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IX.

Es kam der Abend. Thomas hatte keine Lampe angezündet, er fürchtete sich vor dem Licht. Das Dunkel und die Finsternis stimmten besser zu seinen unruhigen Gedanken. Er durchmaß aufgeregt die kleine Kammer, zuweilen hielt er inne und lauschte. Aber es blieb still, kein Geräusch regte sich, eine Totenruhe umgab ihn. Es war ganz schwarz in dem Zimmer, und keinen Gegenstand konnte sein Blick durchdringen. Er setzte sich auf das Sofa und drückte die Hände gegen die Augen. Und nun sah er aus dem tiefen Dunkel erlesene Farben leuchtend hervortreten. Einmal hatte die Finsternis goldene Reifen bekommen, in denen Regine wie ein seltsames Bild eingerahmt war. Und plötzlich löste sich der Hintergrund in eine weiße Lichtgestalt auf – und das war sie. Da nahm er erschreckt die Hände fort. Und nun horchte er jählings auf und hielt den Atem an. Er hörte ihren Gang – sie war es, sie mußte es sein. Er öffnete mit unsicheren Fingern die Tür, und am Geländer tastend, schritt er die Stufen der ersten Treppe hinunter. Auch auf der Treppe dieses Hauses war kein Licht – aber plötzlich stand er ihr gegenüber, und ihre Hände fanden sich ohne Worte. Einen Augenblick standen sie so still und fühlten nur ihren Atem. Aber dann machte sie sich los und schlang ihre Arme um ihn.

»Da bin ich«, sagte sie und küßte ihn durch ihren Schleier hindurch.

»Du ... Du ...« stammelte er verwirrt. Es war aber ganz hell um ihn; der Himmel hatte sich geöffnet, und Engel in weißen Kindergewändern jauchzten ihm zu. Das dauerte nur ein Sekunde.

Sie hatte sich in seinen Arm gehängt, und vorsichtig führte er sie hinauf, behutsam, wie ein zerbrechliches Wesen, das schon durch eine unglückliche Bewegung Schaden nehmen konnte.

Er wollte Licht anzünden, aber sie sagte bloß: »Bitte, bitte«, und da ließ er es dunkel.

Und wieder küßte sie ihn; aber diesmal hatte sie den Schleier ein wenig gehoben. Er zog sie so heftig an sich, daß sie aufschrie, aber sogleich sagte sie, daß das nichts zu bedeuten habe.

»Ich wußte, daß du kommen würdest.«

»Ja«, entgegnete sie, »ich wartete nur auf deinen Ruf. Du mußtest mich ja rufen.«

Er zog sie ans Fenster, das er öffnete. Das Schneegestöber fuhr ihnen in die Gesichter, und sie lachten wie Kinder. Aber er bekam Angst, sie könnte sich erkälten, und schloß hastig den Flügel. Nun zündete er Kerzen an.

Sie stand in einem englischen schwarzen Tuchjackett da, das ganz schlicht und einfach war; auf dem Kopfe trug sie einen gewöhnlichen grauen Filzhut, der nur durch eine Hahnenfeder geschmückt war. Niemals hatte sie ihm besser gefallen als in dieser Tracht. Sie sah wie ein taufrisches Mädchen aus, wie ein kleines schlankes Fräulein. Und sie fühlte das. Ihre Züge hatten etwas Keckes, Unternehmendes, Leuchtendes.

»Oh«, meinte sie, »wie schön ist es, zu seinem Liebsten zu schleichen. Nie wußte ich, daß das so schön sein könnte!«

Bei diesen Worten jedoch drehte sie sich um und mied ihn.

»Komm«, bat sie leise.

Er zog den Mantel an, und wieder verschleierte sie sich. Und der weiße Schleier mit den schwarzen Punkten gab ihr einen besonderen Reiz. Sie legte ihren Arm in den seinigen, und trotz der Dunkelheit sprangen sie wie Kinder sorglos die schiefen Stiegen hinab. Sie spürten es nicht, daß unten auf der Straße ein harter Wind ihnen entgegenschlug und ihre Haare zerzauste. Sie schmiegten sich enger aneinander und gingen durch das Schneegestöber und Lichtgefunkel wie ein verliebtes, junges Paar.

»Wunderst du dich denn nicht, daß ich bei dir bin?«

»Nein, ich wundere mich nicht.« Und das »Du« durchdrang ihn wie ein linder, süßer Feuerstrom. In dieser Stunde war er stark sondergleichen. Er hatte die Kraft eines Bären, dem niemand nahekommen durfte.

»Mein Mann ist verreist. Er hat Aufsichtsratssitzung.«

Die Erklärung ihres Kommens ernüchterte ihn einen Augenblick. Er wollte es gewaltsam vergessen und glaubte schon damit fertig zu sein, als er an der Ecke der Straße zusammenschrak. Ein Herr mit einem grünen Tiroler Hut, einem zerschlissenen, grauen Mantel war an ihnen vorübergehuscht.

»Ist dir etwas?«

»Nein?« Sie drückte ihn inniger an sich, und der Herr, dessen dünnes, rotes Haar unter dem Tiroler Hut nur noch matt aus der Ferne herüberschimmerte, war vergessen. Er atmete wieder befreit auf.

»Ich bin jung«, sagte er mehr für sich, »ich habe das Recht zur Liebe und zum Leben.« Und noch einmal wiederholte er es sich: »Ich bin jung.«

»Niemand sieht mich, und niemand erkennt mich«, unterbrach sie glückselig die Stille.

»Und wenn dich jemand erkennt?«

»Nein, niemand erkennt mich!«

»Und wenn doch?«

Sie blieb stehen und sah befremdet in seine gespannten Züge. »So würde es nichts schaden«, erwiderte sie leise. »Ich liebe dich ... ich liebe dich.«

Die Menschen drängten an ihnen vorüber. Alles eilte in dem störrischen Wetter nach Hause. Doch die beiden hatten keine versorgten und verkümmerten Gesichter. Sie lachten und sprachen laut und fröhlich mit einander, und Thomas summte es durch den Kopf: O Welt, wie bist du wunderschön! Auf sein heißes Gesicht fielen die Schneeflocken und taten ihm wohl. Und die bittere Kälte ging durch seine Glieder und stärkte ihn. Er dachte nur eines: dieser dunkle Winterabend möchte nicht enden.

Einmal starrte ihnen jemand dreist ins Gesicht, so daß Regine zusammenzuckte; aber gleich darauf lächelte sie wieder.

Sie kamen in ein Weinrestaurant der Friedrichstadt. Ein befrackter Kellner, diensteifrig, mit einem unterwürfigen Gesicht, machte eine einladende Handbewegung und führte sie in ein kleines elegantes Zimmer.

»Wenn die Herrschaften mich brauchen, so bitte ich zu klingeln«, sagte er diskret und verschwand sofort wieder.

Sie sah sich neugierig in dem Raum um, zog das Jackett aus und stand in einem bescheidenen braunen Kleide vor ihm.

Sie klatschte ein wenig in die Hände. »Zu wissen, daß du mich lieb hast!« rief sie wie verzückt. »Komm, zieh mir die Handschuhe aus.«

Er versuchte es und stellte sich dabei ganz ungeschickt an.

»Ach, was bist du für ein Bär«, lachte sie. »Nein, nein, du bist kein Bär. Du siehst aus wie ein verkleideter Fürst.« Und ganz ernsthaft setzte sie hinzu: »Es würde mich nicht wundern, wenn du plötzlich ohne viel Aufhebens sagen würdest: Ich bin der Fürst Schuwalow.«

»Weshalb gerade Schuwalow?« fragte er erstaunt.

»Ach, nur so, nämlich ein russischer Fürst wäre mir am liebsten.«

»Muß es ein Fürst sein?«

»Es muß nicht, denn in dieser Stunde bist du für mich ein Fürst.«

»Ich bin es!«

»Ich glaube, du bist es wirklich, du verstellst dich und hältst alle Welt zum Narren. Du wohnst in einer Dachkammer, weil du all der Pracht müde bist. Ach«, sagte sie, »es muß zu schön sein!«

Etwas klang durch ihr lustiges, einfältiges Reden, das ihn traurig machte.

»Komm, laß uns einkaufen, ich will bei dir oben essen.«

Er nickte nur und klingelte.

Der Kellner kam auf der Stelle.

»Sie ...« Thomas stockte und wußte im Augenblick nicht, wie er die gnädige Frau titulieren sollte. Und ganz hilflos brachte er die Worte hervor: »Wir müssen doch nach Hause.« Er drückte dem Kellner einen Taler in die Hand.

Der Garcon verbeugte sich tief, redete ihn mit »gnädiger Herr« an und reichte ihm den Mantel – und wieder waren sie auf der Straße.

Es war zu seltsam, es war zu merkwürdig, es war zu schön!

Und auf einmal hielt er seine Schritte an und fragte sie: »Sage mir, ob ich träume, sage mir, ob ich wach bin.«

»Du bist wach«, antwortete sie glücklich.

Sie gingen in einen Delikateßladen. Die gnädige Frau kaufte ein: ein halbes Viertel Astrachaner Kaviar, ein halbes Viertel Spickgans, ein halbes Viertel Zunge, ein halbes Viertel geräucherten Lachs, ein halbes Viertel Blasenschinken, eine kleine Dose Brie und Gorgonzola und ein Viertelpfund Butter. »Willst du noch etwas, Kind?« fragte sie.

»Nein«, stotterte er verlegen und gab seinen Zettel an der Kasse ab. Er bezahlte gegen fünf Mark. Es kam ihm in diesem Augenblick lächerlich wenig vor. In einem Teegeschäft wurde Tee gekauft. Dann trat man den Heimweg an.

Die alte Frau, bei der Thomas wohnte, sah ihn wirr und verständnislos an; sie begriff ihn nicht. Sie verstand auch nicht, daß die gnädige Frau sie um Teller, Bestecke und ein Tischtuch bat. Die gnädige Frau ging mit ihr in die Küche, und die Alte humpelte unterwürfig an ihrer Seite. Nach einer Weile kam sie wieder herein. Sie hatte kein weißes Tischtuch, nur eine rotgepunktete Kaffeekränzchendecke, aus früheren Tagen hatte sie gefunden und ein paar kleine Servietten in der nämlichen Farbe. Aber Teller hatte sie, einfache weiße, und schwarze Messer und Gabeln, ein wenig stumpf und wackelig, aber zur Not doch noch verwendbar.

Sie deckte den Tisch, während die Wirtin auf einem armseligen, kleinen Herde das Wasser für den Tee zum Sieden zu bringen sich mühte.

Nie hatte Thomas ein solches Glück empfunden. Jetzt, dachte er in seiner hellen Freude, bekomme ich eine Vorstellung, wie es ist, wenn Mann und Frau zusammenhausen; wie sie den Tisch deckt und sich auf jeden Bissen freut, den man gemeinsam essen wird. Wie man dazwischen lacht, sich in zärtlichem Verlangen ansieht – nur an sich denkt und alles andere vergißt. Und es kam ihm vor, als ob es gar kein anderes Glück gäbe als das, wenn Mann und Weib zwischen vier Pfählen sich gegenüber säßen.

»Du, ich muß noch einmal hinunter«, sagte sie.

Und ohne sich das Jackett zuzuknöpfen, den Filzhut ein wenig schief auf dem Kopf, nickte sie ihm lustig zu und eilte an ihm vorbei.

Das Warten wurde ihm zur Ewigkeit. Er sah auf die Uhr. Er trat an das Fenster. Er schritt durch das Zimmer. Er zählte. Er wurde ängstlich und die Furcht stieg in ihm auf, alles sei ein Mummenschanz gewesen – und nun, nachdem sie ihn in Rausch und Freude gebracht, kehre sie ihm hinterlistig den Rücken und lasse ihn in seiner Einsamkeit.

Da kam sie herein. Das Haar war ihr wirr, die Augen funkelten. Aus weißem Seidenpapier nahm sie Veilchen und Maiglöckchen, Christblumen und Anemonen. Und die legte sie bunt durcheinander auf die Kaffeedecke mit den roten Punkten. Und nun war das Zimmer ein Garten im Winter, und die Christblumen und Anemonen schufen ihm das Bild der Heimat. Der Tisch war an das wurmstichige Sofa gerückt. Die Alte brachte das dampfende Getränk herein, dessen Farbe rotgolden war.

Regine hatte mit behenden Fingern die Brötchen mundgerecht gemacht, und den ersten Kaviarbissen mußte er aus ihrer Hand nehmen. Sie zwitscherte wie ein Vogel, sprühte vor innerer Lebendigkeit, lachte vergnügt, sah ihn dann wieder großäugig und leuchtend an und bewegte ihn bis in die Tiefe.

»Sage, wie lieb du mich hast!«

»Ich kann es gar nicht sagen!«

»Sage es, ich bitte dich!«

Seine Halsmuskeln zitterten, seine Lippen bewegten sich beständig.

Sie sah seine Qual.

»Sage es, bitte«, wiederholte sie noch einmal.

»Ich habe dich so lieb, daß ich zum erstenmal begreife, begreifen kann, wie ein Mensch um seiner Liebe willen alles andere vergißt.«

Er machte eine kleine Pause.

Sie ließ ihn in ihrer Erwartung nicht los.

Da sagte er langsam und fast für sich: »Ich verstehe, daß ein Mensch aus Liebe zum Strauchdieb und Mörder werden kann; denn«, fuhr er fort, »es gibt für ihn keinen Willen mehr, eine dunkle Macht treibt ihn mit einer blutigen Peitsche.«

Sie sah ihn ein wenig scheu von der Seite an.

»Oh, das ist schön, wenn ein Mensch so liebt!«

Er wurde von dieser Antwort ganz betroffen.

Sie merkte es und nahm seine Hand zwischen die ihrigen.

»Ich meine«, brachte sie freudig hervor, »dies ist das Tiefe und Wahre. Alle Vernunft, aller nüchterner Verstand hört auf, alle kleinlichen Erwägungen fallen; man liebt sich einfach und vergißt alles. Es gibt keine Religion, es gibt keine Rücksicht, es gibt keine Moral mehr. Man wird, wie du es so prachtvoll ausdrückst, zum Strauchdieb oder gar Mörder.«

Sie war vor Erregung ganz blaß geworden. Nichts Totes war mehr in ihrem Blick, und wenn ihre Augen sonst stumpfen, schwarzen Kohlen glichen, so hatte sie sie selbst zu strahlenden Diamanten umgeschliffen.

»Du wunderst dich über mich, ich sehe es dir an, du wunderst dich, daß man mit Freude zu so schrecklichen Dingen sich bekennen kann; aber glaube mir, noch vor acht Tagen hätte ich nicht gewußt, daß so etwas aus mir herauskommen könnte. Du bist daran schuld, du allein. Und dann«, setzte sie hinzu, und ihr Gesicht bekam einen tüftelnden und grüblerischen Ausdruck, »kannst du es nicht verstehen, daß jemand, der in einem goldenen Käfig gefangen ist, neidisch auf die Freiheit der anderen ist? Und daß ihm die Liebe erst dann groß, stark und übermächtig vorkommt, wenn sie alle Schranken durchbricht und nicht vor Diebstahl« – ihre Stimme wurde fiebrig – »und nicht einmal vor Mord zurückschrickt?« Sie lachte in heißer Erregung plötzlich auf. »Ich komme mir selbst jetzt fremd und wunderlich vor. Nie, nein, nie hätte ich gedacht, daß ich solche Dinge mit dir reden könnte.«

Sie rückte ganz dicht an ihn heran, erhob sich ein wenig und schlang ihre Arme um seinen Hals.

»Sprich, wenn so etwas in uns ist, muß es dann nicht wahr und tief sein?«

Ihre Worte machten einen sichtlichen Eindruck auf ihn, und das spürte sie.

»Da ist etwas in deiner Frage«, entgegnete er, »das an die letzten Dinge rührt, und worüber sich mancher schon den Kopf zerbrochen hat. Was in uns ist, ist tief; was ist, ist wahr und notwendig, mag es uns auch Hemmnisse und Leiden, Krankheit und Seuchen schaffen!«

Sie legte ihre beiden Hände an die Stirn.

»Du, das begreife ich alles nicht, ich kann nicht denken.«

»Doch, du kannst. Du mußt. Dinge, die wir nicht fassen können in unserer Beschränktheit, die uns verwirren und lähmen, haben in der Natur ihr Ziel und ihre Bestimmung; und mögen sie zum Kampf oder Tode führen, so bedeuten sie doch Leben und Entwicklung. Denn was ist das Sterben anderes als Werden und Entwickelung; das, was stirbt, macht dem, was stärker und jünger ist und zu neuer Entwickelung führt, einfach Platz. Und so kann man wirklich sagen, alles, was in uns und um uns ist, steht mit der Natur im innigsten Zusammenhang, wenn wir es auch oft nicht zu begreifen vermögen. Aber«, fügte er hinzu, »in uns ist eine solche Unendlichkeit von Trieben, Instinkten, Empfindungen, die gegenseitig sich befehden und aufeinander lauern, daß auch hier wohl eine Auslese sein muß; und es kommt schließlich wohl wirklich nur darauf an, daß das herrscht, was für unser Sein bestimmend ist.«

»Das ist alles so schwer und rätselhaft«, meinte sie.

»Ja«, antwortete er leise und nickte ihr zu; weil wir selber Rätsel sind, ist alles in uns ohne Lösung. Man ahnt sie wohl, aber niemand hat mit Bestimmtheit sagen können, daß er das Richtige getroffen hat. Hast du dich niemals mit diesen Dingen beschäftigt?«

»Nein, ich habe mir alles Denken abgewöhnt. Ich lebe nur so dahin und denke nicht. Er sagt: Denken ist überflüssig«, fügte sie scheu hinzu und mied es, ihn anzusehen.

Dieses »Er« brachte ihn für eine kleine Weile um alle Stimmung.

»Und hast du niemals religiöse Vorstellungen gehabt, in denen sich solche oder ähnliche Ideen kreuzten?«

»Nein, ich habe keine Religion. Ich lebe dahin und glaube an nichts. An nichts glaube ich.« Und langsam und bedächtig, aber in völlig bestimmtem Tone setzte sie hinzu: »Es ist mir völlig gelungen, alle die Vorstellungen von Gott zu vergessen. Gott ist in mir erloschen. Auch denke ich nie ans Sterben; niemals gehe ich auf einen Kirchhof, und keine schwarzumränderte Todesanzeige darf mir gezeigt werden. Ich will einfach nicht daran erinnert werden, ich will nicht«, schloß sie mit dem Ausdruck eines trotzigen und eigensinnigen Kindes.

Er hatte ihr aufmerksam und angestrengt zugehört. Ist das nicht alles so wie bei mir? dachte er im stillen. Und er erinnerte sich an seine Knabenzeit, wo ihm der Sterbegedanke Schmerz und Pein gebracht, wo die Tamara mit ihm in den Kissen geweint und er erst Ruhe gefunden hatte, als er aufhörte, über alle die Dinge zu grübeln.

Sie waren eine Spanne Zeit in Gedanken versunken und fuhren zusammen, als die Alte den Kopf in die Tür steckte, über den sie wie eine Haube ein schmutziges, graues Tuch geschlungen hatte.

»Wünschen Sie noch etwas, Herr Doktor?« fragte sie in gebückter Haltung. »Von wegen weil ich müde bin und Schlaf in den Augen habe.«

»Gehen Sie ruhig zu Bett!«

Aber sie ging nicht sofort, sondern trat in das Zimmer ein, und indem sie einen unterwürfigen Knicks machte, sprach sie mit einem lächerlich ehrfürchtigen Ausdruck: »Gute Nacht die gnädige Frau –« und reichte Reginen wie ein Kind die alte, runzelige Rechte.

Regine berührte sie kaum. Ja, sie schüttelte sich beinahe wie im Frost bei dem Anblick der Wirtin. Sie murmelte etwas Unverständliches, zog ein Goldstück aus der Tasche und drückte es ihr in die Hand, aber so flüchtig, daß sie sie nur streifte.

Die Frau machte ein verblüfftes, beinahe entsetztes Gesicht, sah Thomas Track einen Moment verwirrt an und ging hinaus.

Nach einer kurzen Stille sagte Regine und zog die Schultern zusammen, als ob sie fröre. »Glaubst du auch daran, daß alte Weiber Unglück bringen?«

Er gab ihr keine Antwort. Es war so merkwürdig in dem engen Raum geworden. So ernst, so feierlich. Alle Liebesworte waren verstummt, und schwermütige Gedanken und Stimmungen hatten sich hereingeschlichen. Sie waren gekommen wie Diener in alten Häusern, die unhörbar, gleichsam auf Filzsohlen in den Festsaal treten und den Gästen den Becher und die Speise reichen. Es lag auf ihnen wie ein Alp; aber dieser Alp hatte bei alledem etwas von Süße, das sie noch enger verknüpfte.

Sie standen beide auf einmal wie verabredet auf und traten an den armseligen, weißen Kachelofen und legten auf die Fliesen eng ihre Hände nebeneinander. Sie lachten zusammenklingend auf, denn der Ofen war kalt. Aber ihre Hände, die sich trafen, zitterten und strahlten Wärme aus. Sie sprachen kein Wort.

Dann verließen sie ihren Platz, und während sie ihr Jackett anzog und den Hut aufsetzte, sagte sie: »Wenn du wüßtest, wie schön das war!«

Und dann nahm sie, ehe er es abwehren konnte, seine Hände und küßte sie.

Er durfte sie nicht nach Hause begleiten. In einer geschlossenen Droschke verließ sie die Luisenstraße. Bevor sie einstieg, sahen sie sich noch lange, lange an.

Als Thomas wieder heimkam, entkleidete er sich nicht, sondern las, bis es graute, aber was er gelesen hatte, wußte er nicht. – – –


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