Annie Hruschka
Das silberne Auto
Annie Hruschka

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Am Abend eines milden Vorfrühlingstages befand sich Hermann Hempel ausnahmsweise daheim in seiner Wohnung und überließ sich zufrieden der Ruhe in einem sonst mit Arbeitshetze angefüllten Dasein. Er schlenderte zwischen den Käfigen seiner gefiederten Freunde, einer Anzahl mehr oder weniger zahmer Vögel umher, die in dem großen Gartenzimmer untergebracht waren.

Ihre Behausungen hatte Hempel selbst erdacht und mit Liebe und Geschicklichkeit so eingerichtet, daß die gefangenen Tiere sich wie in ihrer natürlichen Umgebung wohlfühlten. Knorriges Geäst und grüne Schlingpflanzen, kleine Sandbecken und Wassertümpel bildeten eher einen belebten fröhlichen Wintergarten als einen trübseligen Vogelkäfig. Zudem strömten Luft und Licht zu den Türen herein, die auf die Terrasse und in den etwas verwilderten Garten führten. So hatte sich der Junggeselle Hermann Hempel sein Heim geschaffen, das ihm Familie und Freunde ersetzen mußte.

Hier, bei der Pflege und Fütterung seiner Vögel, konnte er auch seinen Beruf vergessen. Der Papagei und die Wellensittiche waren die verständigsten Vögel und durften sogar hin und wieder den Käfig verlassen und sich ihm auf die Schulter setzen. Der jungen Eule, die er eines Morgens mit gebrochenem Flügel im Gebüsch gefunden hatte, ließ er ein dunkles Eckchen bauen, in dem sie sich langsam erholte, bis sie wieder freigelassen werden konnte. Hempels besondere Freude war das zierliche Zaunkönigspaar, sein Stolz der farbenprächtige Eisvogel. Während er ihnen Futter gab, betrachtete er die Bachstelze, die auf dem Rande des Vogelteichs wippte, als sei er ihr genau so lieb wie die Ufer des Wiesenbaches.

Hempel war so vertieft in seine Beschäftigung, daß er das kräftige Klingeln an der Haustür vollkommen überhörte und sehr erstaunt aufblickte, als seine Haushälterin Kata, eine Deutschböhmin, das Zimmer betrat und ihm ein Telegramm reichte. Ihr etwas zerzaustes Äußere ließ darauf schließen, daß Hempel sich mit einer »Perle vom Lande« versehen hatte.

»Hat gebracht ein Mann«, sagte sie in ihrem komischen Deutsch, das der jahrelange Aufenthalt in der Stadt kaum verbessert hatte.

Hempel öffnete die Depesche, die in einer kleinen Stadt der Steiermark aufgegeben worden war.

Erbitte sofortige Besprechung
Leonie Gottschalk
Tannroda über Grainau

Der Name Gottschalk sagte ihm nichts. Es war ein in der dortigen Gegend üblicher Familienname. Aber Tannroda – eine Erinnerung tauchte vor ihm auf, als wäre ihm vor Jahren, auf einer Fußwanderung durch das steirische Bergland, ein großes Herrschaftshaus aufgefallen, das freundlich das Tal beherrschte und in der Nähe des Dörfchens Grainau gelegen sein mußte. War es dieses Tannroda?

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es war acht Uhr abends. Um elf ging der nächste Zug in dieser Richtung. Dann wäre er bereits in der frühesten Morgenstunde in Tannroda. Er hatte also Zeit genug, in Ruhe zu Abend zu essen und die nötigen Sachen zu packen.

Zuerst machte er sich für die Reise zurecht, packte Anzüge und Wäsche ein und kramte dann zwischen den Reisebüchern nach dem Führer durch die Steiermark, den er als Lektüre mit ins Eßzimmer hinüber nahm.

Während Kata ihm das Abendessen auftrug, vertiefte er sich in das Buch, das ihm über alles erstaunlich genauen Aufschluß gab.

Zum Herrenhause gehörten ausgedehnte Waldungen und einiges Ackerland. Die Fischereirechte am See waren in Pacht gegeben. Die jetzige Besitzerin war Frau Leonie Gottschalk, deren Gatte im ersten Weltkrieg gefallen war.

Hermann Hempel klappte den Reiseführer zu. Nun, das ging ihn eigentlich alles nichts an. Weshalb er telegraphisch hingerufen wurde, war ihm rätselhaft. Er hatte in den Tageszeitungen nichts gelesen, was auf ein Verbrechen, einen Mord oder Einbruch hindeutete.

Kurz nach elf verließ sein Zug den Hauptbahnhof. Er zog den Mantel über sich und versuchte zu schlafen.

Am nächsten Morgen um halb sechs hielt der Zug eine Minute auf der Station Grainau, und Hermann Hempel beeilte sich, auszusteigen. Er sah sich suchend auf dem Bahnsteig um. Weder ein Gepäckträger noch sonst jemand war zu sehen! So übergab er sein Gepäck dem Bahnhofsvorstand, der ihm auch noch den Weg zum Herrenhaus erklärte.

Die Sonne war bereits aufgegangen. Hinter der Ortschaft stieg der Hügel an, auf dem Hempel das Herrenhaus Tannroda vermutete. Bis jetzt entzog es sich noch seinen Blicken durch ein Wäldchen, das er nach einer Viertelstunde kräftigen Ausschreitens erreichte. Von hier aus öffnete sich der Blick auf das Herrenhaus. Es war ein massiver Bau mit steilem Schieferdach und vier Ecktürmen.

Die Fenster der Vorderfront gleißten in der Morgensonne. Auf dem Kiesvorplatz plätscherte ein alter Springbrunnen. Sonst war kein Laut zu hören.

Hempel setzte sich auf eine der Bänke, die vor den Blumenrabatten standen. Es war ihm angenehm, sich zuerst in aller Ruhe mit dem Bau vertraut zu machen, in dem er vielleicht längere Zeit bleiben mußte. Im obersten Stock waren die Fensterläden geschlossen. Nichts deutete darauf hin, daß hier irgend etwas geschehen war, was sein Eingreifen erforderlich machte.

Jetzt wurde die Haustür aufgesperrt. Ein weißhaariger Diener erblickte Hempel, stutzte einen Augenblick und kam dann auf ihn zu.

»Verzeihen Sie, sind Sie vielleicht Herr Hempel, der neue Bibliothekar –«

»Ja . . ., mein Name ist Hempel«, sagte Hempel und betrachtete den alten, schon etwas zittrigen Diener, der mit leiser und ergebener Stimme auf ihn einsprach.

»Dann sind Sie ja mit dem Nachtzug gekommen? Es tut mir leid, daß ich nicht an der Bahn war, aber Frau Gottschalk meinte, ihre Depesche könne Sie kaum vor Abgang des Nachtschnellzuges erreicht haben. Wollen Sie bitte mitkommen, damit ich Sie in Ihr Zimmer führen kann! Es ist alles bereit. Das Frühstück wird Ihnen sofort aufs Zimmer gebracht. Vielleicht darf ich Sie danach abholen und zu Frau Gottschalk ins Büro bringen?«

»Ist Frau Gottschalk denn schon auf?«

»Ja, sie ist immer die Erste. Ich werde in einer halben Stunde wiederkommen.«

Damit verabschiedete sich der Diener.

 


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