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»Sie kommen wie gerufen, lieber Hempel!« rief ihm Kriminalinspektor Ullmann entgegen. »Wo haben Sie denn gesteckt? Sie haben wohl auch von unserem neuesten Fall gelesen . . .? Eine merkwürdige Geschichte! Es fehlt ja jeder Anhaltspunkt. Ich fürchte, wir werden uns einstweilen nicht mit Ruhm bedecken.«
Er hatte die Tür hinter sich geschlossen und Hempel Zigaretten angeboten.
Hempel war immer leicht belustigt, wenn ihm die Herren von der Polizei mit übergroßer Herzlichkeit begegneten.
»Hat sich schon viel Positives ergeben?«
Inspektor Ullmann hob abwehrend die Hände:
»Nichts, einfach gar nichts! Es ist unbegreiflich! Und was meinen Sie?«
»Ich weiß zu wenig von der ganzen Geschichte. Ich war nämlich auf dem Lande, um etwas auszuspannen.«
»Eine Frage, lieber Hempel: sind Sie augenblicklich mit einem besonderen Fall beschäftigt?« kürzte Ullmann das gemütliche Gerede Hempels ab.
»So halb und halb . . .«
»Das heißt, sie sind nicht voll in Anspruch genommen, und Sie hätten immerhin noch etwas Zeit?«
»Nicht ganz. Wenn andere Dinge nicht allzuviel von meiner Zeit wegnehmen . . .«
Der Inspektor lächelte: »Das hängt ganz von Ihnen ab, mein Lieber. Jedenfalls wären wir Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns in diesem Falle helfen würden.«
»Mit einem Vorbehalt, Herr Inspektor! Mit dem Vorbehalt, freie Hand behalten zu dürfen, nebenbei auch meinen eigenen Fall zu führen und meine Zeit und Tätigkeit nach eigenem Ermessen einrichten zu können.«
»Sie müssen doch jedesmal die gleichen Bedingungen stellen!«
»Gewiß. Sind Sie dabei schon einmal schlecht gefahren?«
»Natürlich nicht, mein lieber Hempel. Ich bin ja schon so ganz zufrieden . . .«
Hermann Hempel winkte ab. »Ich tu es gern. Aber Sie müssen mich etwas über den Fall unterrichten. Seit der Tat sind achtzehn Stunden verstrichen; ich nehme an, daß sich inzwischen Verschiedenes ergeben hat . . .«
»Ergeben? Davon kann keine Rede sein. Wir haben wohl ein paar Leute ausfindig gemacht, die um die bewußte Zeit in der Nähe des Tatortes, auf der Schmelz, gesehen wurden. Aber ob der Täter darunter ist? Es sind meistens harmlose Leute, Angestellte, Arbeiter, die in später Abendstunde noch zu tun haben, die aus Wirtshäusern oder Betrieben heimkehren . . . Wenn man Raubmord ausschließt – das Geld wurde ja auf der Leiche gefunden – so bleibt nur noch Rache als Motiv. Daran hatte ich nämlich zuerst gedacht. Aber sowohl die Hausdame des alten Herrn, Frau Erber, wie auch sämtliche Angestellten versicherten mir, daß er nie einen Feind gehabt habe.«
»Manchmal hat man Feinde, von denen man selbst nichts ahnt. Übrigens braucht es ja nicht Rache zu sein. Es gibt noch andere Gründe, die jemanden veranlassen können, einen Menschen beiseite zu schaffen. Vielleicht, wenn er ihnen im Wege steht. Oder wenn er ihnen sonstwie gefährlich werden könnte . . .«
»Gewiß, gewiß. All diese Motive: Eifersucht, Ehrgeiz, Neid – habe ich mir schon unzählige Male durch den Kopf gehen lassen. Aber es hat keinen Sinn. Bei dem alten Herrn fällt das alles einfach weg.«
Hempel blickte belustigt dem Rauch seiner Zigarette nach:
»Solche Gründe meine ich auch gar nicht. Man muß vielleicht sehr weit in Doktor Wendlands Vergangenheit zurückgehen, um den Schlüssel zur Tat zu finden. Als Rechtsanwalt hat er bestimmt Einblick in die verworrensten Familienverhältnisse bekommen, hat Streit und Hader nicht nur mitangesehen und mitangehört, sondern mußte selbst schlichtend eingreifen . . .«
». . . und Sie glauben, daß er sich dabei den Haß einer Partei zugezogen haben könnte?«
»So bestimmt will ich mich gar nicht einmal ausdrücken. Ich meine nur, daß ein Rechtsbeistand in den Besitz mancher Familiengeheimnisse kommt . . .« Hempel brach ab und blickte den Polizeichef erwartungsvoll an.
»Glauben Sie, daß man in dieser Richtung . . .«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Hempel. »Ich denke mir, daß manchmal schon die bloße Mitwisserschaft des Rechtsanwaltes dem einen oder andern Teil sehr unangenehm sein könnte und er sich eines unbequemen Zeugen zu entledigen versuchte. Halten Sie das für ausgeschlossen?«
»Nein, natürlich nicht! Aber mir scheint das reichlich weit hergeholt, entschuldigen Sie –, etwas phantastisch. Oder haben Sie schon bestimmte Anhaltspunkte?«
»Nein. Ich spreche nur allgemein. Aber ich halte es für notwendig, daß man sich einmal näher mit Doktor Wendlands Aktenmaterial befaßt . . . falls Sie das nicht etwa . . .«
»Bewahr' mich der Himmel!« rief der Inspektor und hob beschwörend beide Hände. »Haben Sie bedacht, was für eine Riesenarbeit das wäre?«
»Warum? Das Belanglose läßt sich auf den ersten Blick ausscheiden. Was übrigbleibt, ließe sich in einigen Nächten durchackern. Wollen Sie mir die Sache übertragen?«
»Mit Vergnügen – wenn Sie sich Erfolg davon versprechen.«
»Abgemacht also. – Und nun nur noch ein paar Fragen. Wie die alte Hausdame, Frau Erber, aussagte, glaubt sie das Telephon gehört zu haben, ehe Wendland ihr mitteilte, noch einmal ausgehen zu müssen. Falls ein Telephongespräch stattgefunden hat, dann hat ihn natürlich der Mörder auf die Schmelz bestellt. Sie haben sich zweifellos darum bekümmert?«
»Gewiß. Sofort nach der Vernehmung von Frau Erber. Ich war selbst auf dem Telephonamt. Der Sprecher, der um halb zehn die Nummer von Doktor Wendland einstellte, rief von Nummer 17 500 an.«
»Und 17 500 ist . . .?«
»Ein Kaffeehaus. Ziemlich besucht, besonders zu dieser Abendstunde. Meistens Beamte, aber auch hin und wieder Fremde. Über den Inhalt des Gesprächs ist natürlich nichts bekannt. Der Kellner kann sich auch nicht mehr erinnern, wer alles um die angegebene Zeit telephonieren wollte. Das Lokal war überfüllt . . .«
»Das ist ärgerlich. Wie heißt denn das Café?«
»Café Zentrum. Sie kennen es wohl auch?«
»Ja. Die Telephonzelle befindet sich direkt neben dem Bartisch. Vielleicht, daß einer der übrigen Kellner etwas bemerkt hat?«
»Und sonst haben Sie keine anderen Anhaltspunkte?«
Der Kriminalinspektor schüttelte den Kopf und streifte die Asche seiner Zigarette ab.
»Anhaltspunkte? Was heißt das schon? Beim Beginn der Untersuchung gab es natürlich eine Menge. Aber das zerrinnt bei näherer Untersuchung wie der Sand zwischen den Fingern.«
»Es wäre mir vielleicht doch nützlich, wenn Sie mir das Wichtigste kurz zusammenfassen würden«, meinte Hempel.
Der Inspektor nahm die Akten zur Hand.
»Ja, da war zunächst einmal ein gewisser Elias Schmid, der sich dort herumgetrieben hatte. Er konnte aber ein unumstößliches Alibi beibringen. Dann war noch . . . warten Sie einmal . . .«, der Inspektor blätterte in den Papieren, ». . . ach ja ein silbergraues Auto, das ebenfalls zur fraglichen Zeit in der Nähe parkiert hatte. Und so weiter und so fort . . . Sie können ja selbst all die Aussagen lesen.«
Hempel war nicht zusammengezuckt, als er von dem silbergrauen Auto hörte. Er ließ sich auch nichts anmerken. Er fragte nur ganz beiläufig:
»Wem gehörte denn das silbergraue Auto?«
»Das Auto? Ach ja. Der Besitzer hat sich ganz von selbst gemeldet.«
»Es würde mich interessieren, wenn Sie mir über diese Vernehmung etwas erzählen würden.«
»Zu erzählen ist da eigentlich nicht viel. Gegen neun Uhr morgens ließ sich ein Herr Juan Andagola bei mir melden. Er stellte sich als Farmer aus der Provinz Entre Rios in Argentinien und als Besitzer des Wagens vor. Er gab an, sich mit seiner Frau auf einer Vergnügungsreise in Europa zu befinden und seit drei Wochen im Hotel Imperial zu wohnen. Von da aus unternehme er mit seiner Frau weitere oder kürzere Ausflüge in seinem eigenen, aus Argentinien mitgebrachten Wagen. An dem fraglichen Abend habe der Chauffeur an der Schmelz angehalten, weil am Wagen etwas nicht in Ordnung war. Der kleine Schaden aber sei in ein oder zwei Minuten behoben gewesen. Herr Andagola und seine Frau seien überhaupt nicht ausgestiegen, sondern im Wagen sitzengeblieben. Sie hörten keinen Hilferuf und ahnten überhaupt nicht, daß ganz in der Nähe um dieselbe Zeit – es ging auf halb zwölf –, ein Verbrechen geschah oder geschehen war. Das ist alles.«
»Hat er Ihnen seine Papiere gezeigt?«
»Selbstverständlich! Noch ehe ich sie verlangte. Er hat auch seinen Chauffeur mitgebracht, einen Amerikaner aus den Staaten, der die Richtigkeit der Angaben bestätigte.«
»Und die Papiere waren in Ordnung?«
»Vollkommen. Ausgestellt in Entre Rios, bestätigt in Buenos Aires, mit einem Visum unseres Konsulats in Buenos Aires – nein, nein, mein lieber Hempel, da ist leider nichts zu holen.«
»Konnten die Papiere nicht gefälscht sein?«
»Nein, denn ich habe mir den Sichtvermerk unserer Gesandtschaft besonders eingehend angeschaut. Sie können sich darauf verlassen, daß alles in bester Ordnung ist. Übrigens würden Sie Herrn Andagola keine Sekunde verdächtigen. Man braucht ihn nur zu sehen und zwei Worte mit ihm zu sprechen, um zu wissen, daß er nichts mit dunklen Verbrechen zu tun hat.«
»Was machte er denn für einen Eindruck?«
»Den eines gebildeten Menschen.«
»Dann haben Sie sich wohl im Hotel Imperial gar nicht weiter nach ihm erkundigt?«
»Doch, ich tat es, obwohl ganz überflüssigerweise. Aus reiner Gewissenhaftigkeit, um mir nichts vorwerfen zu können.«
»Und was für eine Auskunft bekamen Sie dort?«
»Die denkbar beste – wie zu erwarten war. Er sei offen, höflich und liebenswürdig gegen jedermann und mache in der Unterhaltung mit anderen Gästen und dem Besitzer aus seinen Verhältnissen kein Hehl. Er besitzt drüben in der Nähe der Stadt Colon eine große Farm, die – warten Sie mal –, ja, die Solis heißt, betreibt dort Gemüse- und Obstbau, besitzt aber vor allem Rinder-, Pferde- und Schafherden. Er selbst sei der Sohn eines seinerzeit eingewanderten Deutschen, und auch seine Frau, die als diplomierte Krankenschwester nach Buenos Aires kam, ist eine Deutsche aus der Umgebung Stuttgarts.«
»Und wie sieht er denn aus?«
»Es ist ein großer Mann, schlank, breitschultrig, mit feinen Gesichtszügen, dunklem Haar und hellen Augen. Er sieht äußerst intelligent aus und hat die schlichte Gewandtheit und Sicherheit wirklich vornehmer Menschen. Das Gesicht ist gebräunt und zeigt über dem linken Auge eine Narbe. Den Papieren nach ist er achtunddreißig Jahre alt, sieht aber jünger aus. Ich hätte ihn auf knapp fünfunddreißig geschätzt. Was mir aber besonders angenehm an ihm auffiel . . .«
»Sie schwärmen ja förmlich von dem Mann!« lachte Hempel.
»Kann man auch! Mein Lieber, kann man auch! Sie hätten ihn nur sprechen hören sollen, dann wäre Ihnen seine angenehme Stimme aufgefallen.«
Trotz des spöttischen Lächelns atmete Hermann Hempel erleichtert auf. Kein Zweifel, dieser Andagola war der Mann vom Semmering. Der Mann, den er suchte.
Er stand auf, um sich vom Inspektor zu verabschieden.
»Ich werde also zunächst die Akten durchsuchen.«
Als Hempel das Polizeigebäude verließ, war er nicht unzufrieden mit den Ergebnissen seines Besuches. Er wußte jetzt, wo der Besitzer des ›silbernen Autos‹ wohnte. Und er würde feststellen, ob dieser Juan Andagola identisch war mit Ulrich Gottschalk.
Er beschloß, sofort zwei geschickte Leute im Hotel Imperial unterzubringen, die Andagola Tag und Nacht ›beschatten‹ müßten und Hempel sofort verständigen sollten, falls er seine Abreise vorbereitete. Seit Jahren waren ihm zwei Leute, Franz Kobler und Ernst Lauterbrunnen, als besonders umsichtig und zuverlässig bekannt. Mit den nötigen Anweisungen versehen, begeben sie sich sofort auf ihren neuen Posten.