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In der hell erleuchteten Philharmonie brachte Abraham Gebhardt mit dem Philharmonischen Orchester seine große Symphonie »Das Reich der Freude« zur Aufführung.
Die schmächtige Gestalt des Musikers wuchs beim Dirigieren. Alles in und an ihm war Bewegung. Seine hellen, leuchtenden Augen waren bald auf die Bläser, bald auf die Streicher gerichtet. Sein ganzer Mensch war ein einziger Rhythmus. Die blonden Locken tanzten mit. Zu Thomas und Bettina strömten die mächtigen Tonwellen.
Abraham Gebhardt hatte sie eingeladen und an Thomas geschrieben, er halte zu ihm jetzt und alle Zeit.
Der erste Satz war zu Ende.
Eine eisige Stille herrschte.
Als ein paar Hände sich rühren wollten, wurden scharfe »Psts« laut, so daß sofort wieder Ruhe eintrat.
Thomas sah Bettina betroffen an.
»Sie verstehen seine Musik nicht«, erwiderte sie traurig, »diese Musik, die neu und groß ist ...«
Nach dem zweiten Satz entstand ein heftiges Zischen.
Ein großer Teil des Publikums verließ ostentativ den Saal.
Der Musiker drehte sich wie ein verwundetes Tier um und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Wieder setzte das Orchester ein.
Die Zurückgebliebenen hörten kaum noch hin. Man tauschte höhnische Bemerkungen aus.
Als die Schlußakkorde verklangen, begann eine Art von Radaustimmung loszubrechen: Gejohle und Zischen wild durcheinander.
Thomas und Bettina klatschten nicht. Sie sahen, daß das für die anderen nur ein Signal zu neuem Lärm bedeutete.
Abraham Gebhardt blickte in den sich leerenden Saal, während nichts auf seiner Miene verriet, was in ihm vorging. Er betrachtete aufmerksam und gespannt die Menschen, die ihn aushöhnten.
Thomas ließ kein Auge von ihm. »Er führt sie in das Reich der Freude und dafür kreuzigen sie ihn. Das alte, uralte Schicksal derer, die das Licht tragen.«
Er beugte sich zu Bettina herab.
»Sieh, wie das Licht blendet«, flüsterte er.
In der Stunde fühlte er sich mit dem Musiker eins. Auch er hatte in das Reich der Freude, in den erleuchteten Festsaal führen, das Evangelium der Freiheit verkünden wollen. Aber dicht vor dem Tore hatten sie mit Steinen nach ihm geworfen. Der Abend glich seinem eigenen Leben. Tauben Ohren hatte er gepredigt, niemand hatte ihn gehört. Und als er die Stimme lauter und freier erhoben, alle Schranken durchbrochen, alle Hüllen von sich geworfen hatte, waren die ihm Nächsten entsetzt von ihm gewichen.
Wer hatte ihn gehört? – Niemand ... niemand. Ihm gellte das Echo in den Ohren: Steinigt ihn! ... Er sah ihre verzerrten Gesichter ... Steinigt ihn! ...
Bettina drückte seinen Arm.
Da atmete er tief auf und sagte nur: »Ich trete die Kelter allein!«
Und dann sah er wieder in das ruhige Gesicht des Musikers.
Draußen erwarteten sie Abraham Gebhardt.
Es dauerte lange, ehe er kam. Er hatte über den dünnen Hals den Kragen des Mantels geschlagen. Als er sie bemerkte, verklärte ein sanfter Ausdruck seine Züge.
Bettina sagte – und der Musiker fühlte, daß sie die Wahrheit sprach –: »Ich finde Ihre Musik groß, ernst und schön – neu und voller Zukunftskeime!«
Es leuchtete wunderbar über seine Miene. »Wissen Sie«, entgegnete er, »ich habe mich einen Augenblick gefragt, ob ich oder diese Horde den Verstand verloren hätte. Und ich habe mir geantwortet«, fügte er lächelnd hinzu, »daß ich bei Sinnen sei. Und da war aller Zorn in mir verraucht. Zorn ist ein giftiges Kraut! Kommen Sie«, schloß er, »trinken wir auf das Reich der Freude!«
Und Thomas und Bettina folgten ihm. Ein tiefer Frieden war über sie gekommen.
Ganz in der Nähe war eine kleine Weinstube, in der kein Mensch saß.
Rheinwein bestellte der Musiker. Goldenen Rheinwein.
Als die Gläser mit dem funkelnden Naß gefüllt waren, wuchs eine feierliche Stimmung in ihnen auf. Von allem Hader fühlten sie sich abseits.
Hell und rein tönten die Gläser zusammen: »Auf das Reich der Freude!«
Es klang wie ein Gelöbnis. Ernst und bedeutungsvoll blickten sie sich dabei an.