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Marbler hatte die Kühlerhaube geöffnet und beugte sich über den Motor.
»Was ist los, Marbler? Wir müssen weiter!«
»Panne«, rief dieser. Marbler holte Werkzeug aus dem Wagen und begann emsig zu arbeiten.
»Wird es lange dauern?«
»Kann ich nicht sagen, Herr Hempel. Muß erst nachsehen. Sie wissen ja selbst, was der Wagen in den letzten Tagen hergegeben hat, hab' mich schon selbst gewundert, 's ist schließlich nicht das neueste Modell«, lachte er.
Hempel sagte begütigend:
»Ich weiß, ich weiß.«
Dann ging er aufgeregt am Straßenrand auf und ab. Hier auf dieser Landstraße fuhr höchst selten ein Wagen vorbei, der ihnen etwa hätte zu Hilfe kommen können. Es war zu ärgerlich. Bald würde die Sonne untergehen.
Hempel starrte in den Abendhimmel. Er rechnete nach: am Morgen hatte Franz Walter den »Bären« verlassen und war nach Graz gefahren. Das hatte er wahrscheinlich nur getan, um sich für alle Fälle ein Alibi zu verschaffen.
Aber ebenso wahrscheinlich war er von dort mit der Bahn oder im Wagen in die Nähe von Tannroda gefahren und hatte die letzte Strecke zu Fuß zurückgelegt. So würde er gegen Mittag oder etwas später in die Umgebung von Tannroda gelangt sein. Die Möglichkeit, daß er am hellen Tage etwas gegen Frau Gottschalk unternahm, war sehr gering.
Denn nur ihretwegen konnte sich Walter jetzt nach Tannroda begeben. Er mußte sich beeilen, um seine Pläne zu einem Ende zu bringen.
Hermann Hempel fragte sich jetzt nicht mehr: sind meine Schlüsse richtig, oder irre ich mich.
Er war davon so überzeugt, als könnte es nicht anders sein.
Er dachte weiter: bis zum Abend wird der Verbrecher sich irgendwo verborgen halten und sie dann unter irgendeinem Vorwand aus dem Hause locken. Vielerlei Möglichkeiten gab es. Wer konnte ahnen, welchen Plan er sich ausgedacht hatte?
Und er, der allein die wahren Zusammenhänge kannte, mußte hier hilflos auf der Landstraße warten und einer elenden Panne wegen die Zeit vertrödeln!
Hinter ihm hupte ein Auto – und sauste schnell an ihm vorüber, er hatte kaum Zeit, beiseite zu springen. Es blinkte silbern auf und sauste davon: das ›silberne Auto‹!
Hempel war fast rasend vor Wut. Denn dieser Mann wollte sicher auch nach Tannroda.
Was hatte aber Andagola im Sinne?
*
Zur gleichen Zeit, als Marbler sich über den Motor beugte, saß in Tannroda Frau Gottschalk alleine in ihrem Arbeitszimmer.
Heute fand auf dem Landsbergschen Gut die Verlobungsfeier statt. Ehe Vera und Ronny hinüberfuhren, versuchten sie noch ein letztes Mal, ihre Mutter zu überreden, sich ihnen anzuschließen. Aber Frau Leonie blieb fest. Sie umarmte ihre Kinder, lächelte, wünschte ihnen viel Freude – und schloß:
»Denkt jetzt nicht an mich, Kinder! Für mich sind Ruhe und Einsamkeit die beste Erholung, glaubt es mir!«
Die Geschwister gingen schweren Herzens fort.
Aber sie waren doch glücklich, nicht nur Ronny, sondern auch Vera. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit Doktor Sorel, der heute ihr Tischherr sein sollte. Sie dachte an die letzten Tage und an alles, was sie mit ihm gesprochen und erlebt hatte.
*
Frau Gottschalks Gedanken wanderten aus der Gegenwart fort in eine ferne Vergangenheit. Die traurigen Jahre ihres Lebens hier auf Tannroda mit seinem erzwungenen Schweigen und der Erstarrung aller natürlichen Gefühle für ihren Erstgeborenen wie schnell überflog sie sie jetzt und erging sich in der glücklichen Zeit, da alles noch anders gewesen war!
Das Mädchen klopfte und brachte ihr einen Brief.
»Ein Junge gab ihn ab«, sagte sie. »Er rannte gleich wieder fort. Sie möchten ihn bitte sofort lesen!«
»Danke!« sagte Frau Gottschalk und behielt den Brief in der Hand. »Anna, könnten Sie der Köchin nicht ein wenig beim Einmachen helfen? Sie sagte, es ginge ihr nicht gut, und die Früchte können nicht liegenbleiben. Die Arbeit muß heute beendet werden.«
»Natürlich, gern«, erwiderte das Mädchen und schloß die Tür hinter sich.
Frau Leonie faßte gleichgültig nach dem Brief. »Wahrscheinlich ein Bettelbrief«, dachte sie, während sie ihn öffnete. Doch dann erblaßte sie.
»Mutter, liebe Mutter!«
Es wurde ihr wieder so schwarz vor den Augen. Wer anders konnte das geschrieben haben als . . .
Sie fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn, versuchte zu lesen:
»Mutter, liebe Mutter,
Willst Du mir, der bereut und gelitten hat, ein Wiedersehen gönnen, ehe ich wieder in das Land zurückkehre, wo ich leben muß? Ich kann nicht gehen, ohne Dich gesehen und Deine Verzeihung erlangt zu haben. Wenn Du Mitleid mit mir hast, so komme an den rückwärtigen Weg, der in den Park führt. Dort will ich Dich erwarten. Ich weiß, daß ich kein Recht habe, das Haus zu betreten. Aber Dich sehen möchte ich. Du verzeihst mir. Ich würde es sonst nicht wagen, mich Dir zu nähern.
Ulrich.«
Frau Gottschalk saß wie erstarrt da, unfähig sich zu rühren. Ihre Gedanken verwirrten sich. Vor Herzklopfen konnte sie nicht mehr recht überlegen. Sie spürte eine unendliche Freude. Endlich würde doch noch alles gut!
Ulrich hatte den Weg zu ihr gefunden. Alle Bitterkeit der verflossenen Jahre würde versinken.
Sie dachte nur an das Glück, das nun endlich doch noch gekommen war. Alle Ratschläge und Warnungen Hermann Hempels vergaß sie. Was hätten diese auch zu bedeuten, wenn ihr Sohn sie sehen wollte? Hatte sie nicht den Beweis in der Hand?
Sie sprang auf, als sei sie nie leidend gewesen.
Wie gut, daß niemand im Hause war, um sie abzuhalten. Köchin und Mädchen standen beide in der Küche, mit Einkochen beschäftigt.
Draußen wartete ihr Sohn. Sie eilte durchs Haus und über den Kiesplatz. Niemand begegnete ihr. In der Hand hielt sie den Brief.
Es war nicht mehr recht hell. Im Schatten der Bäume begann es bereits zu dämmern.
Wo der Kiesplatz in den Garten überging, standen dunkle Lebensbäume zu beiden Seiten des Weges. Im Schatten des einen stand eine Männergestalt, unbeweglich.
Frau Leonie erblickte den dunklen Schatten, und ihr Herz begann zu hämmern. Aber warum kam er ihr denn nicht entgegen? Wagte er es noch nicht?
Sie lief schneller und schwenkte den Brief in der Hand. Endlich machte er ihr ein paar Schritte entgegen.