alles zu erklären:
»Ich kam ganz zufällig des Weges und fand Frau Gottschalk bewußtlos auf dem Boden. Während einer Sekunde kam sie zur Besinnung. Sie erkannte mich. Ich bin ihr Sohn. Ulrich Gottschalk. Jetzt heiße ich Juan Andagola . . .«
»Das dachte ich mir«, sagte gleichmütig der Beamte.
»Wieso?«
»Ich bin Kriminalbeamter. Ich habe den Auftrag, Sie, Ulrich Gottschalk, der sich fälschlich Juan Andagola nennt, zu beobachten und sofort festzunehmen, wenn Sie sich Tannroda nähern sollten. Der Haftbefehl befindet sich in meiner Tasche.«
»Unerhört! Ich erklärte Ihnen bereits . . .«
»Das können Sie dem Untersuchungsrichter erklären, nicht mir«, sagte Hirschfelder.
Nachdem Frau Gottschalk in ihr Zimmer transportiert worden war, eilte Hirschfelder zusammen mit Ulrich nach Grainau hinunter, zu Doktor Thomaiers Wohnung. Zum Glück war der Arzt zu Hause. Hirschfelder teilte ihm kurz mit, was geschehen war.
Dann brachte der Beamte Ulrich zunächst einmal zum Bahnhof und fuhr mit ihm nach Graz. Er traute der Schweigsamkeit seines Gefangenen nicht recht und wollte ihn so schnell wie möglich in sicherem Gewahrsam wissen.
Ulrich ließ alles mit sich geschehen. Im Gefühl seiner Unschuld verschwendete er keinen unnützen Gedanken an sein eigenes Schicksal. Die Verhaftung kam ihm wie eine Komödie vor, die bald ihr Ende finden müßte.
All sein Sinnen und Fühlen kreiste um seine Mutter, die er eben erst wiedergefunden hatte und deren Leben vielleicht bedroht war. Jetzt durfte er sie nicht verlieren!
Hätte er nur eher gewagt, sie aufzusuchen, dachte er immer wieder.
*
Marbler hatte über eine halbe Stunde gebraucht, um den Wagen wieder instand zu setzen. Hempel fragte sich, ob es nicht bereits zu spät wäre. Er trieb den geplagten Chauffeur zu immer größerer Eile an. Kurz vor Grainau rasten sie an dem dort wartenden ›silbernen Auto‹ vorüber. Hempel wollte nicht anhalten.
Vor den Häusern von Grainau standen Gruppen von Menschen beieinander. Nun, das war ja öfters zur Zeit des Feierabends der Fall, tröstete sich Hempel, dem schon neue Bedenken und Sorgen aufkommen wollten.
Doch auch auf dem Kiesplatz vor dem Herrenhaus sah er aufgeregte Leute stehen. Seine schlimmen Ahnungen verstärkten sich.
War etwas geschehen? Kam er zu spät?
Das Auto fuhr vor dem Haupteingang vor. Hempel sprang heraus. Der alte Diener kam verstört auf ihn zu. Von ihm erfuhr Hempel, was geschehen war.
»Und die jungen Herrschaften sind nicht hier?« fragte Hempel.
»Nein«, sagte der Verwalter. »Frau Gottschalks erste Worte waren, daß man auf keinen Fall die jungen Herrschaften benachrichtigen dürfe.«
»Wieso? Waren sie denn nicht daheim, als der Überfall geschah?«
»Nein, heute ist doch die Verlobungsfeier von Fräulein Lilli von Landsberg und Herrn Ronny!«
»Das wußte ich nicht. Deshalb also war Frau Gottschalk allein im Hause?«
»Ja. Obwohl sie natürlich bei der Feier hätte dabei sein sollen, hatte sie doch abgesagt, denn sie fühlte sich in der letzten Zeit so schlecht.«
»Sie war doch hoffentlich nicht krank?«
»Nein, nur niedergeschlagen«, berichtete der Verwalter.
»Aber wie kam sie denn ausgerechnet in diesen Teil des Gartens, den sie gar nicht so besonders liebt, weil er etwas düster ist?«
»Das wissen wir auch nicht, Herr Hempel. Das Mädchen hatte ihr gegen Abend einen Brief gebracht, den ein kleiner Junge abgegeben hatte. Vielleicht hing es damit zusammen? Keiner im Haus wußte etwas davon. Alle dachten, die gnädige Frau sei noch in ihrem Arbeitszimmer.«
»Und vom Täter fehlt jede Spur?«
»Im Gegenteil, Herr Hempel, der wurde sofort von Herrn Hirschfelder am Tatort festgenommen.«
»Was?« rief Hermann Hempel. »Festgenommen? Wirklich verhaftet? Warum sagen Sie denn das nicht gleich?«
»Aber ich habe ihn ja selbst gesehen, Herr Hempel! Ein großgewachsener, gut aussehender Mann, der Frau Gottschalk glich.«
»Und wo ist Hirschfelder dann mit dem Verhafteten hingegangen?« wollte Hempel wissen.
»Er wollte ihn nach Graz bringen.«
Hempel sah höchst verärgert aus. Kein Zweifel, man hat den Verkehrten verhaftet! Und was schlimmer war: der wahre Mörder ist entkommen!
»Und der Verhaftete verhielt sich ruhig? Protestierte er denn nicht einmal?«
»Nicht in meiner Gegenwart. Er hatte eine eisige Miene aufgesetzt, wenn ich so sagen darf.«
»Und wann ging der letzte Zug nach Bruck?« erkundigte sich der Detektiv hastig.
»Um sechs Uhr.«
»Und wann geht der nächste Zug nach Graz?«
»In einer halben Stunde, Herr Hempel.«
»Personenzug oder Schnellzug?«
»Personenzug bis Bruck; ab Bruck geht ein Schnellzug.«
In diesem Augenblick kam Doktor Thomaier die Treppe hinunter. Hempel ging auf ihn zu.
»Wie geht es Frau Gottschalk? Sind die Verletzungen gefährlicher Art?«
»Nein, Herz und Lunge sind nicht verletzt. Das Messer muß abgeglitten sein. Ich bin jedenfalls überzeugt, daß keine Lebensgefahr besteht. Sie muß auf jeden Fall Ruhe halten, und ich werde morgen nach Graz telephonieren und eine Pflegerin bestellen.«
»Ist sie jetzt bei Besinnung?«
»Ja. Auffallend munter, wie ich schon sagte.«
Der rundliche Doktor Thomaier sah den Detektiv mit einer Miene an, als fände er es unverantwortlich, daß man nach einem Mordanschlag so munterer Laune wäre.
»Nun hören Sie mal, Herr Doktor«, rief Hempel eher heiter dem alten Hausarzt zu, »ich wüßte ein wunderbares Mittel, um Frau Gottschalk zu kurieren.«
Der Arzt sah ihn ungehalten an.
»Ich mein's im Ernst! Sagen Sie ihr einfach, daß ich hier war, aber leider wieder fort mußte. Ich käme aber wieder, und zwar mit ihrem Sohn Ulrich. Haben Sie gehört, Herr Doktor? Mit ihrem Sohn Ulrich. – Wollen Sie ihr das wörtlich so wiederholen?«
»Ja, aber . . . Wieso können Sie denn . . .«, aber Hempel war schon fort.
»Marbler, wir müssen nach Bruck, und zwar so schnell als möglich!« rief Hempel, als er schon im Wagen saß.
»Aber warum denn jetzt noch nach Bruck? Das halten Sie doch bestimmt nicht aus, Herr Hempel!«
»Ich halte es aus, mein Lieber, weil es sein muß. In Bruck hoffe ich den Mann festnehmen zu können, der Frau Gottschalk nach dem Leben getrachtet hat. Es ist dieser Franz Walter, dem wir schon dauernd auf den Fersen waren. Wie Sie wissen, hat er sein Gepäck im ›Bären‹ in Bruck, und da er es nie im Stich läßt, wird er es jetzt abholen wollen. Er weiß ja nicht, daß er so schnell gesucht wird. Wir müssen unbedingt vor ihm eintreffen. Es ist die letzte Möglichkeit, ihn zu packen. Jetzt wissen Sie, um was es geht!«
Marbler nickte. »Ja, Sie haben recht. Aber ich muß Benzin auffüllen . . .«
»Das dauert doch nicht lange, wie? Wann können wir abfahren?«
»In zwanzig Minuten, Herr Hempel.«
»Gut! Ich habe sowieso noch hier in der Nähe zu tun. Kann mir jemand ein Fahrrad leihen?«
»Sicher, Herr Hempel. Soll ich eins aus dem Schuppen holen?«
»Ja, ich komme gleich mit. Und dann fahre ich ein Stück voraus. Erinnern Sie sich der Stelle, wo wir das ›silberne Auto‹ sahen, als wir auf dem Herweg waren?«
»Ja, am Wäldchen, Herr Hempel.«
»Dort werde ich Sie erwarten, Marbler. So, und nun schnell!«