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Im »Goldenen Löwen« saßen die Herren des Stammtisches in erregtem Gespräch. Der Katasterkontrolleur hatte von Ehrwürden, dem neuen Pfarrer, haarsträubende Dinge zu berichten gewußt.
»Sie mögen es nun glauben, meine Herren, oder nicht. An der Tatsache werden sie nichts ändern! Der Herr Pastor kam in das Haus, als unser Doktor die Frau bereits völlig aufgegeben hatte, und der Hausvater und die Kinder flennend und schluchzend an ihrem Lager standen. Die Frau sieht den Herrn Pastor mit aufgerissenen Todesaugen an, und was tut er meine Herren? Er schickt den Mann und die Kinder hinaus und setzt sich neben die Frau hin. Erst spricht er zu ihr leise und läßt keinen Blick von ihr. Dann streichelt er ihre Stirn, legt seine Hand auf ihr Haar, und der Frau ist zuerst, als ob ihr der Kopf springen sollte. Ja, meine Herren, Sie sehen mich an und denken, das ginge alles nicht mit rechten Dingen zu. Aber es kommt noch ganz anders! Der Frau tritt der Angstschweiß auf das Gesicht, und der Herr Pastor beugt sich tief über sie herab und läßt sie nicht aus den Augen. Sie kann sich auch gar nicht von ihm losreißen. Dann ruft er das Dienstmädchen herein, hüllt die Frau in nasse Tücher, packt sie in eine dichte Wolldecke und befiehlt ihr zu schlafen. Hierauf geht der Pastor ganz vorsichtig aus der Stube und sagt zu dem Mann: er sollte auf Ruhe halten, denn seine Frau würde einen tiefen Schlaf haben und wieder gesund werden. Na, und was soll ich Sie noch weiter aufhalten, meine Herren! Die Geschichte traf genau so ein, und jetzt ist die Frau munter wie ein Fisch im Wasser.«
Die Herren hatten gespannt dem Erzähler gelauscht, nun trat eine Unterbrechung ein. Alle waren eine Weile still mit ihren Gedanken beschäftigt.
Der Apotheker, ein kleiner Mann, der einen Vollbart mit ausrasiertem Kinn trug und durch eine blaue Stahlbrille seine Einäugigkeit zu verbergen suchte, kraulte sich auf seinem kahlen Schädel. »Ich muß sagen«, begann er in etwas gespreiztem Ton, »daß ich derartige Vorfälle für höchst bedauerlich halte.«
Der Katasterkontrolleur unterbrach ihn mit einem derben Lachen. »Meinen Sie damit«, warf er spöttisch hin, »daß die Frau ohne ihre Kräuter und Pillen gesund geworden ist?«
Der Apotheker hob überlegen ein wenig die Achseln empor. »Auf solche Attacken zu erwidern, halte ich unter meiner Würde«, entgegnete er streng. »Ich für mein Teil bin der Ansicht, daß in unserer aufgeklärten Zeit, wo die Erkenntnis der Darwinschen Lehre immer weitere Kreise zieht, wo die Wissenschaft von Tag zu Tag, möchte ich sagen, wächst und vorwärts schreitet, solche rückläufigen, ja, ich sage es gerade heraus, solche reaktionären Heilbestrebungen eine unglaubliche Verwirrung anrichten. Der Herr Pastor mag von den besten Ideen geleitet sein, und ich betone, meine Herren, daß ich an seiner Gutgläubigkeit nicht einen Augenblick zweifle – in der Sache selbst stiftet er nur Schaden. Er pfuscht unserem Doktor auf unverantwortliche Weise ins Handwerk und stärkt bei unserer geistig ohnehin nicht gerade regsamen Bevölkerung den Aberglauben und den Überglauben.« Er sah sich im Kreise um und fuhr mit etwas lauterer Stimme fort: »Meine Herren, ich mache hier ganz bewußt eine Unterscheidung zwischen Aberglauben und Überglauben. Sie wissen, ich bin ein guter Protestant und gläubiger Christ. Aber ich bin gegen den Aberglauben, und ich bin noch mehr gegen den Überglauben. Der Glaube in allen Ehren. Den Glauben mag der Herr Prediger in dieser Zeit der Irreligiosität und des Aufruhrs kräftigen und festigen; aber die Leute mit übernatürlichem Humbug zu ködern, dagegen –«
Der Sprecher kam nicht zu Ende. Die Tür öffnete sich, und der Doktor trat ein.
Er wünschte »Guten Abend« und begegnete lauter verlegenen Gesichtern. »Ah«, sagte er und gab seiner Stimme einen ironischen Ton, »ich habe die Herren in einer offenbar sehr anregenden Unterhaltung gestört.« Und während er den Überzieher ablegte, fügte er hinzu: »Sie brauchen sich vor mir nicht zu genieren. Die Sache läßt mich vollständig kalt!«
»Ganz im Gegenteil«, unterbrach ihn eine dünne Fistelstimme.
Sie gehörte einem kleinen, verwachsenen Herrn, der auf seinen schiefen Schultern eine Art von Wasserkopf trug und mit seinen beweglichen, unruhigen Augen jetzt den Doktor anstarrte.
»Wie meinen Sie das, Herr Rechtsanwalt?« fragte der Doktor ein wenig betroffen den Sprecher.
»Ja, sehen Sie«, entgegnete der und fuhr durch sein pfeffergraues, dichtes Haar, »der Fall ist doch interessant, als daß man ihn unerörtert lassen könnte. Der Herr Katasterkontrolleur erzählte soeben, wie Sie erraten haben werden, von der magnetischen Kur des Herrn Predigers, und ich wäre in der Lage, den Herren mit noch ein paar anderen Heilversuchen des Herrn Predigers aufzuwarten, die sich ähnlich abgespielt haben und zufällig zu meinen Ohren gedrungen sind; denn ich glaube, es wird Ihnen bekannt sein, Herr Doktor, daß Ehrwürden nicht selten über Land gerufen werden, nicht nur als Seelsorger, sondern auch – na, Sie verstehen mich schon! Mit einem Wort, ich meine, es ist an der Zeit, einmal ruhig die Sache anzuschneiden, und niemand scheint mir geeigneter, sich über die Dinge zu äußern, als Sie, Herr Doktor, wobei ich selbstverständlich«, setzte er etwas hastig hinzu, »von den materiellen Interessen absehe und mich einfach auf den Standpunkt stelle, daß das letzte Wort in solch einer Frage nur von einem Naturwissenschaftler gesprochen werden kann.«
Nach der etwas langatmigen Rede hielt er inne, und die Herren blickten gleich ihm in neugieriger Spannung auf den Doktor.
Der zwirbelte mit seinen fleischigen Fingern seinen Schnauzbart noch höher hinauf, räusperte sich ein wenig und sagte dann mit einem überlegenen Lächeln: »Die Wissenschaft hat mit den Dingen so gut wie gar nichts zu tun. Sie weist sie samt und sonders in das Gebiet der Kurpfuscherei zurück und läßt ihre Hand davon. Du lieber Gott, wo sollte das hinführen, wenn wir derartiges ernsthaft behandeln wollten. Wenn einer kommt und sagt, er sei imstande die Rose zu besprechen, und der Patient glaubt ihm, so soll er's in Gottes Namen tun. Und wenn der Kranke die Heilung dann auf das Besprechen zurückführt, so sage ich ebenfalls: In Gottes Namen! Nur von der Wissenschaft wird man nicht verlangen, daß sie bei dem Humbug mittut. Es ist das Kapitel vom Volta-Kreuz, in das ich alle die Chosen rubrizieren würde. Das Volta-Kreuz!« Er lachte heiser auf. »Es bleibt immer die alte Spekulation auf die Dummheit der Flachköpfe. Es gibt selbstverständlich Salben, mit denen man jede Krankheit heilt; bestimmte Teearten, die alles Unheil aus der Welt schaffen, und Essenzen, mit denen man bloß die Kopfhaut einzureiben braucht, um die schwersten Krankheiten zu überwinden. Und mit dem Schwindel werden Millionen verdient; man kennt das! Wenn der Arzt nicht mehr helfen kann, geht man zum Kurpfuscher. Der Kurpfuscher hilft immer! Hilft so lange, bis das letzte Glied im Körper verpfuscht ist! Aber das tut nichts. Dem Kurpfuscher wird geglaubt!«
Als niemand einen Einspruch wagte, meinte der Oberförster, ein großgewachsener Mann mit einem faltenreichen, ernstem Gesicht und einem langen grauen Vollbart: »Ich bin nicht ganz der Ansicht des Doktors, der, wie mich dünkt, die Dinge ein wenig durcheinander wirft. Schließlich folgt unser neuer Herr Pastor nur den Spuren unseres Herrn und Heilandes, der doch auf ähnliche Weise seine Kranken heilte: den Lahmen gehen, den Tauben hören machte und einem verblutenden Weibe, dem niemand helfen konnte, rettend zur Seite stand. Und warum«, fuhr er fort, »soll es nicht übernatürliche Kräfte geben, die die Herren von der Wissenschaft nicht erkennen und gelten lassen, weil sie nicht in ihrem Besitz sind? Ich kann es mir sehr gut vorstellen, daß, wenn die Vorsehung dem einen dichterische, oder musikalische, oder was weiß ich für welche Anlagen mit auf den Weg gab, sie den anderen mit geheimnisvollen Kräften ausstattete, die ihm eben einen außergewöhnlichen Einfluß auf seine Mitmenschen einräumen. Mit seinem starken Willen stählt und hebt er den Willen des Leidenden; denn im letzten Grunde«, schloß er, »ist, so seltsam es klingen mag, Leiden und Sterben oft nur eine Sache des Willens. Im übrigen will unser Pastor ja nicht übernatürlich wirken, – fällt ihm nicht im Traume ein. Er glaubt an die Heilkraft des Wassers mehr als an Pillen. Er glaubt, daß er auf den durch Krankheit Geschwächten Einfluß habe. Und das leuchtet mir wenigstens durchaus ein: Ein Arzt muß den Kranken in der Gewalt haben, sonst hol' ihn der Teufel! Sie mögen mich so spöttisch ansehen, wie Sie wollen, Doktor, Sie werden mich von meinen Ideen nicht abbringen.«
»Will ich auch gar nicht«, entgegnete der Arzt. »Jeder muß nach seinem Rezept selig werden. Aber an die übernatürlichen Geschehnisse, die wir nicht zu erkennen vermögen, glauben eben wir von der Wissenschaft nicht. Jesus war in der Tat eine so starke Persönlichkeit, daß er auf gewisse Kranke und, soweit gebe ich Ihnen recht, auf gewisse willensschwache Menschen bedeutend wirkte. Man nennt das«, fügte er dozierend hinzu, »Suggestionen austeilen. In vielen Fällen handelt es sich hierbei um gewöhnliche Hysterie, und ich kann Ihnen aus meiner eigenen Praxis erzählen, daß ich an ein Bett gerufen wurde, wo eine junge Frau nach dem Urteil der Ärzte monatelang gelähmt dalag, so daß sie sich nicht rühren konnte, und wo ich einfach nach Erkenntnis des Falles sagte: Stehen Sie auf, meine Verehrteste, gehen Sie im Zimmer spazieren und in die frische Luft; Sie sind völlig gesund – und ich versichere es Ihnen auf mein ärztliches Gewissen – und siehe da – die Schwerkranke stand auf und war gesund. Also der Herr Oberförster ist einem kleinen Irrtum befangen, wenn er meint, daß die Wissenschaft nicht solche sogenannte Wunderkuren vollzogen, oder die Heilkraft des Wassers geleugnet hätte. Aber sie tat das in vollster Erkenntnis, und ohne sich geheimer Kräfte zu rühmen. Das hat indessen, wie ich bereits bemerkt habe, mit dem sogenannten Magnetismus nichts, rein gar nichts zu tun. Mit dem nämlichen Rechte, mit dem der Herr Oberförster diese Art von Heilmethode verteidigt, kann er uns auch das Erscheinen von Geistern, die man sich nur heranzuklopfen braucht, glaubhaft machen. Die einen nehmen seine Weisheit an, die anderen wehren sich zum mindesten so lange dagegen, bis sie den Geist mit eigenen Augen gesehen haben. Mit solchen Phänomenen hat sich ein Teil der Menschheit zu allen Zeiten fruchtlos abgequält. Man hat Sekten und Gemeinden daraufhin gegründet, und die Gesunden haben schließlich immer über alle die Narreteien und Teufeleien hinweggelacht. Im übrigen –«
» Lupus in fabula!« rief der Apotheker, und aller Augen waren auf die schlanke Gestalt des Eintretenden gerichtet, dessen bartloses, kluges Gesicht mit den dünnen Lippen, der großen, kühnen Nase, der schönen klaren Stirn und den freiblickenden hellen Augen, etwas Respektgebietendes und Überlegenes hatte.
Der Rechtsanwalt rückte sich mit einem schadenfrohen Lächeln den Kneifer zurecht und rieb sich verstohlen die Hände.
Das kann interessant werden, dachte er, wenn die beiden gegeneinander losgehen.
Der Doktor rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her, während der Oberförster dem neuen Gast freundlich Platz machte.
»Hat man mich denn schon gesteinigt?« fragte der Prediger und sah die Herren mit einem klugen Gesichtsausdruck halb lustig, halb forschend an; »denn der Lupus in fabula bin doch ich, und das Verbrechen, dessen man mich zeiht, besteht wohl darin, daß ich dem Doktor ins Handwerk gepfuscht habe!«
»Den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte der Rechtanwalt vergnügt. »Wäre der Herr Pastor fünf Minuten später gekommen, so hätte er bereits das Resultat der Abstimmung vernommen: denn wir standen dicht vor der Abstimmung. Es ging auf die Formel: Wird verbrannt ... wird nicht verbrannt. Und was mich anbelangt, Herr Prediger, ich hätte für das Verbrennen gestimmt, denn ich bin von vornherein gegen Leute, die vor mir etwas voraus haben.«
Der Geistliche ging auf diese witzig sein sollende Erklärung nicht weiter ein. »Ich bitte mich zu entschuldigen«, sagte er einfach, »wenn ich die Beteiligung an der Debatte ablehne. Hier steht Meinung gegen Meinung; da läßt sich schlecht streiten. Ich maße mir nichts Besonderes an, beileibe nicht! Es sind die simpelsten Mittel, mit denen ich kuriere. Aber wenn ich helfen kann, so helfe ich; selbst auf die Gefahr hin, daß ich anderen in die Quere komme und mir selbst Konflikte schaffe; denn die habe ich oft genug gehabt, meine Herren, und auf meine Art auszufechten gewußt. Ich kenne all die Argumente, die die gelehrten Herren und der Pöbel gegen mich vorzubringen imstande sind, zur Genüge. Ich habe sie tausendmal gehört, mich schiert das nicht. Ich will und kann keine wissenschaftliche Erklärung zu den Dingen geben. Meine eigenen Gedanken habe ich mir selbstverständlich oft genug darüber gemacht. Und schließlich kommt es ja für mich auch wirklich nicht auf die Erklärung der Tatsachen an, sondern einfach darauf, zu lindern und zu helfen. Wenn ich ein barmherziger Samariter bin, so bin ich es wider meinen Willen geworden; denn ich selbst habe es eigentlich durch einen Zufall erfahren, daß meine Hände und mein Blick wohltun können.«
Er sagte das mit einem heiteren Ernst und einer freundlichen Sicherheit, die nichts Verletzendes hatte und doch ihrer Wirkung gewiß war. Man sah es ihm an und hörte es bei jedem seiner Worte, er war ein Mann, der fest und ruhig auftrat und wie ein guter Reiter unerschütterlich im Sattel saß.
Der Katasterkontrolleur beugte sich ein wenig über den Tisch. »Ist eine Frage erlaubt, Herr Prediger?«
»Wenn ich Antwort stehen kann, gewiß.«
»Sie sagten, daß Sie durch einen Zufall –«
»Allerdings« unterbrach ihn der Prediger. »Ich war in ein Haus gerufen worden, wo eine todkranke Frau vor dem Sterben geistlichen Trost wünschte. Sie nahm von ungefähr meine Hand und blickte mich in Sterbensangst beständig an. Als sie dann meine Rechte losließ, legte ich sie auf ihren Kopf, ohne mir irgend dabei etwas zu denken; und als ich dann die Hand zurückziehen wollte, wehrte die Frau flehentlich ab. Die Hand täte ihr so gut, meinte sie. Und so saß ich stundenlang an ihrem Bett und half ihr, wenn ich mich so ausdrücken darf, über sie selbst hinweg. Meine Herren, ich habe den Freund Hein nicht von ihrem Lager gescheucht, ich habe die Frau nicht dem Tode entreißen können. Aber seit der Zeit bemerkte ich, daß meine Hand und mein Blick dem Kranken gut tun und sah keinen rechten Grund ein, dem siechen Leib die Hand und den Blick zu entziehen. Vielleicht«, setzte er langsam und etwas schwerfällig hinzu, »gibt es wirklich Dinge, denen man mit dem Grübeln und dem Verstande nicht beikommen kann. Sie wissen doch wahrscheinlich alle, daß es sogenannte Brunnenfinder gibt: Leute, die man oft von weither in wasserdürre Gegenden ruft, damit sie die Stelle entdecken, wo der Brunnen gegraben wird. Sie nehmen in die Hand eine Weidengabel und gehen den Ort auf und nieder, wo gegraben werden soll, und wenn sie an eine Stelle kommen, wo unter der Erde Wasser ist, da zuckt der Zweig in ihren Händen. Dort gräbt man, und dort findet man Wasser. Aber, meine Herren, Sie sind im Irrtum, wenn Sie glauben, daß die Weidengerte in jedes Menschen Hand zuckt. Erklären können Sie die Sache nicht; und dennoch ist sie – sie ist, wie so vieles andere, dem wir auch nicht auf die Spur zu kommen vermögen.«
Der Doktor hüstelte ein wenig, sah auf die Uhr und erhob sich. »Es ist Zeit für mich«, meinte er, während er nach Hut und Stock griff.
Die ganze Unterhaltung war ihm widerwärtig. Er fühlte die stärkere Persönlichkeit des Geistlichen und hielt die Debatte mit ihm für aussichtslos, selbst wenn er mit den ältesten und bewährtesten naturwissenschaftlichen Doktrinen gegen ihn zu Felde ziehen würde. Er fühlte zu seinem Unbehagen, daß ihn selber die Ruhe des Predigers irritierte. Das Volta-Kreuz in den Händen des Geistlichen mußte ja stärkere Wirkung tun, als wenn irgendein gewöhnlicher Hochstapler damit Handel und Wucher trieb. Aber Hochstapelei blieb es, nur gehüllt in das härene Gewand der Christlichkeit.
Er wurde aus der ihm selbst unbequemen Gedankenfolge durch den Prediger herausgerissen, der plötzlich neben ihm stand, ebenfalls zum Gehen gerüstet. Und so lästig ihm seine Begleitung war, er konnte sie schicklicherweise nicht abschütteln und mußte sich noch einen spöttischen Blick des Rechtsanwalts gefallen lassen, der vergnügt schmunzelnd zu ihm hinüberblinzelte.
Auf der Straße, die in Nebel gehüllt war, so daß man kaum ein paar Schritte vor sich sehen konnte, wehte ihnen eine warme, feuchte Nachtluft entgegen.
Der Geistliche unterbrach das Schweigen. »Ich wollte Sie gelegentlich fragen, Herr Doktor, ob Sie nicht Ihren Jungen in die Konfirmationsstunde schicken wollen. Er hat das Alter eigentlich schon überschritten und hätte bereits unter meinem Vorgänger –«
Er hielt inne, da der Doktor unvermittelt stehen geblieben war. Die Geschichte war ihm unangenehm. Auf der einen Seite war es ihm mehr als peinlich, irgendeine Pflicht als guter Staatsbürger zu verletzen; auf der anderen widerstrebte es ihm, mit dem Geistlichen in eine nähere Berührung zu kommen, und dennoch war er in einer so eigentümlichen Stimmung, daß er nicht den Mut fand, die Sache hinauszuschieben. Er fühlte sich auch geärgert, daß er an eine so wichtige Sache erinnert werden mußte.
»Ich werde Ihnen morgen den Jungen hinschicken«, sagte er rasch, »und nun verzeihen Sie, wenn ich mich von Ihnen verabschiede, ich habe noch einen Gang vor.«
Der Geistliche nickte, und die Herren trennten sich, indem der Doktor etwas ungeschickt einen gewissen inneren Abstand durch die Förmlichkeit seines Grußes anzudeuten suchte.
Der Geistliche fühlte das heraus und lächelte still in sich hinein.
Als der Arzt um die nächste Ecke gebogen war, beschleunigte er seine Schritte. Er war erregt und auf sich selbst unwillig. Die ganze Geschichte kam ihm wie ein fataler Rückzug von seiner Seite vor. Er hätte das Gesalbader mit ein paar überlegenen Bemerkungen abtun müssen; unter keinen Umständen hätte er zu dem pastoralen Erguß schweigen dürfen. Er ging rascher seines Weges. Fast aus keinem der Häuser drang ein Lichtschein auf die Straße. Die Fensterläden waren geschlossen, und die Wege waren dunkel. In dieser kleinen Stadt machte man früh Feierabend, und bevor die zehnte Stunde geschlagen, ruhte alles in tiefem Schlaf.
Der Doktor seufzte. Was für ein verhungertes Studentenleben hatte er gehabt, und nun lag er eigentlich eingesargt und begraben in dem gottverlassenen Nest. Er konnte sich satt essen und satt trinken. Insoweit war die Spekulation richtig gewesen. Aber ein wirkliches Heim hatte er nicht, denn da, wo er von Rechts und Ehe wegen hingehörte, gab es keinen Zusammenhang. Er fühlte es, daß sein Junge das geistige und seelische Erbteil von der Mutter hatte; und zuweilen war in ihm eine Art von verbittertem Groll gegen diese Frau aufgestiegen, die ihn mit ihrem Schweigen von sich gewiesen, zwischen ihm und sich eine Bergwand aufgebaut und sein eigenes Kind ihm entfremdet hatte. Das war sein Schicksal, daß er nachts sich fortschleichen mußte, daß er neue Ketten auf sich genommen hatte, die er bereits zu spüren begann. Ein verstecktes Lächeln verzerrte seine hübschen, ausdruckslosen Züge. Er sah es trotz der Dunkelheit. Er sah es, als ob er statt der Nebel- eine Spiegelfläche vor sich hätte. Er schritt noch kräftiger aus, bis er endlich vor einem kleinen Gehöft stand, das von der Stadt bereits weit entfernt, außerhalb ihres Weichbildes lag. Er zog leise an der Glocke. Hundegekläff antwortete ihm.
»Still, Kartusch, still«, beruhigte er mit gedämpfter Stimme das Tier. Er mußte eine ziemliche Weile warten, dann hörte er den Schlüssel knacken, und von innen fragte eine Stimme: »Bist du's?«
»Bin's«, gab er kurz zurück.
Der Schlüssel drehte sich, und vor ihm stand eine kräftige, offenbar noch junge Frauensperson, die in der linken Hand eine kleine Laterne trug: Über den Kopf hatte sie ein Tuch geschlagen, das bis zu den Schultern reichte. Sie hatte eine weiße Nachtjacke an und sah müde und verschlafen aus.
»Du kommst aber spät«, murrte sie und schritt ihm voran in die Wohnräume, die im ersten Stock lagen, während sich die Wirtszimmer im Souterrain befanden. Sie stellte die Laterne auf den Tisch und zündete im Wohnzimmer die Hängelampe an. Dann nahm sie mit breiter Bewegung ihr Tuch vom Kopf, so daß man jetzt ihren nackten Hals und ihren starken Busen sehen konnte, der aus der geöffneten Nachtjacke schneeweiß hervorquoll. Sie rieb sich mit der Hand die etwas müden, schmal geschlitzten, noch schläfrigen Augen und ließ sich auf dem breiten, schwarzledernen Sofa nieder, das im Hintergrunde des einfachen Zimmers stand. »Einen aus dem Bette aufzustören«, sagte sie und zog den locker umgeworfenen Rock, der herabzurutschen schien, wieder zurecht.
Mit ihren breiten Hüften, dem großen, sinnlichen Mund, der kecken Stupsnase und der niedrigen, schräg abfallenden Stirn, an die sich dicksträhniges, braunes Haar schloß, das ihr jetzt aufgelöst über die weiße Jacke fiel, hatte sie für den Doktor etwas Anreizendes und Lockendes. Das war das Kostüm, in dem sie am stärksten auf ihn wirkte. Da gab es nichts Geistiges, das ihn störte – und sie wußte das und pochte darauf. Mit dem Instinkte ihrer Frauennatur vermochte sie aus dem großen Menschen mit dem martialischen Aussehen mühelos die Mannesdemut herauszuschälen.
»Mach nicht so ein böses Gesicht«, sagte er in schon bettelndem Ton.
»Ach was!«
Er ließ sich an ihrer Seite nieder und wollte seinen Arm um ihren Rücken legen.
»Laß man«, rief sie unwirsch.
»Was macht das Kind?«
Sie sah ihn von der Seite scheel und zugleich forschend an. »Du fragst viel nach mir und dem Wurm!«
Ihr Ton reizte ihn und tat ihm doch gleichzeitig wohl. Er hatte es in seinem Innern gern, wenn sie ihn klein machte und mit ihm haderte, das erregte ihn merkwürdig.
»Wie kannst du nur so reden, du weißt, wie ich an dir hänge.«
»Weiß ich?« Sie stützte die Ellbogen auf ihren Schoß.
»Sei doch gut«, bat er von neuem. »Ich komme müde und gehetzt zu dir, kann vor Ärger und Sorgen nicht aus noch ein, und du machst ein brummiges Gesicht. Schäm dich, Marinka!«
Sie lachte kurz auf. »Was für Sorgen und was für Ärger hast du denn?«
Er rückte noch näher an sie heran, und ohne daß sie widerstrebte, wurde er nun zärtlich. »Du mußt jetzt doppelt gut zu mir sein! – Sieh mal, es ist doch keine Kleinigkeit, wenn einem die Frau krank und elend daliegt, so daß man kein Ende absehen kann, und wenn einem obendrein noch die Patienten weggeschnappt werden.«
Auf die Züge der Frau trat etwas Lauerndes. Sie richtete sich ein wenig empor, und auf ihr volles Gesicht fiel nun das grelle Licht der übelriechenden Petroleumlampe. »Was fehlt ihr denn?«
Der Doktor wandte sich ab. Da nahm sie seine beiden Hände und streichelte sie.
»Sie hat's auf den Lungen!«
»Ja«, antwortete er.
Sie schwiegen beide eine Weile.
»Glaubst du, daß sie wieder gesund wird?« nahm die Frau das Gespräch wieder auf.
»Gesund? – Nein!«
Die Frau legte jetzt ihre Rechte auf seinen Schenkel. »Muß sie sterben?« fragte sie etwas leiser.
Der Doktor sah starr in ihre Miene. Sie hielt seinen Blick ruhig aus.
»Wir müssen alle sterben!« sagte sie gleichmütig. »Der eine früher, der andere später!«
Ihre ruhige und gelassene Art gab ihm seine Fassung wieder. »Sie muß sterben. Aber so etwas kann sich lange hinschleppen.«
Wieder verstummten sie.
Dann setzte sie sich plötzlich auf seinen Schoß. Ihr Rock fiel wieder ein wenig herab, ohne daß sie es beachtete. Ihm trat das Blut bis in die Schläfen.
»Nimmst du mich dann zu dir ins Haus?«
Er nickte nur noch.
»Und wirst du mich dann heiraten?«
Er wich ihr aus.
»Ob du mich heiraten wirst?« wiederholte sie in ihrem eindringlichen, Antwort heischenden Ton.
»Ja!« entgegnete er unsicher.
Sie erhob sich unvermittelt. Er schritt in dem Zimmer auf und nieder. Als sie wieder hereinkam, trug sie in ihren Armen ein kleines, pausbäckiges Mädelchen. »Sieh nur zu, wie lieb es aussieht«, sagte sie, und ihre Stimme war plötzlich ganz verändert. Zärtlich, freundlich, mütterlich gütig, als ob sie eine ganz andere im Hinausgehen geworden wäre. »Es plappert in einem fort von seinem Papa.«
Sie gab ihm einen Klaps und sah ihn wieder herausfordernd an. »Nun sei einmal gut zu ihm und küsse es«, bat sie schmeichlerisch.
Er beugte sich zu dem Kinde herab. Er fühlte, daß sie einen Willen über ihn hatte, dem er sich nicht entziehen konnte. Ihr derbes, gesundes Wesen, das nicht viel Federlesens mit ihm machte, tat ihm in solchen Stunden wohl.
Sie brachte das Kind, das unruhig zu werden begann, wieder in sein Bettchen. »Kindchen muß still sein, Kindchen muß brav sein«, hörte er aus dem Nebenzimmer, und dann, wie sie ihm vorträllerte: »Schlaf, Kindchen schlaf.«
»Ein verflixtes Weibsbild«, dachte er.
Sie kam wieder herein und hielt ihm ihren Mund zum Kusse entgegen. Sie war bedeutend kleiner als er, so daß er sich gehörig bücken mußte. Nun hielt sie ihn mit ihren kräftigen, fleischigen Armen fest und grub ihre Lippen in die seinigen. Als sie ihn losließ, bemerkte sie, wie rot und verlegen er aussah. Sie stemmte die Hände in die Hüften und lachte laut auf, so daß er ihre großen, weißen Zähne sehen konnte, die so gesund waren, wie sie selbst. Dann zwang sie ihn, sich wieder neben sie auf das Sofa zu setzen, und drehte ihm den Schnurrbart zurecht, der draußen in dem feuchten Nebel und nun beim Küssen aus der Fasson gekommen war. »So'n Schnurrbart«, sagte sie vergnügt, »hatte mein seliger Vater, der Feldwebel war.«
Sie merkte sofort, daß ihm der Vergleich nicht gerade wohl tat, und mit einem schlauen Seitenblick lenkte sie schnell zu etwas anderem über. »Ärgere dich doch über den Pfaffen nicht«, sagte sie. »Wenn einer sein Bein bricht, dann soll es der Pfaffe ihm erst gerade machen – den Tod und Teufel täte ich mich ärgern.«
Er küßte sie auf den Hals und ließ sich wohl sein, während sie durch sein Haar fuhr. Sie löschte auf einmal die Lampe aus, und indem sie ihn mit sich zog, brachte sie in gedämpftem Ton und doch ganz deutlich die Worte hervor: »Man sollte so einem armen Menschen das Sterben leichter machen«, und bekräftigend fügte sie hinzu: »Das wäre Christenpflicht!«
Der Doktor entgegnete nichts mehr.