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Hermann Hempel wohnte nun schon seit einer Woche in Tannroda, ohne einen einzigen Schritt in dieser verworrenen Sache vorwärtsgekommen zu sein. Und dabei lag ihm die Lösung des Falles ganz besonders am Herzen.
Frau Gottschalk erschien ihm jedoch immer merkwürdiger. Die Verschlossenheit, die so bald einem scheinbaren Vertrauen wich, war im Laufe der Tage in eine Bedrücktheit übergegangen, die dem Detektiv völlig unerklärlich war. Mitten im Gespräch brach sie oft unvermittelt ab.
Ihr Leben schien so durchsichtig und klar vor aller Augen dazuliegen, daß Hempel nirgends einen Grund für ihren Kummer entdecken konnte. Sie selbst sprach auch offen und unbefangen über ihre Ansichten, Pläne und Geldverhältnisse. Und doch fühlte er, daß sie etwas verbarg, daß es einen Punkt in ihrem Leben gab, über den sie mit niemand sprach.
Auf den kleinen Spaziergängen, die sie täglich mit ihm in der nächsten Nähe des Hauses unternahm, sprach sie auffallend oft von den ersten Jahren ihrer Ehe, die sie in Wien verlebt hatte. Es war erstaunlich, wie sehr sie immer wieder betonte, daß sie damals glücklich gewesen sei – gerade als ob dann ein Unglück ihr Leben zerstört habe. Denn es konnte ja unmöglich nur jener Überfall sein, der sie bedrückte. Dazu war sie eine viel zu mutige und kluge Frau. Auch den Tod ihres Mannes, den sie verlor, als die Kinder noch klein waren, hatte sie längst überwunden.
Er hatte das Gefühl, sie habe in Wien ein bestimmtes Erlebnis gehabt, das noch heute einen Schatten auf ihr Leben warf.
Dieses Gefühl hatte seit einem Gespräch immer deutlichere Gestalt angenommen, das sie vor zwei Tagen auf einem der Spaziergänge geführt hatten.
»Ich war so viel glücklicher in Wien. Aber wir mußten ja nach Tannroda übersiedeln.« Den Ton, mit dem Frau Gottschalk dies sagte, hatte er immer noch in den Ohren.
»Warum mußten Sie denn von Wien fort?«
Widerstrebend gab sie zur Antwort:
»Wir mußten . . . das heißt, mein Mann . . . konnte nicht länger in Wien bleiben . . . Und nun lebe ich schon seit zwanzig Jahren hier.«
»Aber Sie sind doch sicher von Zeit zu Zeit zu kurzen Reisen nach Wien gefahren, da Sie es so lieben?«
»Nein! Ich liebe es nicht mehr! Ich hasse die Stadt so sehr, wie ich sie früher liebte.«
»Darf ich fragen, aus welchem Grunde?«
Aber Frau Gottschalk wich aus.
*
Seitdem sprach sie nie wieder von Wien. Hempels Gedanken kehrten jedoch immer wieder zu jenem kurz abgebrochenen Gespräch zurück. Er war so gut wie überzeugt, daß das, was Frau Gottschalk ihm verschwieg, wichtig für seine Arbeiten war, ja vielleicht den Schlüssel zu allem bildete.
Doch blieb ihm nichts übrig, als sich an die Tatsachen zu halten.
Zum Schein arbeitete Hempel also mehrere Stunden täglich in der Bibliothek und verbrachte die übrige Zeit des Tages, soweit er nicht mit Frau Gottschalk, Vera und Ronny zusammen war, mit ausgedehnten Spaziergängen. Überall schloß er Bekanntschaften und unterhielt sich mit den Leuten.
Nach dem Abendessen im Herrenhaus ging er meistens in das Dorf hinab, in das größte Gasthaus von Grainau. Bauern und Leute aus der Umgebung, ein paar Gendarmen, der Bezirksrichter und der Arzt Doktor Thomaier verkehrten dort ziemlich regelmäßig.
Auch die andern Grainauer Wirtschaften, die nur einen kleineren Ausschank haben, besuchte Hempel auf seinen Nachmittagsspaziergängen. Dort bestand die Kundschaft meistens aus Kleinbauern und Händlern. Bald kannte er fast alle Leute, die in und um Grainau und Tannroda wohnen.
Durch Frau Gottschalk hatte er auch die Familien der Nachbargüter kennengelernt. Da er in Tannroda als Familienmitglied behandelt wurde, hatte man ihn genau so freundlich aufgenommen wie den verstorbenen Kluge.
Doch leider waren alle Beobachtungen und Fragen bis jetzt ohne Erfolg. In der ›Blauen Traube‹ war seit Monaten kein Fremder abgestiegen. Auch auf dem Bahnhof Grainau hatte man in der letzten Zeit keinen Reisenden gesehen, der nicht allgemein bekannt gewesen wäre.
Grainau war für Fremde auch kein Reiseziel. Außer dem Herrschaftshaus gab es weit und breit nichts, was sehenswert gewesen wäre. Mit anderen Worten: ein recht unbedeutender Ort, der außer Langeweile und guter Landluft nichts zu bieten hatte.
Auch sah man nur wenig Autos. Die große Straße, die von Wien nach Süden führte, lag weiter östlich und ließ das kleine Grainau seitwärts liegen.
Diese Abgelegenheit gab Hempel den ersten Hinweis auf etwas Ungewöhnliches, von dem er natürlich noch nicht wußte, ob es mit dem Fall Kluge zusammenhing oder nicht.
Um so mehr war es dem Detektiv aufgefallen, daß in den ersten Tagen seines hiesigen Aufenthaltes in der ›Blauen Traube‹ noch oft von einem ›silbernen Auto‹ die Rede war, das am Abend des 29. März durch Grainau kam und sich einer Panne wegen sogar längere Zeit im Ort selbst aufhalten mußte.
Nun mag man ein Auto, und sei es auch ein »silbernes« – wie es die Dorfburschen bezeichnet hatten – trotzdem nicht als etwas Ungewöhnliches bezeichnen. Jedoch war Hempel durch sorgfältiges Befragen darauf gekommen, daß sich dieser Wagen ausgerechnet an jenem ereignisreichen Märzabend in Grainau aufgehalten hatte. Man erzählte ihm, daß dieser ausnehmend luxuriöse Wagen eine Panne gehabt habe. Daß dieses Ereignis überhaupt im Gedächtnis jener Leute geblieben war, die nach dem Abendessen an der Straße saßen, um mit den Nachbarn zu schwatzen, hatte seinen Grund darin, daß der Wagen durch seine elegante Karosserie und die roten Lederpolster aufgefallen war. Der junge Fahrradmechaniker, der am Ende des Dorfes eine kleine Reparaturwerkstätte betrieb, bezeichnete ihn als den teuersten und vornehmsten Wagen, den er je gesehen habe. Und der Fahrradmechaniker mußte es ja wissen; denn er war vom Fach und hielt sich auch eine Automobil-Zeitschrift.
Dieser Mechaniker gab Hempel auch den ersten Hinweis auf die Insassen.
Der Fahrer sei aber offenbar ein Ausländer gewesen, denn auf die ihm gestellten Fragen hätte er nur gebrochen geantwortet, seine Herrschaft käme aus Amerika und das Auto sei in Genua an Land gebracht worden. Die einzige Insassin des Wagens sei eine schöne Frau gewesen.
Wer die Dame gesehen hatte, behauptete, sie sei verschleiert gewesen. Bezüglich der Zeit wurde übereinstimmend angegeben, es sei abends etwa zehn Minuten vor neun gewesen, als das »silberne Auto« am Eingang von Grainau gehalten hätte, und daß kurz vor halb zehn die Panne behoben gewesen sei. Der Wagen sei sogleich weitergefahren.
Diese Zeitangabe, die genau mit der Zeit übereinstimmte, in der Kluge den Tod gefunden haben mußte, sowie der Umstand, daß die Amerikanerin und ihr Chauffeur die einzigen Fremden waren, die zu jener Tageszeit in Grainau bemerkt wurden, hatten Hempel aufmerksam gemacht.
Aber er verwarf den aufsteigenden Verdacht sofort. Es war undenkbar, daß hier ein Zusammenhang bestehen konnte. Die Dame hatte den Wagen ja nicht verlassen, und der Chauffeur beaufsichtigte die Reparatur.
*
Hempel hatte die Sache mit dem »silbernen Auto« fast vergessen, als bei einem Abendessen, zu dem die Familie von Landsberg eingeladen war, die Rede auf Automobile kam.
Landsbergs hatten sich nämlich einen neuen amerikanischen Wagen angeschafft, und Erich setzte den Anwesenden alle Vorteile des Modells auseinander.
»Welche Farbe hat er?« fragte Vera, die sich eher für das Äußere als für die technischen Einzelheiten interessierte.
»Dunkelgrün und sandfarben. Innen sandfarbenes Lederpolster. Sehr elegant. Und es fährt sich herrlich bequem darin! Frau Mangold hat den gleichen Wagen; sie hat mir sogar dazu geraten, den gleichen zu kaufen.«
Die Erwähnung Frau Mangolds, einer jungen Witwe, die seit einigen Wochen auf dem Gut ihres Vaters ganz in der Nähe der Landsbergschen Besitzung lebte, schien Vera etwas zu verärgern.
Sie verzog den Mund:
»Dunkelgrün mag ich nicht leiden, es sieht so düster aus. Und dazu noch ein sandfarbenes Lederpolster! Warum kaufst du dir denn nicht einen Wagen nach deinem eigenen Geschmack?«
»Es war das schönste Modell!«
»Vielleicht in Graz! Du hättest eben nach Wien fahren und dir ein neues Mercedes- oder Alfa-Romeo-Modell ansehen müssen. Etwas, was noch kein Mensch hier hat. So etwas wie das ›Silberne Auto‹, das neulich mal hier durchfuhr.«
»Ein ›silbernes Auto‹?« lachte Erich von Landsberg.
»Natürlich meine ich nicht echtes Silber. Aber es sah so aus, und nach der Beschreibung der Leute muß es sehr elegant gewesen sein.«
»Wovon sprecht ihr eigentlich, Kinder?« fragte Frau Gottschalk, die erst jetzt auf das Gespräch Veras mit dem jungen Landsberg aufmerksam geworden war.
Man beeilte sich nun allerseits, sie aufzuklären. Vera, die alles vom Gärtnerburschen gehört hatte, berichtete ihr von dem Wagen und der Schönheit der Amerikanerin.
»Wann soll denn das gewesen sein?« fragte sie etwas vorsichtig.
»Am 29. März abends«, erwiderte einer ihrer Gäste.
Frau Gottschalk wandte langsam den Kopf und warf Hempel einen fragenden Blick zu.
Inzwischen begann ein anderer Gast, der junge Rechtsanwalt Otto Sorel, von diesem Wagen zu erzählen.
»Es handelt sich bei diesem Wagen nicht um ein Phantasiegespinst, wie ich mich – leider – selbst überzeugen konnte. Er war wirklich hier, und er ist auch tatsächlich so elegant, wie er von allen beschrieben wird. Auch ich habe ihn aus allernächster Nähe betrachtet, denn ich wäre beinahe unter seine Räder gekommen!«
»Nicht möglich!« – »Wo denn?« fragte man jetzt allgemein durcheinander. Vera lachte:
»Ich wußte ja, daß ich recht hatte.«
»Ich bin ihm außerhalb des Ortes begegnet«, berichtete nun Sorel. »Und zwar wurde ich dabei Zeuge eines merkwürdigen Vorfalls. Wahrscheinlich nur ein . . . Liebesabenteuer.« Sorel errötete.
»Oh, das müssen Sie erzählen!« riefen die jüngeren Gäste.
»Ich besuchte an jenem Abend den Lehrer in Marnsfeld, mit dem ich befreundet bin. Den Rückweg machte ich zu Fuß. Sie kennen wohl alle die Stelle unterhalb des Parks von Tannroda, wo die Landstraße wegen eines vorspringenden Felsens eine scharfe Biegung macht?«
»Ja, natürlich«, rief Vera.
»Es war sehr dunkel an jenem Abend, die Stelle ist vollkommen einsam. Dort bemerkte ich einen Mann, der am Rande der Straße stand. Das kam mir um diese Zeit etwas merkwürdig vor, und ich machte mich darauf gefaßt, angerempelt zu werden. Ich hatte meinen Spazierstock bei mir und verließ mich auf diese Waffe. Ob der Mann mich bemerkt hat, weiß ich nicht. Jedenfalls wollte ich mich gerade zum Weitergehen anschicken, als mich plötzlich grelles Scheinwerferlicht blendete. Ein Auto das ›silberne Auto‹ –, sauste in schneller Fahrt auf mich zu.
Ohne die Gefahr völlig zu erfassen, warf ich mich auf die Seite und rollte gegen die Straßenböschung. Der Wagen bremste kreischend, und der Chauffeur schimpfte zum Fenster heraus – auf Englisch, wie mir erst hinterher auffiel –, und ich schrie ihn an. Ich wollte mir das Nummernschild notieren, da hörte ich, wie auf der andern Wagenseite die Tür zugeschlagen wurde. Im gleichen Augenblick fuhr der Wagen auch schon weiter, und im Nu hatte ihn die Dunkelheit verschluckt. Der Mann aber stand nicht mehr dort.
Erst später, als ich in Grainau hörte, daß eine sehr schöne Dame in dem Wagen gesessen habe, wurde mir alles klar. Es handelte sich offenbar um ein Liebespaar, das anscheinend zu Heimlichkeiten gezwungen war.
»Reizend!« riefen Vera und Lilli wie aus einem Munde.
Hempel vermutete sofort, daß es sich hier nicht um eine romantische Liebesgeschichte gehandelt habe, sondern daß der silberne Wagen vielleicht jenen Mann erwartet hatte, der Gottfried Kluge . . .
Sein Blick fiel auf Frau Gottschalk. Sie war etwas eingefallen und schien außer Fassung zu sein. Aber auch ihrem Sohn, der ihr gegenüber saß, fiel die Veränderung auf.
»Was ist, Mama? Ist dir nicht wohl?«
Sie riß sich zusammen und lächelte ihm zu.
»Laß nur, Ronny. Ich habe nur ein wenig Kopfschmerzen. Es vergeht schon wieder!«
Und mit einem liebenswürdigen Lächeln plauderte sie weiter, als wäre nichts geschehen.