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Die Wohnung des Bibliothekars bestand aus drei Räumen, die altväterisch möbliert waren. Bronzen, Porzellan und Silber standen herum, die einen Dieb wohl hätten reizen können. Auch hatte im obersten Schubfach des Schreibtisches, wie Frau Gottschalk Hempel berichtete, eine größere Geldsumme gelegen, die nicht angetastet worden war. Alles deutete darauf, daß der Eindringling – falls er überhaupt hierher gelangt war – es nicht auf Wertsachen abgesehen hatte.
Die Fenster der drei Zimmer blickten seitlich in den großen Garten. Es war die Seite des Hauses, in der sich zwischen den beiden Ecktürmen neueren Datums der mittelalterliche Turm befand, der wie ein Burgfried wirkte. Er stieß unmittelbar an Kluges Wohnung und war über einen schmalen Korridor erreichbar, den Hempel jetzt mit Frau Gottschalk entlangschritt.
Der Raum, in dem das Archiv untergebracht war, hatte kleine Fenster. Der Detektiv öffnete eins und beugte sich hinaus. Er sah, daß der alte Turm mit Efeu überwuchert war, der sich in armdicken Ästen bis unters Dach hinaufzog. ›Eine Kleinigkeit, hier hinaufzuklimmen‹, dachte Hempel. Er sah sich, im Raum selbst um.
Die Decke wies prachtvoll erhaltene Fresken auf. Die Schränke waren in die Mauern eingelassen. Unter einem alten schmiedeeisernen Kronleuchter stand der Arbeitstisch.
»Hier starb er«, Frau Gottschalk deutete auf das Pult und den hochlehnigen Ledersessel.
»Wann fand man die Leiche?«
»Erst am nächsten Morgen. Onkel Gottfried hatte wie immer mit uns zu Abend gegessen. Wir hatten ein paar Nachbarn eingeladen, und er blieb noch etwa eine Stunde nach dem Essen bei uns. Um neun Uhr zog er sich wie gewöhnlich zurück. Als ihm Paul – das ist der weißhaarige Alte, den Sie gesehen haben – am nächsten Morgen das Frühstück bringen wollte, fand er sein Bett unberührt. Er rief mich, und zu zweit gingen wir ins Archiv hinüber. Hier fanden wir ihn. Er saß im Lehnstuhl. In der Hand hielt er den Revolver . . .«
»Und niemand im ganzen Haus hat Schüsse gehört?«
»Die Mauern des alten Turmes sind dick! In diesem Stockwerk wohnte Kluge übrigens allein. Außer seiner Wohnung und dem Archiv liegen hier nur die Gastzimmer.«
»Und die Angestellten?«
»Die wohnen teils in den Mansarden, teils im Erdgeschoß. Wegen des Besuchs war natürlich etwas mehr Leben im Haus.«
»Hatten Sie viele Gäste?«
»Nur Herrn und Frau Landsberg mit ihren Kindern Erich und Lilly, dazu eine andere befreundete Familie aus Grainau und den Arzt und dessen Frau.«
»Sieht ihr Diener abends nicht noch einmal nach Herrn Kluge?«
»Nein. Onkel Gottfried war so rüstig und selbständig, daß er abends nichts mehr brauchte.«
»Und morgens?«
»Das einzige Zugeständnis, das er machte, bestand darin, daß Paul ihm das Frühstück ans Bett bringen durfte. Dieses Laster, wie er es scherzend nannte, hatte er sich nach seiner letzten Grippe angewöhnt.«
»Der Diener ist natürlich vollkommen zuverlässig?«
»Ich denke schon. Paul ist seit vierzig Jahren in unserer Familie.«
Während Hempel diese Fragen stellte, betrachtete er den großen Arbeitstisch.
»Hat der Diener irgend etwas auf diesem Tisch angerührt?«
»Nein!« erwiderte Frau Gottschalk sehr bestimmt. »Ich selbst sorgte dafür, daß niemand das Archiv betrat und nichts angerührt wurde, bis die Polizei kam; ich war ja überzeugt, daß es sich um einen Mord handeln mußte. Die Schlüssel hatte ich selbst in Verwahrung genommen.«
»Und die Polizei? Nahmen sie etwas in die Hand?«
»Oh, Doktor Kandier hielt sich nicht lange hier auf. Für ihn stand es von vornherein fest, daß kein Verbrechen vorlag. Wozu sollte er also die Sachen hier untersuchen? Er ist ein vielbeschäftigter Herr und immer in Eile. Als er mit Doktor Thomaier, dem Bezirksarzt, in diesem Raum erschien, erklärte er sofort: ›Selbstmord aus Lebensüberdruß, wahrscheinlich in plötzlicher Sinnesverwirrung begangen‹, und der Arzt gab ihm recht. Mein Einwand wurde nicht ernst genommen. Ich wollte auch nicht allzu hartnäckig darauf beharren, sondern erst einmal alles in Ruhe überdenken und mich dann an Sie um Rat wenden.«
*
Als sie ins untere Stockwerk zurückkehrten, scholl ihnen unvermittelt Lachen und ein Durcheinander von jungen Stimmen entgegen.
»Aber Kinder, wie könnt ihr nur so laut sein«, tadelte sie.
Die beiden jungen Mädchen erröteten, die jungen Männer grüßten verlegen. Frau Gottschalk stellte Hempel zuerst ihre eigenen Kinder, die blonde Vera und deren Bruder Ronny vor, dann machte sie ihn auch mit Lilli und Erich von Landsberg, den Freunden ihrer Kinder, bekannt.
»Mein Sohn Ronny scheint noch immer in Feststimmung zu sein«, erklärte sie entschuldigend, »da er erst vor zwei Wochen als frischgebackener Doktor der Rechte heimkehrte.«
»Ja, deshalb sind wir auch hier, Frau Gottschalk, um zu fragen, wann wir das Examen feiern dürfen. Wir hatten gedacht, bei uns wäre es passender«, fügte der junge Landsberg hinzu.
Frau Gottschalk seufzte unmerklich, dann nickte sie.
»Wenn es wirklich nur im kleinsten Kreise ist, will ich es zulassen . . .«
Die jungen Leute verabschiedeten sich, und Vera und Ronny begleiteten sie bis vors Haus, wo Erichs kleiner Sportwagen bereit stand. Erich von Landsberg hatte Landwirtschaft studiert und war vor einem Jahre als Diplom-Landwirt auf das väterliche Gut zurückgekehrt. Sein Vater war leidend und deshalb froh, daß der Sohn ihm die Außenarbeit und die täglichen Inspektionsritte oder ‑fahrten abnehmen konnte.
Während Vera sich scherzend von Erich verabschiedete und die rotblonde Lilli über einem Abschiedswort Ronnys verlegen wurde, standen oben am Fenster des Arbeitszimmers Frau Gottschalk und Hempel und sahen auf die Abschiedsszene hinunter.
»Es ist ihnen nicht zu verdenken, daß sie das Fest zusammen feiern wollen«, sagt Frau Gottschalk. »Zwischen Ronny und Lilli bestand schon immer eine Zuneigung. Erich von Landsberg dagegen – ich weiß gar nicht mehr so recht, ob er zu meiner Vera paßt, obwohl seine Eltern eine solche Heirat sehr herbeiwünschen. Hoffentlich wird sich das alles zum Guten entwickeln!«