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XIV.

Was nun kam, war schön und gut, trotz mancher Bitternisse und mancher Enttäuschungen.

Die Leute vom »Festsaal« arbeiteten mit einem wahren Feuereifer. Und wenn sie zuerst ungelenk, hilflos und ungeschickt im Vertriebe ihres Blattes waren, wenn sie bald merkten, daß die Öffentlichkeit sie entweder totschwieg, oder mit kurzen, höhnischen Bemerkungen einfach abtat, so konnte sie das nicht ernüchtern oder gar in ihrer Arbeit hemmen.

Auch begann das Blatt allmählich doch leise Wirkungen zu tun. Der und jener meldete sich, und Heinsius, der die Expedition leitete, konnte zur Genugtuung des Kreises bald feststellen, daß man auch in anderen großen Städten Boden gewann.

Freilich, Thomas merkte schnell, wie das erhobene Kapital zusammenschmolz, wie ungeheuerlich die Kosten waren, wie gering die Einnahmen.

Er wollte sich darüber kein Kopfzerbrechen machen. An den materiellen Dingen durften die Ideen der Zukunft nicht scheitern. Es war ihm klar, daß er den letzten Groschen, den letzten Rock hergeben würde, wenn es galt, die Sache, die er auf sich genommen, durchzuführen. Er wuchs in dieser Zeit. Er vergaß das, was an ihm genagt hatte. Die neue Arbeit trug ihn über die Vergangenheit hinweg. Er hatte sich als ein junger Mensch vergafft und verliebt und den geraden Weg, der seiner Natur und seinem innersten Wesen entsprach, verlassen. Er hatte in seinem lauteren Empfinden Schiffbruch gelitten; aber sein Bankerott war schließlich doch ein ehrlicher gewesen. Er blieb sein eigener Gläubiger, der mit sich selbst auf anständige Weise akkordiert hatte. Vor ihm lag das ganze Leben. Und dieses Leben wollte er ausleben in Reinheit und Wahrhaftigkeit.

Sein treuester Bundesgenosse war die Brose. Sie half ihm bei der Redaktionsarbeit und tat alles in schweigender, fast unheimlicher Ruhe. Sie war stets da, wenn man sie brauchte, und dabei von einer Arbeitskraft, die nie versagte. Sie schrieb auch selbst für das Blatt. Merkwürdige Sachen, oft sprunghaft im Gedanklichen, aber von einer seltenen Energie des Ausdrucks und einer frappanten Selbständigkeit in der Betrachtung der Dinge. Sie verfügte über eine beißende Kritik, die immer auf ihr Ziel losging, keine Schleichwege kannte, und in ihrem rücksichtslosen Drauflosgehen gefährlich für die Veröffentlichung war.

Das war den Redakteuren des »Festsaales« gerade recht, zumal Heinsius, für den der Ton der Aufsätze nie scharf genug sein konnte.

Diese jungen Leute kannten noch nicht die Vorsicht der Zeitungsmänner. Furcht und Bedenken gab es für sie nicht. Sie waren stürmisch bewegt von ihrem Wollen und ihrem großen Freiheitsdrange, sie waren erfüllt von Zukunftsrausch und Hoffnungen. Und ihre bewegten Seelen brauchten einen starken Ausdruck für das, was sie feierlich und hoch stimmte.

Dennoch kam es in der Redaktion oft zu stürmischen Debatten.

Thomas war derjenige, der aufbauen wollte, der immer und immer wiederholte: »Kinder, ich will die Menschen in einen Festsaal führen, ich will alles Lebensfreudige in ihnen wecken, ich will, daß jeder seine Augen aufreiße und das Leben als etwas Schönes und Heiliges zu betrachten lerne. Jeder soll sich auf seine großen und guten Empfindungen besinnen, auf seine Menschenwürde, und in dem niedrigen und erbärmlichen Kampfe, den er führt, wo er ohne Nachdenken und Mitleiden über den ersten besten wie über einen Leichnam hinwegschreitet, soll er für eine kurze Weile wenigstens Waffenstillstand schließen. Ihr reißt nieder und seid erst eigentlich froh, wenn Ihr nur Schutt und Trümmer seht!«

Auf solche Einwendungen pflegte Heinsius regelmäßig zu erwidern: »Sie sind ein Träumer, aber die Sache der Freiheit, der neuen Welt- und Lebensanschauung braucht Menschen von Ihrem Schlage.« Und während seine eingefallenen Backen eine trockene Röte belebte, fuhr er fort: »Wir sind Totengräber und wollen es sein. Wir wollen nicht schwärmen. Wir wollen Sterbelieder singen, die ihnen in den Ohren gellen sollen.« Es flackerte unruhig in seinen Augen, als er bitter hinzusetzte: »Ein Mensch wie ich muß seine Zeit wahrnehmen!«

Thomas erkannte bald, daß das ewige Streiten und Zerren nicht förderte. Er hatte auch vor der Festigkeit, mit der Heinsius, Fründel und die Brose auftraten, einen inneren Respekt.

Diese Menschen waren so fertig, so in sich abgeschlossen, während er noch immer tastete und zu immer neuen Erkenntnissen sich durchzuringen suchte. Er war auch zu ehrlich, um seine Unsicherheit zu verbergen. Jeder Satz, den er sich entwand, kostete ihm Anstrengung und unsagbares Nachdenken. Er kam sich so verantwortungsvoll vor. Wenn etwas gedruckt vorlag, so war es da und nicht mehr auszuradieren. Man mußte als ehrlicher Mensch Silbe für Silbe dafür aufkommen.

Damals wußte er noch nicht, daß seine Vorsicht und seine Zaghaftigkeit, die er den anderen gegenüber zuweilen als einen Mangel empfand, nicht nur aus seiner schweren und gewissenhaften Natur floß, sondern auch in seiner tieferen Bildung und seinem reicheren Wissen begründet lag.

Ich bin eben noch zurück, sagte er sich zuweilen, ich muß mich erst zu dem Ziele durcharbeiten, an dem die anderen schon angelangt sind.

Freilich gab es auch Stunden, wo er unbeugsam war und mit Fründel hart aneinander geriet. War er zu einem für ihn sicheren Resultate gelangt, zur klaren Beurteilung irgendeiner Sache, so konnte ihn der Mechaniker, der in jedem Falle die radikalste Ansicht vertrat, nicht umstimmen.

In solchen Wortwechseln fielen die heftigsten Ausdrücke. Man schlug mit den Fäusten auf die Tischplatten. Die Möbel der Mansardenstube krachten und stöhnten, die Gesichter wurden heißrot, und keiner war geneigt, dem anderen zu weichen.

Fründel hatte eine raffinierte Art, Thomas zu verletzen. Er suchte förmlich nach Vokabeln, die ihn verwunden sollten. Einmal warf er ihm vor: »Sie sind ein Semmelblonder, ein Angstmeier, der sich bequem im Lehnstuhl räkelt und sanftmütige Redensarten macht.«

Thomas hatte ihm schweigend zugehört, aber nie zuvor hatte man ihn in solcher Erregung gesehen. Er wurde ganz blaß und sprach zunächst kein Wort. Er maß nur den anderen, während sein Atem immer rascher ging, mit einem langen Blick: »Ich weiß«, entgegnete er endlich, »worauf Sie anspielen! Aber unter keinen Umständen gebe ich Ihnen das Recht, in dieser wegwerfenden Weise mit mir zu reden. Ich verlange von Ihnen das Maß von Achtung, das zum Zusammenarbeiten mir notwendig erscheint. Ich könnte Ihnen in derselben Tonart erwidern, ich sage Ihnen aber nur, daß für mich Kraftmeierei und Aufgeblasenheit ebenfalls etwas Freiheitswidriges und zu Bekämpfendes sind, und ich dulde unter keinen Umständen« – bei den Worten machte er eine kleine Pause – »nein«, wiederholte er, »ich dulde unter keinen Umständen diesen Ton. Rennen wir mit den Köpfen gegeneinander, verteidige jeder seine Anschauungen bis aufs äußerste, und mögen dabei Worte fallen, stark, heftig, schonungslos, aber so weit darf es denn doch nicht gehen, daß man den Charakter desjenigen, mit dem man Seite an Seite kämpft, verdächtigt. Und warum Ihr ganzer Ausfall? Weil ich mich dagegen wehrte, daß der Mörder der Kaiserin Elisabeth im ›Festsaal‹ glorifiziert würde.

Ich begreife«, fuhr er aufatmend fort, »daß jemand mit leerem Hirn und verhungertem Magen, der seiner ganzen Anlage nach unter dem Drucke seiner Volksgenossen, seiner Brüder gelitten und geblutet hat, plötzlich den Verstand verliert und auf die Idee kommt, man könnte durch Meuchelmord bessere Zustände schaffen ... Ich verstehe auch noch, daß solch ein Mensch sich in Märtyrer- und Heilandsideen hineinlebt ... Ich begreife das alles und mache die Gesellschaft mit verantwortlich, daß in einem Menschenhirn so entsetzliche Dinge wachsen und zur Tat ausreifen konnten.

Aber solches Tun billigen, es etwa gar als vorbildlich hinstellen zu wollen, ist etwas, wogegen ich mich sträube und immer sträuben werde. Ich halte das, um mich gelinde auszudrücken, für wahnwitzig. Wenn ein Verrückter, Entgleister, Verworrener eine unschuldige, edle Frau, die zufällig auf dem Thron sitzt, im Hinterhalte ermordet und so den Volksgram zu lindern wähnt, so sage ich mir einfach, das ist ein Mensch, dessen Denkvermögen verkrüppelt war.«

An dem Tage, wo Thomas zu Fründel diese Worte sprach, war so ziemlich alles, was am »Festsaal« Anteil hatte, versammelt, und Thomas empfand deutlich die Wirkung seiner leidenschaftlich hervorgestoßenen Worte.

Nur auf den Mechaniker hatten sie keinen Eindruck gemacht.

Er stand ihm mit verschränkten Armen kalt lächelnd gegenüber, er blinzelte kaum merklich zu der Ingolf hinüber, die bebend zu Boden sah, aber bei seinem Blicke die Augen angstvoll aufschlug.

Sie sah den höhnischen Zug um seinen Mund, den sie so gut kannte und fürchtete. Und obwohl sie im voraus jedes seiner Worte zurückwies, obwohl ihr vor seiner Antwort schauderte, so liebte sie ihn in dieser Stunde, wo alle gegen ihn waren, stärker denn je.

»Es kommt nicht darauf an«, erwiderte er kurz, »ob ich Sie verletzt habe – persönliche Empfindungen sind mir in solchen Sachen gleichgültig – für mich handelt es sich nur darum, wie man sich in der Sache prinzipiell zu stellen hatte –«

Er hielt einen Augenblick inne, ehe er langsam, leise und doch für jeden vernehmbar fortfuhr: »Da ich Terrorist bin, so stehe ich auf dem entgegengesetzten Standpunkte wie Sie. Ich halte eine solche Tat nicht für Wahnsinn, nicht für den Ausfluß eines kranken Hirns, sondern für die letzte Erkenntnis der Todesmutigen.« Und mit zynischem Lächeln sagte er: »Es ist der Witz vom Gegengift. So simpel das ist«, setzte er ironisch hinzu, »so wenig sind gewisse Leute geneigt, aus ihrem Denken die letzten Konsequenzen zu ziehen. Herr Thomas Truck, Sie nehmen es mir nicht übel«, schloß er, indem er die Schultern ein wenig emporhob, »wenn ich mich darin etwas von Ihnen unterscheide.«

Eine Weile schwiegen alle verblüfft. Niemals hatte Fründel in diesen Dingen seine Überzeugung so unverhüllt ausgesprochen wie heute. Sie empfanden ein Grauen vor ihm.

Selbst Heinsius konnte sich eines unheimlichen Eindrucks nicht erwehren. Dieser Mensch berechnet alles mathematisch, dachte er, Gefühl gibt es überhaupt nicht mehr bei ihm. Und verstohlen betrachtete er ihn von der Seite.

»Sie sind Terrorist?« fragte Blinsky endlich.

Wieder lächelte der Mechaniker überlegen. Er sah den kleinen Mann, der so ängstlich die Frage an ihn stellte und mit seinen erweiterten, kranken Augen ihn dabei so hilflos anstarrte, mitleidig an. »Ich habe nichts mehr zu bekräftigen und nichts mehr abzuschwächen«, antwortete er, dann ließ er die Arme fallen und winkte der Ingolf zum Gehen. Thomas trat ihm ruhig in den Weg.

»Ich will nicht, daß, bevor Sie uns jetzt verlassen, eine Unklarheit, irgendein Rest übrigbleibe. Es ist gut, daß es zu einer klaren Aussprache gekommen ist. Es ist gut, daß wir wissen, wo unsere Wege sich trennen. Denn niemals werden Sie für solche Anschauungen im ›Festsaal‹ Unterstützung finden. Wir wollen nicht noch mehr Verwirrung anrichten, und darum wehren wir uns gegen Sie!«

Der Mechaniker erwiderte nichts mehr. Er hatte die Lippen fest aufeinander gebissen, um seine Nasenwinkel zuckte es kaum merklich.

Die Ingolf folgte ihm lautlos.

»Sie werrden sehen«, jammerte die Lissauer nach langem Schweigen, »derr wirrd uns alle ins Unglück stirrzen.«

»Schweig«, schrie Lissauer sie grob an, »und steck dich nicht dazwischen!«

Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu.

Man ging gedrückt auseinander. Aber noch lange zerbrach sich Thomas den Kopf über das, was vorgefallen war.

Was ist das für ein Mensch, grübelte er, und eine helle Angst überkam ihn. Wir werden ihm nicht folgen, aber auch niemals werden wir auf ihn einen Einfluß gewinnen. Der ist festgeschmiedet, der ist nicht mehr zu biegen und zu brechen. Und diese Abgeschlossenheit Fründels beunruhigte ihn auf das tiefste.

Was wird das Ende von alledem sein? fragte er sich verstört. Wie muß das Ende sein?


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