Annie Hruschka
Das silberne Auto
Annie Hruschka

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2

Frau Gottschalk empfing den Privatdetektiv in ihrem Büro, einem Turmzimmer, das behaglich eingerichtet war und in dem nur der Schreibtisch darauf hindeutete, daß hier die Fäden der Verwaltung eines großen Besitzes zusammenliefen. Sonst standen bequeme Sessel herum, an den Wänden hingen Aquarelle in freundlich-hellen Farben, und die zum Nebenzimmer offenstehende Tür zeigte einen großen Flügel.

Frau Gottschalk war eine verschlossen wirkende Dame von etwa fünfzig Jahren, die Hempel liebenswürdig entgegentrat und sich bei ihm ob des ungastlichen Empfanges entschuldigte.

»Ich brauche Ihren Rat und Ihre Hilfe in einer Angelegenheit, die mich bedrückt«, begann sie ohne Umschweife. »Es darf niemand, weder im Dorf noch hier im Hause, ahnen, warum Sie eigentlich nach Tannroda kamen. Ich habe mir daher gleich von vornherein erlaubt, Sie – da unser Bibliothekar kürzlich starb –, als dessen Nachfolger auszugeben.«

Hempel sah sie nur an und ließ sie reden. Als er seine Schuhe betrachtete, bemerkte er, daß der Strumpf an der linken Ferse ein großes Loch hatte. In der Eile hatte er wohl gestern abend die alten Socken angezogen. Er zog den Fuß unter den Sessel. Frau Gottschalk sagte gerade:

» . . . Vielleicht täusche ich mich ja, vielleicht beruht alles auf falschen Vermutungen . . .«

»Um was für Vermutungen handelt es sich?« fragte nun Hempel.

»Um den Tod unseres alten Bibliothekars Gottfried Kluge. Er wurde vor acht Tagen im Archiv aufgefunden, erschossen. Man nahm Selbstmord an, auch die Polizei. Doch ehe ich mich dieser Ansicht anschließe . . . Nein, es muß ein Mord vorliegen!«

Hempel gähnte mit Anstand. »Mord! Aber gnädige Frau! Sprechen wir nicht gleich von Mord!«

»Ich kannte Kluge gut genug. Er hätte nie Hand an sich gelegt. Er war ein ruhiger, beherrschter Mensch. Was sollte er auch schon für Gründe haben. Man bringt sich doch nicht mit siebzig Jahren um, wenn man keine Ursache dazu hat.«

»Das allerdings nicht. Aber war Herr Kluge nicht so ein wenig eigen . . . Ich meine so ein wenig . . .« Hempel deutete an die Stirne.

»Nein, nein! Trotz seines Alters war er von erstaunlicher Frische. Unser Hausarzt, Dr. Thomaier, hatte ihn ja noch kürzlich untersucht.«

»Und was nahm die Polizei als Ursache an?«

»Ach, die Polizei! Einfach Selbstmord. Die Gründe dafür sind für diese Leute ja uninteressant. Aber das ist lächerlich. Denn ich habe darüber nachgedacht. Er fühlte sich gewiß nicht einsam, obwohl er Frau und Sohn bei einem Auto-Unfall an einem einzigen Tage verloren hat. Doch das war vor fünf Jahren; aber er hat ja uns! Seit vielen Jahren ist er mit unsrer Familie verwachsen. Für uns war er der ›Onkel Gottfried‹, zu dem alle kamen, weil er immer Rat wußte. Er war auch in meine Geldangelegenheiten eingeweiht und beriet mich.«

»Er wohnte also schon lange in diesem Haus?«

»Lange? Schon als ich zur Welt kam, war er als junger Mann bei meinem Vater als Sekretär angestellt. Nach dessen Tod wurde er meines Mannes Berater und Bibliothekar . . .«

»Haben Sie denn das der Polizei nicht berichtet? Sie haben doch sicher Ihre Zweifel an einem Selbstmord betont?«

»Natürlich, aber man zuckte nur die Achseln. Es war ja alles so ›eindeutig‹.«

»Was heißt eindeutig?« brummte nun Hempel.

»Einmal starb Onkel Gottfried im Archiv, zu dem kein Fremder Zutritt hat. Dann fanden sich weder im Archiv noch außerhalb des Hauses Spuren, die auf die Anwesenheit einer fremden Person schließen lassen. Und endlich ist der Zugang zum Archiv nur durch Onkel Gottfrieds Privatwohnung möglich, durch einen Korridor, der an jenem Abend abgesperrt war, und zu dem nur er und ich den Schlüssel haben. Das Archiv liegt zudem ziemlich abseits im alten Turm, da wir dort ja nur die Akten und Familienpapiere aufbewahren. Nicht das geringste fehlte. Und wer hätte denn schon einen Grund, den alten Mann umzubringen? Kluge war beliebt und hatte keine Feinde. Er stand auch niemand im Wege. So kam die Polizei eben zum Schluß, es könne nur Selbstmord vorliegen.«

Hempel zog etwas an dem linken Hosenbein, denn seine blanke Ferse, die über dem Rand des Schuhes glänzte, genierte ihn.

»Und trotzdem ist es ein Trugschluß!« fuhr Frau Gottschalk fort. »Ich weiß, daß Sie im Verlauf Ihrer Nachforschungen sich meiner Ansicht anschließen werden!«

»Dann haben Sie wohl jetzt schon Gründe dafür. Gründe, die Sie den Behörden nicht mitteilen wollten? Hegen Sie einen Verdacht, und ist es Ihnen unangenehm, diesen Verdacht zu äußern?«

»Nein, nein«, wehrte Frau Gottschalk ab. »Ich habe nichts zu verheimlichen!«

Hempel betrachtete die Frau.

»Aber dann begreife ich wirklich nicht . . .«

Plötzlich schien sich Frau Gottschalk eines Besseren zu besinnen und erklärte etwas verlegen:

»Ich muß Ihnen noch etwas gestehen, was mich in Ihren Augen vielleicht lächerlich macht und bei Ihnen den Eindruck erwecken könnte, ich sei etwas überspannt.«

»O bitte . . . wenn wir zu einem klaren Ergebnis kommen wollen, müssen Sie volles Vertrauen zu mir haben. Auch der kleinste Hinweis ist wichtig.«

»Ich glaube«, sagte sie hastig, »daß man drei Tage vor Gottfried Kluges Tod auch auf mich einen Mordversuch unternommen hat.«

»Über den Sie der Polizei nichts mitteilten?«

»Nein. Das Verhalten der Polizei war so selbstsicher, daß ich lieber schwieg, anstatt mich mit Behauptungen, die ich nicht beweisen konnte, lächerlich zu machen.«

»Wollen Sie mir bitte den Sachverhalt schildern?«

»Ich hatte das Gefühl, daß man auf mich geschossen hat, als ich in die Försterei gehen wollte. Die Förstersfrau ist seit einiger Zeit krank, und ich besuchte sie zwei- bis dreimal wöchentlich, meistens am frühen Nachmittag. An jenem Tage wurde ich durch überraschenden Besuch aufgehalten und verließ Tannroda erst etwa gegen fünf Uhr. So geriet ich auf dem Rückweg bereits in die Dämmerung, was mir aber nichts ausmachte, da ich den Weg auch in dunkler Nacht finden würde. Ich bin auch nicht ängstlich und weiß, daß wir hier vollkommen sicher sind.«

»Das kann man nie wissen!«

»O doch! Die Einheimischen kennen mich ja von klein auf. Ich schritt also ganz sorglos auf dem Waldweg dahin, näherte mich bereits dem Ende des Waldes und war gerade in einer kleinen Tannenschonung angelangt, als plötzlich unmittelbar hintereinander zwei Schüsse krachten.«

»Sind Sie denn sicher, daß die Schüsse Ihnen galten? Vielleicht handelte es sich um einen ungeschickten Jäger oder einen Wilddieb?«

»Ausgeschlossen. Erstens gehört der Wald zum Tannrodaer Jagdrevier, und wir geben keine Jagdkarten aus. Zweitens erkannte ich am Klang sofort, daß die Schüsse nicht aus einem Gewehr, sondern aus einer Pistole abgegeben worden waren.«

»Das können Sie unterscheiden?«

»Natürlich! Ich bin doch oft auf die Jagd gegangen. Es wäre überhaupt zum Jagen viel zu dunkel gewesen. Auch haben Fremde dort nichts zu suchen. Sie kommen auch nicht dorthin, denn dazu müßten sie ja erst am Herrenhaus vorüber und durch den Garten auf den Hof gehen! Die Schüsse können also nur mir gegolten haben. Man hat mir einfach aufgelauert!«

»Kann es ein rachsüchtiger Angestellter gewesen sein?«

»Nein, unsere Angestellten waren immer gern bei uns, und auch die Gutsarbeiter, die auf den nahegelegenen Dörfern wohnen, sind wie gute alte Bekannte, die sich regelmäßig wieder blicken lassen und von deren Familien mir berichtet wird.«

»Haben Sie keine Spur von dem Schützen gesehen?«

»Nein. Ich hörte weiter kein Geräusch.«

»Und was taten Sie?«

»Ich rannte sofort hinter einen Baum und schlich dann schnell von Baum zu Baum bis an den Ausgang des Waldes. Dort beginnt eine Hecke, die bis zum Park führt. Ich benutzte sie als Deckung, obwohl es inzwischen völlig finster geworden war und ich nichts mehr zu befürchten hatte. Ich war doch etwas erschrocken und ängstlich.«

»Haben Sie sofort das Dickicht mit Hunden durchsuchen lassen?«

»Nein . . . Ich wollte nicht, daß meine Kinder etwas von der Sache erführen. Ronny und Vera hätten sich zu Tode geängstigt.«

»Ich fürchte, daß es ein Fehler war, diesen Vorfall gänzlich zu verschweigen!«

»Ich habe ihn ja gar nicht gänzlich verschwiegen. Ich ging zu Onkel Gottfried und erzählte es ihm. Er war bestürzt, denn er konnte sich die Sache ebensowenig erklären wie ich. Am nächsten Morgen gingen wir mit den Hunden in das Dickicht und durchsuchten es nach Spuren, konnten aber nichts entdecken. Wie hätte ich damals ahnen können, daß dies erst der Anfang war, der so bald darauf einen grauenhaften Abschluß finden sollte!«

Frau Gottschalk spielte nervös mit ihrem Ring.

»Sie glauben doch auch, daß zwischen den beiden Ereignissen ein Zusammenhang besteht?«

Hempel ließ die Hand auf die Sessellehne sinken. »Zusammenhang? Wie Sie meinen. Es hängt ja ohnehin alles mit allem zusammen. Es fragt sich nur wie. Ich habe bis jetzt keinen Grund, Schlüsse zu ziehen oder etwas anderes anzunehmen als die Polizei. – Aber vielleicht zeigen Sie mir einmal die Wohnung Ihres verstorbenen Bibliothekars und sein Arbeitszimmer.«

 


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