Annie Hruschka
Das silberne Auto
Annie Hruschka

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22

Vor dem Gasthof »Zum Bären« in Bruck hielt ein mit Staub bedecktes Auto an, dem man die lange Fahrt, die es von Wien her gemacht hatte, deutlich ansah.

Zufällig saß der Wirt draußen vor der Tür auf der Bank und plauderte mit dem Briefträger.

»Ich wüßte gern, ob gestern oder heute früh ein Herr im Sportanzug bei Ihnen abgestiegen ist, ein Herr mit blondem Spitzbart, ein Wiener . . .« fragte Hempel.

»Ja, der Herr wohnt bei uns. Er kam gestern nachmittag an. Wie heißt er doch gleich –«

»Tiller«, rief ihm die Wirtin von der Türe aus zu. »Friedrich Tiller, er hat das Zimmer 5!«

Hempel atmete erleichtert auf. Er war hinter Franz Walter her, dessen Spur er gestern wieder einmal, wie schon oft, verloren hatte.

»Ich möchte Herrn Tiller sprechen, ich bin ein alter Bekannter von ihm. Ist er zu Hause?«

»Nein. Am besten steigen Sie aus und warten hier auf ihn. Herr Tiller ist nämlich heute früh nach Graz gefahren und wird erst heute abend wiederkommen. Gestern fuhr er auch gleich nach seiner Ankunft für ein paar Stunden nach Graz.«

Hempel überlegte. Sollte er hier auf ihn warten? Wußte er denn, ob er je wiederkam? Graz war sicher eine Irreführung. Dort war er überhaupt nicht. Hätte er nach Graz gewollt, so hätte er nicht in Bruck auszusteigen brauchen. Nein, Walter hatte nur ein Ziel, und das hieß »Tannroda«!

»Hat Herr Tiller viel Gepäck bei sich?«

»Zwei Koffer. Sie stehen oben in seinem Zimmer.«

Hempel war etwas beruhigt. Die zwei Koffer würde Walter kaum im Stich lassen.

»Danke«, sagte Hempel und tat, als ob er überlege. »Eigentlich fahre ich doch lieber gleich nach Graz weiter.« Er nickte dem Wirt zu und gab dem Chauffeur einen Wink.

Marbler fuhr wieder an. Sobald der Wagen den »Bären« hinter sich gelassen hat, rief Hempel:

»Fahren Sie zur Polizei, Marbler!«

Dort eilte Hempel die Steintreppe hinauf und verlangte den diensttuenden Beamten zu sprechen. Er legitimierte sich und bat den Beamten, sofort zwei Polizisten in Zivil nach dem »Bären« zu schicken. Sie müßten Nr. 5 unter schärfste Aufsicht nehmen. Sollte sich der Mann, der sich als Friedrich Tiller aus Wien eingetragen hatte, wieder sehen lassen, so müßten sie ihn sofort und unter allen Umständen verhaften und hier hinter Schloß und Riegel setzen.

Die Wirtsleute dürften nicht ins Vertrauen gezogen werden. Es wäre ein gerissener Halunke, bei dem man sich auf alles gefaßt machen müsse.

»Und der Haftbefehl?« fragte der junge Beamte.

»Ich habe keinen, aber das tut nichts. Ich trage die Verantwortung. Mein Name ist Ihnen ja bekannt. Es liegt gegen den Mann genügend Material vor: zahlreiche Einbrüche, drei Morde und mindestens ein Dutzend Falschmeldungen. Das reicht wohl, oder? Guten Abend.«

In der nächsten Minute saß Hempel schon wieder im Wagen.

»Nach Tannroda, Marbler!«

Geduldig schaltete Marbler den nächsten Gang ein. Das Auto fegte mit achtzig Kilometer Geschwindigkeit dahin.

Hempel lehnte sich zurück. Er schloß die Augen.

Noch nie hat ihm einer so viel zu schaffen gemacht wie dieser Franz Walter, dessen Lebenslauf ihm nach der Unterredung mit Alma Lobing klar vor Augen lag, und dessen Absichten und Pläne sich ebenso klar daraus ergaben. In dem Fall Gottschalk gab es für ihn keine Rätsel mehr.

Seitdem hatte sich Hempel keine Ruhe gegönnt. Trotzdem vermochte er Walter bisher nicht zu fassen. Immer, wenn er ihn beinahe gepackt hatte, war er ihm wieder entwischt.

Während das Auto über die Landstraße flog, zogen ihm noch einmal alle Ereignisse der letzten Woche durch den Kopf.

Nach dem Brief der Frau Waser war er sogleich zu Frau Alma Lobing ins Liebhartstal gefahren.

Frau Lobing war eine ältere, schwer leidende Frau, die Kummer und Mittellosigkeit völlig aufgerieben hatten. Hempel hatte sofort den Eindruck, daß er tatsächlich Franz Walters ältester Schwester gegenübersitze.

Frau Lobing war in ihrer hoffnungslosen Lage so erbittert über ihren Bruder, daß sie alles erzählte, was Hempel wissen wollte. Sie schüttete ihm ihr Herz aus – und gab ihm so den lange vergeblich gesuchten Faden zur Lösung des Rätsels.

*

Er hatte auch durch die Vermittlung eines Verwandten von Frau Lobing, mit dem Walter noch verkehrte, dessen neue Adresse erhalten. So verabschiedete sich Hempel von Frau Lobing und fuhr sofort in die Märzstraße zu Frau Kurzreiter.

Diese stellte ihrem Mieter, Herrn »Bernstein«, ein sehr gutes Zeugnis aus. Leider sei er heute früh ausgezogen, da er ein Telegramm erhalten habe, das ihn sofort nach Klagenfurt gerufen hätte. Sie habe einen pünktlich zahlenden, ruhigen Mieter an ihm verloren, der zudem selten daheim gewesen sei.

Das Telegramm habe sie gesehen, da sie es ihm selbst überbracht hatte. Leider hatte sie den Aufgabestempel nicht gelesen. Als er abgereist sei, hätte er einen Sportanzug und eine Lederjacke getragen.

Hermann Hempel war wütend. Immer kam er zu spät.

Aber die beiden großen Koffer! Hatte er sie mitgenommen? Wußte Frau Kurzreiter, wer sie fortgeschafft habe?

Die habe Herr Bernstein mitgenommen, als er im Taxi an die Bahn gefahren sei. An den Südbahnhof.

*

Nach vielem Fragen und Hin und Her stellte Hempel auf dem Südbahnhof fest, daß dort kein großes Gepäck von der beschriebenen Art aufgegeben worden sei. Ein Dienstmann konnte ihm jedoch sagen, daß er in der Ankunftshalle von einem Herrn herbeigerufen worden sei, der neben zwei solchen Koffern gestanden und ihn beauftragt habe, das Gepäck an ein Taxi zu schaffen.

Selbst dieses Taxi ließ sich ermitteln. Der Chauffeur erklärte, er habe das Gepäck mitsamt dem Herrn in den zweiten Bezirk gefahren, wo er vor einem kleinen Gasthof gehalten habe. Dort sei der Herr abgestiegen. Der Gasthof hieß »Zum Storchen«.

Hempel ließ sich von einem andern Taxi dorthin bringen und stieg im gleichen Hotel ab. Franz Walter-Bernstein hatte sich dort als Walter eingetragen, hätte sich aber seit seiner Ankunft nicht mehr blicken lassen. Vielleicht besaß er noch einen anderen Unterschlupf, vielleicht war er auch heimlich nach Tannroda gefahren. Dieser Gedanke beunruhigte Hempel am meisten. Das Personal hatte ihn jedenfalls kaum zu Gesicht bekommen und konnte so auch keine Beschreibung liefern. Nachdem er die beiden Koffer in sein Zimmer hatte stellen lassen, war er sofort wieder aufgebrochen.

Hermann Hempel hatte sich die Koffer genau betrachtet und an der Unterseite mit einem Zeichen versehen, um sie jederzeit unter andern herausfinden zu können, was sich in der Folge als sehr nützlich erweisen sollte. Mehrmals in den nächsten Tagen waren es die beiden Koffer, die ihn immer wieder auf die verlorene Spur brachten.

In der dritten Nacht war Walter endlich in dem Gasthof erschienen, um sein Zimmer zu beziehen. Hempel hatte ihn kommen sehen und hatte ihn beobachtet, wie er die Türe aufschloß.

Es war schon gegen elf Uhr gewesen, und auf dem Flur brannte nur die Nachtbeleuchtung. Walter hatte einen Reisemantel an und trug einen Hut.

Dummerweise hatte es in dieser Nacht in dem kleinen Gasthof einen unvorhergesehenen Auftritt gegeben. Ein Gast, der das Zimmer neben Walter bewohnt hatte, war nach Mitternacht sinnlos betrunken heimgekehrt und hatte Sturm geläutet. Dann war er mit dem Nachtportier in Streit geraten, der zu Tätlichkeiten ausgeartet war. Schließlich hatte sich der Portier nicht anders zu helfen gewußt, als den Betrunkenen hinauszuwerfen.

Der betrunkene Gast hatte immer wieder versucht, in das Hotel einzudringen, und geschrien, er werde die Polizei holen.

Der Besitzer hatte aber inzwischen schon selbst der Polizei angerufen. Noch ehe sie erschienen war, hatte Walter bereits einen Kellner, der halb verschlafen erschienen war, gegen ein gutes Trinkgeld überredet, seine Koffer die Hintertreppe hinunterzuschaffen und ihm ein Taxi zu besorgen. Er müsse mit dem Morgenzug verreisen und könne sich nicht durch lange Zeugenvernehmung durch die Polizei aufhalten lassen. Das Zimmer sei bereits bezahlt.

Hempel hatte von seinem Zimmer aus diese Verhandlungen mitangehört und wußte natürlich, daß Walter nur die Polizei fürchtete.

Daher war Hempel nichts anderes übriggeblieben, als Walter über die Hintertreppe zu folgen.

Franz Walter hatte ihn sofort bemerkt und ihn kritisch gemustert, während er auf das Taxi wartete.

Es war zwei Uhr nachts und die Gasse vollkommen menschenleer. Hempel hatte nur die Handtasche bei sich und wollte schnell an ihm vorbei, als Walter auf ihn zutrat:

»Was wollen Sie? Waren Sie nicht eben im Gasthof?«

»Warum denn nicht? Sie haben mich selbst auf diesen guten Gedanken gebracht: ich habe auch keine Lust, mich von der Polizei vernehmen zu lassen«, sagte Hempel.

»Sie haben mich belauscht?«

»Ist mir nicht im Traum eingefallen! Wenn Sie direkt vor meiner Zimmertür sprechen . . .«

»Entschuldigung!«

Franz Walter war zurückgetreten, und im gleichen Augenblick war der Kellner mit einem Taxi da. Die Koffer wurden verstaut, und Walter war eingestiegen. Hempel hatte sich nur die Nummer des Taxis notieren können.

Es war ihm aber doch bewußt geworden, daß er nun den Verdacht des andern geweckt hatte.

Von da an hatte die Jagd erst richtig begonnen.

Wieder hatte er einen ganzen Tag gebraucht, um die Spur Walters zu finden. Er hatte sofort gemerkt, daß dieser nun doppelt schlau, mißtrauisch und vorsichtig geworden war.

Noch dreimal hatte er seine Spur verloren, zuletzt gestern in Baden bei Wien, wo Walter ebenfalls ein Absteigequartier besaß. Hempel hatte schon die dortige Polizei verständigt, um ihn mit deren Hilfe festzunehmen – doch da war Herr Franz Walter bereits wieder »auf Reisen«, wie die Zimmerwirtin erklärte.

Die beiden Koffer hatte er durch die Vermieterin zur Bahn schaffen lassen. Zur Zeit, als Hempel mit der Polizei verhandelte, reiste er bereits nach Wiener-Neustadt zurück. Dort nahm er sich ein Auto – und verschwand, unbekannt wohin.

Hempel hat sich während der letzten zwei Tage für seine Verbrecherjagd des Gottschalkschen Wagens bedient, den ihm Frau Leonie zur Verfügung gestellt hatte. Nun beschloß er, aufs Geratewohl weiterzufahren, am besten gleich nach Tannroda, denn er war überzeugt, daß Walter das gleiche Ziel habe.

Es hatte also Aussicht bestanden, ihn in Bruck zu treffen.

Hempel und Marbler hatten sich aufs neue an die Verfolgung gemacht.

*

Im »Bären« hatte er nun wenigstens teilweise Erfolg – das Weitere blieb abzuwarten. Die zwei Beamten waren dort stationiert und er, Hempel, mußte so schnell wie möglich . . .

Aber warum hielt denn Marbler so lange?

 


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