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Der nächste Tag verging in aller Stille. Man spürte, daß Ronny und seine Freunde nicht im Haus waren.
Gegen drei Uhr erschien Doktor Sorel, der noch keine Zeit gefunden hatte, sein Motorrad abzuholen. Er machte natürlich auch einen kurzen Besuch und wurde – vor allem von Vera – freundlich begrüßt.
»Es ist nett von Ihnen, Herr Sorel«, sagte Frau Leonie, »daß Sie uns ein wenig Gesellschaft leisten wollen.« Sie hatte ein schlechtes Gewissen dem jungen Manne gegenüber, denn seit Gottfried Kluges Tod und den folgenden Geschehnissen hatte sie sich kaum um ihn bekümmert. Sie war froh, daß Vera an seinem Besuch etwas Freude hatte, und vor allem, daß er Veras Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Vera hatte sich nämlich in den letzten Tagen mehr als nötig um sie gesorgt, sie mehrfach forschend angesehen und einmal sogar ängstlich gefragt: »Fühlst du dich auch wirklich ganz wohl, Mama? Du bist so verändert, finde ich!«
Darum sagte Frau Gottschalk jetzt zu Herrn Sorel:
»Vera wird sich freuen, so unverhofft einen angenehmen Tennispartner gefunden zu haben!«
Vera war nämlich eine leidenschaftliche Tennisspielerin, genau wie ihre Freundin Lilli und deren Bruder Erich von Landsberg. Sooft die beiden herüberkamen, wurde stundenlang gespielt, und Vera hatte immer erklärt, über diesen Sport ginge ihr nichts.
Frau Gottschalk war deshalb überrascht, als Vera sagte:
»Ach nein, Mama, nur nicht immer Tennis spielen. Es ist auf die Dauer so eintönig. Herr Sorel hat mir versprochen, seine Violine mitzubringen, damit wir zusammen musizieren können. Sie haben es doch hoffentlich nicht vergessen?«
»Sie liegt draußen in der Halle«, antwortete der junge Mann.
»Fein, dann wollen wir gleich anfangen!« Ihrer Mutter aber erklärte sie: »Herr Sorel ist doch so musikalisch und spielt nicht nur Geige, sondern er hat auch eine wundervolle Stimme. Als du krank warst, haben wir, anstatt mit den andern Tennis zu spielen, lange musiziert.«
Der junge Sorel wurde etwas verlegen und versuchte, das Lob von sich abzuwenden, doch Frau Gottschalk blickte ihn zufrieden an und meinte:
»Da bin ich Ihnen aber sehr dankbar, daß Sie sich Veras etwas annehmen. Sie ist nämlich begabt, nur hat sie vor lauter Sportbegeisterung die Musik viel zu sehr vernachlässigt. In unserem Freundeskreis ist ja sonst auch niemand, der musiziert.«
»Oh, es macht mir Spaß, mit Ihrer Tochter zu musizieren. Musik ist mein halbes Leben, und meine Freizeit in Wien ist nur mit Musizieren ausgefüllt.«
»Kommen Sie, holen Sie die Geige!« drängte Vera.
Frau Gottschalk blickte den beiden befriedigt nach. Hoffentlich hielt diese Begeisterung bei ihrer Tochter auch noch an, wenn Herr Sorel wieder in Wien war.
*
Als Frau Gottschalk etwas später ihren gewohnten Spaziergang mit Hempel machte, näherte sich ihnen der Gärtner und fragte, ob vielleicht gestern im Hause eine Leiter gebraucht worden sei? Er habe sich bereits bei der Haushälterin erkundigt, aber niemand schien etwas davon zu wissen. Da es die beste Leiter sei, habe er sich geärgert. Vorhin jedoch habe man sie zufällig im Gebüsch auf der Rückseite des Hauses entdeckt. Er fände die Sache aber so eigentümlich, daß er sie doch gern melden wolle.
Frau Gottschalk kam die Anfrage sehr gelegen. Nun konnte sie wenigstens unauffällig die Sicherheitsmaßnahmen anordnen, die Hempel ihr vorgeschlagen hat.
»Nein, die Leiter hat bestimmt niemand von uns gebraucht. Sie wissen ja selbst, daß die Kinder fischen gingen. Außerdem hätten sie die Leiter nach Benutzung bestimmt wieder in den Schuppen zurückgetragen. Mir kommt das sehr verdächtig vor. Sollte es sich etwa um einen Dieb gehandelt haben?«
»Sicher«, erwiderte der Gärtner. »Wer sollte denn sonst nachts durch den Park gehen? Die Leute vom Ort, falls sie mal jemand hier in Tannroda besuchen, gehen immer durch die Kastanienallee zurück. Aus dem Park führt ja überhaupt kein Weg hinaus. Und vom Forsthaus war schon lange keiner hier, schon gar nicht mitten in der Nacht! Das muß bestimmt ein Dieb gewesen sein.«
»Ich glaube, wir sollten nachts den Geräteschuppen absperren und die beiden Hunde frei ums Haus herumlaufen lassen. Sorgen Sie bitte dafür, daß es regelmäßig geschieht!«
*
Vera unterhielt sich inzwischen angeregt mit dem jungen Sorel. Sie konnte gar nicht begreifen, daß sie sich bisher so wenig mit Musik befaßt hatte. »Allerdings war auch niemand da, der mit mir geübt hätte!«
Voller Eifer suchte sie im Notenschrank, riß die zu unterst liegenden Bände hervor, türmte alles vor Sorel auf: Mozart, Beethoven, Brahms, Bach, Schubert . . .
Sie seufzte und blickte ihn unglücklich an.
»Was für herrliche Sachen, und ich kann nichts, nichts . . .!«
Der junge Sorel lachte:
»Bei Ihrer Begabung dürften Sie überhaupt nicht seufzen! Üben Sie nur jeden Tag, und Sie werden sehen, wie schnell Ihnen alles vertraut wird. Freilich sollten Sie auch Musik hören. Gehen Sie nicht in Konzerte?«
»Wo denn? In Graz gibt's nicht oft Konzerte, und die Oper ist mehr als mäßig. Als Ronny ein paar Semester in Graz studierte, fuhren wir ja öfters hin, aber dann war es auch damit aus.«
»Schade, daß Sie nie nach Wien kommen! Wie würden Ihnen die großen Symphoniekonzerte gefallen! Wollen Sie nicht einmal mit Ihrer Mutter herüberkommen?«
»Das ist ausgeschlossen. Mama kann Wien nicht ausstehen. Sie sagt, die Großstadt ginge ihr auf die Nerven.«
»Wenn meine Mutter noch lebte, könnten Sie uns besuchen und bei uns wohnen. Aber leider ist meine Mutter schon seit vier Jahren tot.«
»Aber Ihr Vater lebt doch noch?«
»Ja, ich arbeite mit ihm zusammen. Ich bin Teilhaber in seiner Rechtsanwaltsfirma geworden. Aber mein Vater ist noch sehr rüstig und läßt mir viel freie Zeit, damit ich mich noch ein wenig umsehen könne, wie er immer sagt. So hat er mich im vorigen Frühjahr nach einer langen Grippe nach Griechenland fahren lassen. Das war ein zauberhafter Aufenthalt! Und jetzt bin ich ja auch wieder unterwegs und führe auf Heimdiel ein Faulenzerdasein!«
»Wie nett, daß er so viel Verständnis für Sie hat! Und wer sorgt zu Hause für Sie und Ihren Vater?«
»Daheim? Ach, da haben wir einen richtigen Junggesellenhaushalt. Mittags gehen wir ins Restaurant, und abends essen wir meistens zu Hause, allerlei Kaltes, oder wir lassen uns etwas kommen. Wir spielen auch Schach zusammen, oder es wird musiziert. Mein Vater hat alte Freunde, mit denen er Trio spielt, und wenn ich in Wien bin, haben wir natürlich ein Quartett zusammen; dann übernehme ich die Bratsche.«
»Beneidenswert«, meinte Vera.
»Wie man's nimmt«, lachte Sorel gutmütig. »Im übrigen sorgt ein alter Drachen für uns, der uns auf nützliche Art tyrannisiert.«
Vera mußte laut auflachen: »Das hört sich allerdings nicht gerade sehr gemütlich an!«
»Was wollen Sie? Es ist eben ein Junggesellendasein. Mein Vater wünscht sich schon lange eine Schwiegertochter, denn Gemütlichkeit und Behagen kann nur eine Frau schaffen . . .«
Vera schwieg etwas verlegen.
». . . aber die Richtige findet man eben nicht so leicht, und wenn man sie gefunden zu haben glaubt, weiß man noch lange nicht, ob sie einen nimmt«, beendete der junge Sorel seine Überlegungen.
Und damit griff er wieder nach der Geige. Vera setzte sich stumm hin und hörte ihm andächtig zu.
Mitten in das Andante hinein platzten mit ziemlichem Ungestüm die Geschwister Landsberg.
»Also tatsächlich! Wir wollten es Tante Leonie nicht glauben! Bei diesem herrlichen Wetter hast du den ganzen Nachmittag vor dem langweiligen Flügel verbracht, anstatt Tennis zu spielen!«
»Allerdings, und es war gar nicht langweilig!«
»Und so etwas lassen Sie zu, Herr Doktor? Nun aber Schluß, wir können gerade noch eine Partie spielen! Den ganzen Nachmittag haben wir uns auf dem elenden Tennisplatz bei Frau Mangold herumgequält!«
»Ihr hättet ruhig gleich dort bleiben können, denn wir brechen jetzt nicht ab, nicht wahr, Herr Sorel?« rief Vera,
»Und was sollen wir tun? Ronny ist auch nicht da . . .«
»Setzt euch in die Ecke und hört zu!«
»Na weißt du, das ist schon eine Art Zumutung! Bei solchem Wetter im Haus bleiben und klassische Musik anhören«, empörte sich Erich.
»Dann geh doch auf den Tennisplatz und spiele mit Lilli!«
»Ach, komm doch mit, Vera!« bat nun auch Lilli. »Ich habe mich so geärgert, daß Ronny ohne uns nach Mariazell gegangen ist. Wie gerne wären wir dabeigewesen!«
»Wie konnte er denn, wenn ihr euch zwei und noch mehr Tage überhaupt nicht sehen laßt, sondern immer bei Frau Mangold seid! Du weißt doch, daß Ronny Frau Mangold nicht leiden mag.«
»Wir können doch nicht unhöflich sein, wenn sie uns einlädt!« erklärte nun Lilli.
Erich war innerlich etwas aufgebracht. Er begriff gar nicht, warum Vera an diesem Doktor Sorel solchen Narren gefressen hatte.
»Komm, Lilli«, sagte er, »wir können auch zu Hause Tennis spielen!«
Und damit drehte er Vera den Rücken und lief ohne Abschiedsgruß aus dem Musikzimmer. Lilli umarmte Vera und flüsterte: »Du mußt entschuldigen, er ist in der letzten Zeit so nervös! Wann kommt Ronny wieder? Ruft mich gleich an, ja?«
Als die Geschwister fort waren, sahen sich Vera und der junge Sorel lächelnd an.