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Bei Tisch erschienen unerwartet Gäste. Zwei Studienfreunde Ronnys, die für die bevorstehenden Osterfeiertage eine Fußwanderung nach Mariazell planten, hatten ihn aufgesucht, um ihn zum Mitkommen aufzufordern.
Ronny kannte zwar den berühmten Wallfahrtsort schon; aber angesichts des schönen Wetters war er schnell bereit, sich ihnen anzuschließen. Doch zuvor bat er sie, wenigstens für zwei Tage in Tannroda zu bleiben.
Frau Gottschalk war aufs herzlichste damit einverstanden. Sie schlug auch gleich verschiedenes vor, womit sich die jungen Leute die Zeit vertreiben konnten.
»Der Förster war heute vormittag hier und berichtete, er habe auf dem Niederegg Auerhähne gesehen. Da könntet ihr morgen früh euer Glück versuchen, Ronny!«
»Ja, Mama, und heute nachmittag wollen wir sehen, ob wir nicht noch ein paar Forellen fangen.«
Zu viert – denn Vera war nur zu gern dabei –, berieten sie nach dem Essen, an welchen der zahlreichen Wildbäche sie zuerst gehen wollten und was für Angelzeug man mitnehmen solle.
Inzwischen waren auch Frau Gottschalk und der Detektiv, die am offenen Fenster gesessen und dort den schwarzen Kaffee getrunken hatten, aufgestanden, um sich zu einer kurzen Mittagsruhe zurückzuziehen. Während des Mittagessens war Hempel einsilbig gewesen. Die Mitteilungen, die Herr Sorel ihm gemacht hatte, beschäftigten ihn. Zuweilen beobachtete er Frau Gottschalk. Von der leichten Verstimmung, in der sie sich am Morgen getrennt hatten, war nichts mehr zu merken. Sie war liebenswürdig wie immer und schien nur um das Wohl ihrer Gäste besorgt zu sein. Und doch hatte sie die Unterredung mit Hempel nicht vergessen, denn sooft sich ihre Blicke begegneten, schlug sie die Augen nieder.
Aber er konnte sie nicht länger schonen, sondern mußte sie mit Fragen quälen, die ihr unangenehm und peinlich sein würden. Damit sie nicht wieder Ausflüchte ersinnen konnte, beschloß er, sie zu überraschen.
Gleich nach dem schwarzen Kaffee begab er sich in die Bibliothek. Heute unterließ er es absichtlich, Frau Gottschalk zu einem Spaziergang abzuholen. Die Bibliothek war der einzige Ort, der für eine so wichtige Unterredung, wie er sie vorhatte, geeignet war.
Und wie er es gehofft hatte, erschien sie denn auch um drei Uhr in der Bibliothek und erkundigte sich, ob er vergessen hätte, mit ihr spazierenzugehen.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, daß wir unsern Spaziergang eine halbe Stunde später antreten, möchte ich Ihnen eine Mitteilung machen.«
Frau Gottschalk fühlte sich durch den plötzlichen Vorschlag Hempels etwas unangenehm berührt. Sie wußte nicht recht, ob sie auf seinen Vorschlag eingehen sollte oder nicht. Schließlich setzte sie sich wortlos in den Ledersessel und sah unruhig zum Fenster hinaus.
Hempel steckte sich eine Zigarre an und blies langsam den Rauch gegen die Decke. Er sah den aufsteigenden Wölkchen nach, wie sie langsam emporschwebten und sich schließlich im Halbdämmer der holzgeschnitzten Decke verloren.
Frau Gottschalk mußte dieses Schweigen peinlich sein. Sie spürte, daß Hempel auf eine Erklärung wartete, die sie nicht zu geben gewillt war.
»Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie noch einen Sohn besitzen?«
Die Frage Hempels unterbrach etwas unvermittelt und fast gewalttätig die Stille.
Frau Gottschalk zuckte zusammen und sah Hempel erschrocken an. Dann stotterte sie:
»Wer . . . wer hat Ihnen das gesagt . . . das ist doch . . .«
»Nein, das ist keine Lüge, sondern die lautere Wahrheit«, ergänzte Hempel ihren Satz.
»Aber woher wissen Sie . . . bitte . . . wer hat Ihnen davon erzählt?«
»Das tut nichts zur Sache. Es gibt vermutlich in Wien noch eine Anzahl von Menschen, die etwas darüber wissen.«
»In Wien . . .« Frau Gottschalk verzog bitter ihren Mund. »Ja, in Wien . . . das ist wahr . . . ich vergaß . . .«
Wieder herrschte für eine Weile Stille in dem großen Raum. Hempel wußte, daß jetzt der Augenblick gekommen war, um das zu erfahren, was für sein weiteres Vorgehen von Wichtigkeit sein konnte. Vielleicht warf diese Geschichte ein Licht auf den Fall Kluge. Vielleicht?
»Es hat sicher keinen Sinn, daß Sie mir gerade diesen Vorfall verschweigen«, begann er wieder.
»Seit meines Mannes Tod habe ich mit niemand darüber gesprochen. Ich habe versucht, alles zu vergessen, soweit dies möglich ist. Auch meinem Manne gegenüber durfte ich ja den Namen meines Sohnes nicht erwähnen. Es belastete unsere sonst glückliche Ehe sehr.«
»Aber sie hatten ja in Herrn Kluge einen verständigen und ernsthaften Freund, der Ihnen sicher einen Rat gegeben hätte?«
»Ja, der gute Onkel Gottfried! Er hatte den Jungen besonders lieb; aber er urteilte deshalb auch um so härter über ihn, und er bat mich, nie mehr darüber zu sprechen. Was blieb mir also übrig, als alles für mich zu behalten? Mit wem sollte ich mich denn aussprechen? Mit meinen Kindern, mit den Nachbarn? Nein . . .«
Hempel wollte Frau Gottschalk nicht Zeit gewinnen lassen. Vielleicht hätte sie sich wieder entschlossen, auch ihm gegenüber ihr Schweigen aufrechtzuerhalten.
»Aber was hat denn Ihr Sohn um Gottes willen verbrochen? So schlimm kann es doch nicht gewesen sein! Es ist nun einmal so, daß selbst in den besten Familien etwas vorfällt. Dagegen ist kein Kraut gewachsen.«
Frau Gottschalk sah Hempel dankbar an. Er fühlte, daß es ihr schwer fiel, darüber zu sprechen, aber der Bann schien nun gebrochen.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, mein lieber Herr Hempel«, begann sie endlich. »Was mein Sohn getan hat, war nicht so schrecklich, wie es diesen Kreisen erschien, in denen mein Mann und ich verkehrt haben. Aber sie kennen ja diese alteingesessenen Familien mit ihren stolzen und unbeugsamen Ehrbegriffen. Wer dagegen verstößt, wird ausgestoßen und geächtet . . . Aber ich muß Ihnen wohl alles der Reihe nach erzählen, sonst verstehen Sie es nicht richtig und können auch nicht darüber urteilen.
Mein Sohn hatte die Reifeprüfung mit Auszeichnung bestanden und am Abend des gleichen Tages sollte die Klassenfeier stattfinden, bei der natürlich auch die Professoren anwesend waren. Ulrich war bei seinen Mitschülern und Lehrern beliebt, er war der Klassenälteste, dem alle vertrauten, den alle gern hatten – bis auf einen einzigen, einen gewissen Franz Malten.
Dieser junge Mann stammte aus bescheidenen Verhältnissen und war sehr begabt, aber krankhaft ehrgeizig. Es ist begreiflich, daß er nicht beliebt war. Zudem war er auf meinen Sohn etwas neidisch. Er versuchte ihn auf geschickte Art auszustechen und herabzusetzen, doch ohne Erfolg. Dadurch verlor er die Zuneigung seiner Mitschüler und wurde zu guter Letzt so etwas wie ein Außenseiter, der nicht ungern Streit suchte.
Solchen Auseinandersetzungen ging mein Sohn aber aus dem Wege. Er beachtete es nicht, wenn der andere ihn herausforderte, sondern wandte sich nur ab. Mein Sohn wußte wohl, weshalb er ihm aus dem Wege ging: er fürchtete, eine Prügelei könne in Schlimmeres ausarten. Denn mein Sohn besaß leider einen großen Fehler – den man ihm nicht einmal allein zur Last legen konnte, da er in meines Mannes Familie häufig war –, er war jähzornig und konnte im Jähzorn besinnungslos handeln.
Im Verlaufe der Maturafeier ereignete sich nun folgendes:
Franz Malten, der zwar talentiert war, hatte die Prüfung nur knapp bestanden. Das war ein Zufall, den er wohl seiner Überheblichkeit den Lehrern gegenüber zuzuschreiben hatte. Ich vermute, daß ihn das glänzende Ergebnis meines Sohnes innerlich so gegen ihn aufbrachte, daß er nur auf ein Mittel sann, wie er Ulrich an diesem Feste vor seinen Klassenkameraden bloßstellen könnte. Das war kein leichtes Unterfangen, denn mein Sohn war allgemein beliebt, worauf er sich auch sehr viel einbildete. Nun, Sie kennen ja die Jugend, und ich möchte meinen Sohn auch nicht von jedem Fehler freisprechen, schon gar nicht von jener unüberlegten Tat, die er im Verlaufe des Abends begehen sollte.
Zu diesem Feste waren natürlich auch Mädchen aus der Wiener Gesellschaft eingeladen, unter anderem auch die Tochter des Bilderhändlers Sobotka, die mein Sohn Ulrich heimlich verehrte.
Malten, der neben seinen anderen Fähigkeiten auch recht hübsch zu zeichnen verstand und sich für alles, was mit Bildern zusammenhing, interessierte, kannte das Mädchen ebenfalls – sie hieß, wenn ich mich recht erinnere, Maria –, und er war von ihr ebenso bezaubert wie mein Sohn. Nun ist eine solche jugendliche Liebe meistens stärker und heftiger, als wir Erwachsenen glauben mögen; um so mehr, als sie ja keine Gelegenheit hatten, sich zu sehen, außer auf dem Schulweg oder, wenn es viel war, einmal im Monat im Kaffee Kranzler zu einer Tasse Schokolade. Ich selbst hatte auch keine Ahnung, daß mein Sohn in dieses Mädchen verliebt sei. Sie war zudem nicht einmal hübsch, sondern eher ein seltsames Geschöpf mit schrägstehenden Augen.
Nun, das gehört eigentlich alles nicht zur Sache, sondern dient nur zur Erklärung dessen, was nachher geschah.
Mein Sohn, der gut aussah, war etwas eitel. Er legte Wert auf tadellose Kleidung. Natürlich standen ihm mehr Mittel zur Verfügung als Franz Malten, obschon ich darauf achtete, daß er immer einfach daherkam.
Für diesen Abend trug er zum erstenmal einen Smoking, den ich bei einem der ersten Schneider in Wien machen ließ. Ich muß sagen, daß mein Sohn wirklich elegant aussah. Ich hatte fast ein wenig Angst um ihn, als er vor dem Weggang so strahlend und fröhlich vor mir stand, um sich zu verabschieden.
Ja, ich muß noch vorausschicken, daß er den ganzen Nachmittag seine Koffer gepackt hatte, denn er wollte in der Frühe des anderen Tages abreisen. So hatte er sich in der Zeit versehen und mußte sich beim Umkleiden beeilen. Und diese Eile war eigentlich der lächerliche Anlaß zu dem ernsten Ausgang dieses Abends. Um es kurz zu machen: Ulrich hatte vergessen, die Hosenträger vorne zu befestigen, und nun hingen sie ihm hinten unter der Jacke hervor, was natürlich bei seiner sonst sorgfältigen Kleidung etwas komisch ausgesehen haben mag.
Die Klassengenossen hatten natürlich daran ihren Spaß, namentlich als Ulrich sich beim ersten Tanz vor jener Maria Sobotka verbeugte. Sie nahmen es als Scherz auf und wollten ihn erst am Schluß darauf aufmerksam machen, da sie auf gutmütige Weise seiner Eitelkeit einen Dämpfer geben wollten.
Als aber Franz Malten während des kleinen Imbisses um Mitternacht eine glänzend gezeichnete Karikatur von ihm herumreichte und der ganze Tisch in schallendes Gelächter ausbrach, vor allem auch jenes Mädchen Sobotka, soll mein Sohn wortlos den Saal verlassen haben. Was dann geschehen ist, habe ich nie recht erfahren. Auf alle Fälle muß er in seinem Jähzorn diesem Malten aufgelauert haben und . . . nun . . . Malten wurde noch in der gleichen Nacht mit einem tiefen Messerstich im Unterleib ins Krankenhaus eingeliefert. Meinen Sohn Ulrich aber fand die Polizei auf einer Streife im Wienerwald noch ganz benommen und verwirrt.
Ulrich hat nichts geleugnet. Aber Sie können sich vorstellen, daß dieser Vorfall in der Wiener Gesellschaft heftig besprochen wurde. Namentlich, weil mein Sohn zu einer bedingten Gefängnisstrafe verurteilt worden war.
Mein Mann war so empört über das Verhalten meines Sohnes, daß er, gegen meinen Willen, ihm für immer das Haus verbot.
Auf sein Verlangen – er hatte sich darüber mit Gottfried Kluge beraten – mußte Ulrich einen Revers unterzeichnen, in dem er auf alle Rechte und auf jede weitere Zugehörigkeit zu unserer Familie für immer verzichtete. Unter der Bedingung, daß er nie einen Versuch mache, sich uns wieder zu nähern, sondern nach Amerika auszuwandern, erklärte sich mein Mann bereit, ihm durch den Anwalt die nötigen Mittel zur Überfahrt und zur Gründung einer Existenz zukommen zu lassen.
Er hat den Revers unterschrieben . . .«
Frau Gottschalk konnte nicht weiter sprechen. Der Detektiv ahnte, daß sie nie wieder von ihrem Sohn gehört hatte, und daß sie keinen Versuch unternehmen durfte, seinen Spuren nachzugehen.
»Solange Gottfried Kluge lebte«, fuhr sie nach einer Weile fort, »der die gleichen starren Ehrbegriffe wie mein Mann hatte, konnte ich nichts unternehmen. Und – jetzt – befinde ich mich in einer solchen Verwirrung –, daß ich erst recht nichts zu tun wage. Begreifen Sie es? Der Mann, der in den amerikanischen Wagen stieg – am Abend von Gottfried Kluges Tod –, o Gott, ich wage nicht, darüber nachzudenken!«
Hempel räusperte sich verlegen.
»Seien Sie überzeugt, daß ich alles tun werde, um alles, was auch immer geschehen sein mag, in Ordnung zu bringen.«
Doch wie vertrauensvoll seine Worte klangen, so wußte er selbst, daß er dem Geheimnis noch lange nicht auf der Spur war.