Annie Hruschka
Das silberne Auto
Annie Hruschka

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5

Als Hempel am nächsten Morgen nach dem Frühstück Frau Gottschalks Arbeitszimmer betrat, sah sie es seiner Miene sofort an, weshalb er gekommen war.

»Wollen wir uns nicht etwas auf die Terrasse draußen setzen?« fragte sie, als hoffte sie dadurch, etwas Zeit zum Überlegen zu gewinnen.

Sobald sie sich in die bequemen Korbstühle gesetzt hatten, begann der Detektiv – ohne dem prächtigen Frühlingsmorgen auch nur den leisesten Blick zu schenken – mit seinen Fragen.

»Warum sind Sie gestern abend so erschrocken?«

»Ich? Ich war überhaupt nicht erschrocken, sondern . . .«

»Aber verehrte Frau Gottschalk, Sie hoffen doch nicht, daß ich Ihnen das Kopfweh glaube. Sie sind heftig erschrocken!«

»Nun ja, Sie waren es ja auch, als Doktor Sorel von jenem Mann erzählte, der auf den Wagen wartete.«

»Natürlich«, erwiderte Hempel. »Aber aus andern Gründen als Sie. Ich habe wohl bemerkt, daß Sie schon erschraken, bevor Dr. Sorel nur mit seiner Geschichte begonnen hatte.«

Frau Gottschalk sah in den Park hinaus und gab sich den Anschein, als hätte sie die Frage nicht gehört, die Hempels Bemerkung enthielt. Aber Hempel gab nicht nach.

»Dann will ich es Ihnen sagen«, fuhr er fort.

»Was meinen Sie damit?«

»Sie wissen es selbst. Sie sind schon erschrocken, als Sie hörten, die Besitzerin des silbernen Autos stamme aus Amerika; und Sie sind blaß geworden, als auch noch ein Mann erwähnt wurde, der offenbar zu dem gleichen Auto gehörte. Warum?«

Frau Gottschalk zuckte zusammen, schwieg aber noch immer. Ihre Augen wanderten nur unruhig dem breiten Zufahrtsweg entlang. Schließlich sagte sie:

»Sie täuschen sich, Herr Hempel. Es war wirklich weiter nichts als ein plötzlicher Schmerz im Kopf.«

»Sie wollen also nicht offen sein?«

»Ich habe Ihnen doch alles gesagt?«

Hempel war verstimmt. Es schien ihm unbegreiflich, weshalb die sonst so gescheite Frau ihm etwas verschwieg. Wie konnte er ein Verbrechen aufdecken, wenn sie von Dingen wußte, die zur Aufklärung führen konnten?

*

Noch am gleichen Tag begab sich Hempel zu Doktor Sorel nach Heimdiel.

Um seine ausgedehnten Spaziergänge in der Umgebung etwas zu bemänteln, hatte er von Anfang an ein großes Interesse für Botanik bekundet. Er kam nie ohne eine oder zwei für die hiesige Vegetation typische Pflanzen zurück und erkundigte sich oft nach ihm unbekannten Namen. Auch Doktor Sorel schien in der Botanik recht bewandert zu sein, und die beiden Herren hatten sich schon mehrfach darüber unterhalten. Erst gestern abend, bevor das Gespräch auf das ›silberne Auto‹ gekommen war, hatte Doktor Sorel Hempel auf eine seltene Waldrebe aufmerksam gemacht, die hier vorkäme.

Hempel nahm dies als Vorwand für seinen heutigen Besuch. Er erkundigte sich genauer nach dem Standort, und Doktor Sorel erklärte sich sogleich bereit, den »Bibliothekar« hinzuführen.

Unterwegs brachte Hempel die Rede auf das ›silberne Auto‹. Er bezeugte seine Entrüstung über den leichtsinnigen Chauffeur und fragte natürlich, ob sich Doktor Sorel denn die Autonummer noch habe merken können.

»Nein, das war mir nicht mehr möglich. Ich hatte ja alles andere erwartet, als daß dieser Mann, der am Straßenrand gestanden hatte, plötzlich im Auto Platz nehmen und davonfahren würde.«

»Und der Mann, wie sah denn der aus?«

»Durchaus nicht wie ein Landstreicher«, lachte Doktor Sorel. »Das ist aber alles, was ich darüber weiß. Denn zuerst blieb er solange im Dunkel des Waldrandes, daß ich ihn überhaupt nicht genau erkennen konnte, und dann, nach dem Schreck des Beinahe-Überfahrenwerdens –, sah ich nur flüchtig, wie eine schlanke Gestalt einstieg.«

»Schade! Es wäre interessant gewesen, zu erfahren, ob es jemand von hier gewesen ist.«

»Das glaube ich keinesfalls. Ich kenne die Leute, die hier wohnen, denn ich bin sehr oft in Heimdiel und auf den umliegenden Besitzungen.«

»Aber er machte also nicht den Eindruck, ein Strolch zu sein?«

»Durchaus nicht. Er verhielt sich ganz so, als führe er nichts Böses im Schilde, sondern als sei es die natürlichste Sache von der Welt, wenn an dieser verlassenen Ecke ein Auto vorfährt, um ihn mitzunehmen.«

»Das ist immerhin etwas«, dachte Hempel und lenkte das Gespräch auf andere Dinge.

Auf dem Rückweg blieb Doktor Sorel plötzlich stehen:

»Wissen Sie, Herr Hempel, daß ich seit gestern abend mit dem Entschluß ringe, Ihnen eine Bitte vorzutragen?«

Hempel lächelte: »Ist dazu ein so großer Entschluß nötig? Ich will gerne alles tun, was in meinen Kräften liegt.«

»Ich muß Sie aber ins Vertrauen ziehen und hoffe, daß dies Ihnen nicht peinlich ist. Da Sie nun gewissermaßen auch zur Familie Gottschalk gehören . . .«

»Machen Sie doch keine Umschweife, lieber Doktor.«

»Es handelt sich um Vera Gottschalk. Ich liebe sie schon seit einiger Zeit und bemühe mich auch um sie, aber ich glaube, es ist ihr überhaupt nicht aufgefallen. Ich bin still und etwas schwerfällig und weiß nicht, wie ich mich dem jungen Mädchen erklären soll, zumal auch Erich von Landsberg ihr zugetan ist. An der Art, wie sie täglich beisammen sind, merke ich nur, daß ich etwas ins Hintertreffen gerate, weil ich ja nicht ständig in ihrer Nähe sein kann. Überdies scheinen die Eltern Landsberg und auch Frau Gottschalk die gleichen Pläne zu haben?«

»Das ist wohl möglich, lieber Doktor Sorel, Frau Gottschalk deutete mir gegenüber bereits etwas Derartiges an.«

»Ich ahnte es. Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf. Frau Gottschalk wird ihre Tochter kaum in ihrer Wahl beeinflussen wollen. Sie wird abwarten und Vera entscheiden lassen. Einstweilen, so scheint mir, haben Erich von Landsberg und ich die gleichen Aussichten, es sei denn . . .«

»Er käme Ihnen zuvor? Ja, aber was soll ich denn dabei tun, lieber Doktor? Zum Brautwerber bin ich als Junggeselle gänzlich ungeeignet.«

Doktor Sorel lachte: »Nein, das will ich Ihnen nicht zumuten. Aber Sie gehören zur Familie, Sie kennen Vera, sehen sie täglich, beobachten sie . . . Sie sind unbefangen und können mir dann einen Wink geben, der . . .«

» . . . der Sie ermutigen oder Sie veranlassen soll, sich zurückzuziehen, nicht wahr? Nun, dabei will ich Ihnen gerne behilflich sein, falls es dann nicht bereits zu spät ist.«

»Wenn Sie nur daran denken, wäre ich Ihnen schon dankbar. – Und nun noch etwas anderes, das im nächsten Zusammenhang damit steht. Doch diese Frage möchte ich nur unter dem Siegel größter Verschwiegenheit an Sie stellen. Aus persönlichen Gründen interessiert sie mich sehr. Ich darf wohl aus der Raschheit, mit der Frau Gottschalk Sie als Nachfolger des verehrten Onkels Gottfried kommen ließ, darauf schließen, daß Sie bereits vorher mit ihr befreundet waren und über Familienverhältnisse im Bilde sind, von denen hier niemand etwas weiß.«

Hempel horchte auf.

»Familienverhältnisse? Die hier in der Gegend nicht bekannt sind? Da müßte es sich wohl um weit zurückliegende Ereignisse handeln?«

»Ja, ich wollte schon immer etwas über das weitere Schicksal von Frau Gottschalks ältestem Sohn Ulrich erfahren. Was ist aus ihm geworden? Wissen Sie etwas über ihn?«

Hempel starrte den Fragenden zunächst betroffen an; dann faßte er sich und schüttelte den Kopf: »Nein, nichts Genaueres. Aber weshalb fragen Sie danach?«

»Mein Bruder Heinz ging mit Ulrich zusammen in die gleiche Klasse . . .«

Er stockte.

»Sie kannten diesen Sohn nicht persönlich?« fragte Hempel beiläufig.

»Kaum. Herr und Frau Gottschalk lebten ja früher in Wien, wo auch meine Eltern wohnten. Ihre Ehe soll sehr glücklich gewesen sein. Beide besaßen einen Knaben, Ulrich, der mit meinem ältesten Bruder Heinz zusammen das Gymnasium besuchte.

Von Heinz habe ich auch alle weiteren Einzelheiten. Von der ersten Gymnasialklasse an war er mit Ulrich dick befreundet. Er sprach dauernd von ihm, von seiner Begabung, seinem Mutwillen, seiner Fröhlichkeit und der allgemeinen Beliebtheit, die er bei den Lehrern genoß. Er hatte nur einen Fehler: daß er plötzlich furchtbar jähzornig werden konnte. Doch war und blieb er durch alle Jahrgänge hindurch der Klassenälteste. Als er zwölf Jahre alt war, bekam er noch einen kleinen Bruder, Ronny, und vier Jahre drauf stellte sich Vera ein. Mit achtzehn Jahren bestand Ulrich die Reifeprüfung, natürlich gleichzeitig mit meinem Bruder – und beide mit Auszeichnung. Am Abend sollte dann die Maturafeier stattfinden, an der natürlich auch die Professoren teilnahmen. Ich war damals erst ein Knirps von acht Jahren und interessierte mich für die großen Herren nur wenig. Doch den Abend jenes Tages werde ich nie vergessen. Es war noch nicht zehn Uhr, und ich war gerade im Begriff, Gutenacht zu sagen, um ins Bett zu gehen, als mein Bruder aufgeregt und blaß ins Wohnzimmer stürzte und ganz verstört hervorstieß:

›O, Mama . . . Papa . . . etwas Schreckliches ist geschehen! Ulrich ist . . . Ulrich hat . . .

Im nächsten Augenblick lag er auf der Erde. Er war ein überaus sensibler Mensch, und Schrecken oder Freude vermochten sofort eine Nervenkrise bei ihm hervorzurufen.

Ich erinnere mich nur noch, daß man den Arzt holte, der ihm eine Einspritzung gab, doch schien der Anfall diesmal viel heftiger zu sein. Mein Bruder lag wochenlang im Bett. Aus gelegentlichen Bemerkungen meiner Eltern entnahm ich, daß bei der Maturafeier etwas passiert sein mußte, das mit Ulrich Gottschalk im Zusammenhang stand. Später hörte ich nur, daß Ulrichs Eltern sich auf das Gut Tannroda zurückgezogen hätten.

Von Ulrich selbst wurde nie mehr gesprochen. Jemand bemerkte einmal, er sei in Südamerika.

Als ich meinen Bruder Heinz danach fragen wollte, was aus seinem besten Freund geworden und was eigentlich auf jener Maturafeier geschehen sei, da winkte er nur ab und sagte ärgerlich:

»Frag mich nicht. Ich werde nie darüber sprechen.«

»Eine merkwürdige Geschichte! Aber warum fragen Sie denn jetzt nicht Ihren Bruder? Nach so langer Zeit könnte er Ihnen wohl etwas mitteilen?«

Sorel schüttelte den Kopf:

»Heinz lebt nicht mehr. Er verunglückte vor vier Jahren auf einer Skitour am Großglockner. Und vorher – interessierte mich die Frage noch nicht so sehr wie heute, da ich Vera kennengelernt habe und sooft mit ihrer Familie in Berührung komme . . .«

»Dann kann ich Frau Gottschalk nicht helfen«, murmelte Hempel vor sich hin. »Jetzt muß sie sprechen!«

 


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