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Aber Hempel sagte zunächst gar nichts. Er war aufgestanden und ging unruhig auf und ab.
Sollte er Inspektor Ullmann bei dem Glauben lassen, Franz Walter sei Ulrich Gottschalk?
Oder war schon der Augenblick gekommen, wo er ihm alles mitteilen mußte? Auch Gottfried Kluges gewaltsamen Tod und die fatale Rolle, die das ›silberne Auto‹ Andagolas dabei gespielt hatte? Was dann zu Andagola führen würde!
Immer noch spürte er innerlich ein Unbehagen, seine letzten Karten aufzudecken. Aber mußte es nicht sein, da der Inspektor schon soviel wußte? Womöglich legten sie einander, ohne es zu wissen, sonst noch Hindernisse in den Weg?
Er blieb vor Ullmann stehen: »Ihre Vermutungen sind sehr interessant; aber wie wollen Sie das beweisen? Ich glaube kaum, daß dies aus den Akten Gottschalk möglich sein wird!«
»Gott bewahre! Sicher nicht. Ich schloß es aus den verschiedenen Indizien.«
»Aber könnten Sie mir vielleicht sagen, welche Indizien das waren?« bat Hempel.
»Nun«, erklärte der Polizeichef freundlich, »aus den Akten selbst konnte ich wenigstens entnehmen, daß ein Ulrich Gottschalk existiere. Es fanden sich Quittungen für Geldsendungen, die an den Ulrich Gottschalk erfolgt waren. Das machte mich stutzig. Dann entdeckte ich die Abschrift eines Briefes, den der Rechtsanwalt nach Ulrich Gottschalks Abreise an dessen Vater geschickt hatte. Darin teilte er ihm mit, daß Ulrich Gottschalk auf dem Wege nach Buenos Aires sei, wohin ihm das vereinbarte Geld überwiesen wurde. Zu guter Letzt stieß ich auf einen Brief Ulrich Gottschalks an Doktor Wendland, datiert aus Montevideo, im gleichen Jahre, in dem er sich für die Mühe bedankte, die Doktor Wendland seinethalben gehabt habe.«
»Wie ist der Ton dieses Briefes gehalten«, unterbrach ihn Hempel. »Ist er verbittert?«
»Nein, das nicht. Er ist sogar sehr liebenswürdig. Scheinbar von Dankbarkeit durchdrungen. – Jedenfalls witterte ich hinter diesen wenigen Anhaltspunkten sogleich ein Familiendrama, in dem Doktor Wendland eine bedeutende Rolle gespielt haben mußte. Dabei fiel mir ein, was Sie damals wegen einer Durchsicht des Aktennachlasses andeuteten, lieber Hempel. Mit einem Mal erschien mir dieser Einfall gar nicht mehr so phantastisch, und ich beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Und haben Sie daraufhin etwas veranlaßt?«
»Allerdings. Ich habe verschiedene Schritte unternommen. Ich ließ mich mit der Grazer Kriminalbehörde verbinden, sprach auch mit Ronny Gottschalk direkt.«
»Sie haben doch hoffentlich nichts über die Vorgeschichte Ulrich Gottschalks verraten?«
»Nein. Ich erkundigte mich nur ganz nebenbei nach dem Verbleib eines ältesten Sohnes namens Ulrich. Der Behörde war überhaupt nichts von der Existenz eines zweiten Sohnes bekannt. Herr Gottschalk sagte mir am Telephon, daß sein Bruder seit zwanzig Jahren tot sei. Darauf bat ich, mit Frau Gottschalk, seiner Mutter, sprechen zu dürfen, wurde aber abgewiesen. Sie hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt. Damit mußte ich mich einstweilen zufrieden geben!«
»Und was haben Sie sonst noch angeordnet?« fragte Hempel.
»Ich schickte einen tüchtigen Beamten – Hirschfelder, Sie kennen ihn ja –, nach Grainau, wo er sich einquartierte. Er hat den Auftrag, die Vorgänge um Tannroda unauffällig im Auge zu behalten. Denn da für Franz Walter oder Ulrich Gottschalk der Weg frei ist, so nehme ich an, daß er bald in Tannroda auftauchen wird. Vermutlich wird er dies zunächst auf gütlichem Wege tun, indem er sich der Mutter zu erkennen gibt. Hirschfelder hat auch einen Haftbefehl bei sich, auf den Namen Ulrich Gottschalk lautend. Er wird also den Verbrecher, sowie er sich in Tannroda zeigt, sofort festnehmen.«
»Falls er sich zeigt! Es ist ja gut, in Hirschfelder einen verläßlichen Mann dort zu wissen . . . Andrerseits . . .«
»Sie zweifeln gewiß, daß wir auf dem richtigen Weg sind, mein lieber Hempel?«
Hempel schüttelte den Kopf.
»Theoretisch mögen Sie recht haben, aber die Beweise stehen noch aus. Ich habe all das, was Sie mir da mitteilten, seit geraumer Zeit gewußt . . .«
»Sie wußten es . . .«?
»Ja, von Frau Gottschalk. Es ist nämlich noch ein dritter Mord in dieser Sache begangen worden, vor den zwei andern: an dem ehemaligen Bibliothekar und Sekretär Gottfried Kluge in Tannroda, einem langjährigen Freund und Familienmitglied, der anscheinend einen bedeutenden Einfluß auf die Einstellung der Familie zur Tat Ulrichs hatte. Er hätte, wäre er am Leben geblieben, bestimmt Ulrichs Ansprüche zunichte gemacht.
Die Behörde erklärte den Fall als Selbstmord. Frau Gottschalks Einwände wurden nicht beachtet, und deshalb bestellte sie mich nach Tannroda, wo ich als Nachfolger des ermordeten Bibliothekars auftrat. Der wahre Zweck meines Aufenthalts war nur uns beiden bekannt.«
»Und davon haben Sie mir kein Wort gesagt!«
»Ich fühlte mich aus zwei Gründen nicht berechtigt, darüber zu sprechen. Erstens mit Rücksicht auf Frau Gottschalk, und dann bestand ja immerhin die Möglichkeit, daß die Dinge sich ganz anders und für die arme Mutter weniger entsetzlich –, herausstellen konnten. Denn die Sache ist bei weitem nicht so einfach . . .«
Der dickliche Inspektor schnaufte durch die Nase.
»Sie meinen gewiß, lieber Hempel, meine Vermutungen seien nicht unumstößlich. Bitte, das mag ja sein. Aber solange keine besseren Vermutungen bestehen, glaube ich doch daran festhalten zu müssen. Sie haben ja auch keine Vermutungen, die zum Ziele führen.«
Hempel geriet nun auch etwas ins Feuer.
»Nein, das habe ich nicht. Ich kann Sie nur auf eine sehr, sehr dünne Stelle in Ihrer Beweisführung aufmerksam machen. Einmal sprechen viele Gründe dagegen, daß dieser Franz Walter mit Ulrich Gottschalk identisch ist, und dann ist es ebenso fraglich, ob dieser Ulrich Gottschalk selbst an diesen Verbrechen beteiligt ist.«
»Wer sollte denn aber sonst ein Interesse an. den Akten haben, an der Beseitigung des Erbverzichts, an den Auskünften über Tannroda?«
Hempel gab nun einen ausführlichen Bericht über seine Arbeit und seine Erkundigungen in Tannroda. Er berichtete auch über das silbergraue Auto, das in ihm besonders den Verdacht gegen diesen Juan Andagola verstärkt habe. Andagola und nicht Franz Walter scheine mit Ulrich Gottschalk identisch zu sein.
»Allerdings«, schloß Hempel, »steht dieser Vermutung wieder mein Bericht aus Buenos Aires entgegen, daß Andagola der Sohn eines eingewanderten Deutschen sei. Sie sehen, nichts als Widersprüche. Immerhin finde ich es vernünftig, daß der fähige Hirschfelder Tannroda überwacht. Das gibt mir doch eine gewisse Beruhigung.«
»Sie glauben also, daß Frau Gottschalk immer noch in Gefahr schwebt?«
»Ganz bestimmt. Die beiden ersten Anschläge sind zwar mißglückt. Ob der Verbrecher noch einen dritten Überfall plant, weiß ich nicht.«
»Es muß ein schrecklicher Gedanke sein, daß der eigene Sohn ihr nach dem Leben trachtet! Sie meinen also, daß er auch in ihr ein Hindernis für die Durchführung seiner Pläne erblickt?«
»Ja – wie soll man sich's sonst erklären? Falls es tatsächlich Ulrich ist, der dahintersteckt.«
Der Inspektor dachte eine Weile nach. Dann schüttelte er den Kopf: »Nur eines ist mir nicht verständlich, mein lieber Hempel, daß Juan Andagola, dieser sympathische Argentinier, der Täter sein soll.«
»Wissen Sie eine andere Erklärung für die Rolle, die das silbergraue Auto spielte?«
»Nein. Aber ich kann an die Täterschaft Andagolas vorderhand noch nicht glauben. Übrigens – Sie haben sich gewiß Andagolas wegen ein Zimmer im Imperial genommen?«
Hempel lächelte nur und verabschiedete sich.
*
Die Gelegenheit, mit Juan Andagola in ein Gespräch zu kommen, bot sich noch am Abend des gleichen Tages im Lesesaal des Hotels Imperial.
Hempel saß dort nach dem Abendessen allein in einer gemütlichen Ecke unter einer großen Stehlampe und war in ein Werk über die Flora Südamerikas vertieft, das er sich erst am Nachmittag gekauft hatte. So hoffte er doch einen Anknüpfungspunkt zu haben.
Die meisten Tischchen waren bereits mit andern Hotelgästen, die sich in die Abendblätter versenkten, besetzt, als Juan Andagola den Saal betrat. Hempel hatte sein Kommen nicht bemerkt, hörte aber, wie neben ihm eine Stimme fragte:
»Verzeihung – ist dieser Platz noch frei?«
Hempel nickte und schob zwei andere Bücher über Argentinien beiseite, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte.
»Oh, Sie interessieren sich für argentinische Flora?« fragte Juan Andagola. »Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf: die Illustrationen sind alles andere als gut. Finden Sie nicht auch?«
»Das kann ich leider nicht beurteilen, da ich noch nicht in Argentinien war, doch hoffe ich, mir bald an Ort und Stelle ein besseres Bild machen zu können.«
»Oh, wollen Sie auswandern?« fragte Juan Andagola interessiert.
Hempel lächelte. »Nein, auswandern will ich nicht. Ich bin Naturforscher und beschäftige mich aus reiner Liebhaberei mit Botanik. Vor allem die Pflanzen der Tropen und Subtropen interessieren mich. Ein etwas abseits liegendes Gebiet, wenn man, wie ich, in Linz lebt. Doch dem will ich jetzt abhelfen, indem ich mich etwas längere Zeit ins Ausland begebe. Gestatten Sie übrigens, daß ich mich vorstelle: Merker!«
»Andagola«, stellte sich der Argentinier nun seinerseits mit einer kurzen Verbeugung vor. »Schade, daß Sie sich nur mit der Flora beschäftigen – es gibt so vieles in Südamerika, das eine Reise wert ist und im Grunde einen langjährigen Aufenthalt lohnt. Falls man nicht gar, wie das vielen Reisenden erging, für immer in jenem herrlichen weiten und freien Lande bleibt.«
»Es ist Ihre Heimat, Herr Andagola?«
»Ja, ich lebe in der Provinz Entre Rios in Argentinien. Es ist meine Heimat geworden. Natürlich kenne ich nach zwanzigjährigem Aufenthalt Land und Leute ziemlich gut. Deshalb erlaubte ich mir auch die Bemerkung über die Bücher hier.«
Hempel, der unbedingt eine Fortsetzung dieses Gesprächs wünschte, knüpfte wieder an seine Reise an.
»Einen Plan für die Reise selbst habe ich noch gar nicht entworfen. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einen Fingerzeig geben könnten.«
»Ich will Ihnen gern bei der Aufstellung einer Reiseroute helfen. Leider bin ich nicht mehr allzulange in Wien, da die Dauer meines Aufenthaltes nur begrenzt ist.«
»Was für ein glücklicher Zufall, daß ich hier Ihre Bekanntschaft machen durfte!«
»Zufall, sagen Sie? Ich glaube nicht an Zufälle. Sie brauchen Auskünfte – ich kann sie Ihnen geben.«
»Ich möchte aber Ihre Zeit durchaus nicht in Anspruch nehmen, da Sie doch nur noch so kurz hier sind.«
»O doch, ohne weiteres dürfen Sie es tun! Mit Ausnahme eines Tages, den wir zu einem Ausflug in die Steiermark benutzen wollen, bin ich jederzeit frei.«
»Sie sind also nicht in Geschäften hier?«
»Nein.«
»Ich dachte schon, daß Sie vielleicht ursprünglich Wiener seien und Ihre alte Heimat wiedersehen wollten.«
Der Fremde zuckte betroffen zusammen. Dann sagte er kühl:
»Ihre Vermutung ist sehr schmeichelhaft; aber ich bin Argentinier. Ich wohne in Solis, in der Provinz Entre Rios.«
Damit verbeugte er sich und ging hinaus, nicht ohne nochmals seine Bereitschaft zu weiteren Auskünften zu betonen.
Aber Hempel berührte irgend etwas merkwürdig. Die Bemerkung, er müsse wohl gebürtiger Österreicher sein, schien den Mann irgendwie getroffen zu haben, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ.