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III.

Am Schlusse des zwölften Briefes klappte Fründel das Buch zu. Es waren Montesquieus » Lettres persanes«.

»So, es ist genug für heute«, sagte er und faßte sich an den Kopf, der ihm weh zu tun schien. Die Ingolf nickte stumm.

Er lehnte sich an die Sofalehne und sah das Fräulein mit halb zugekniffenen Augen an. Sie zog ein silbernes Zigarettenetui aus der Tasche, versah sich und reichte es dann ihm. Beide rauchten eine Weile, ohne miteinander zu sprechen.

»Die Briefe sind ja ganz nett«, meinte Fründel endlich, »und für damals von gepfefferter Ironie. Heute aber wirkt diese Kritik bereits etwas süßlich, sie geht nicht an das Grundübel, sie hat nichts reformatorisch Niederreißendes.«

Die Ingolf lachte. »Reformatorisch-niederreißend ist wenigstens neu im Ausdruck, wenn auch nicht ganz logisch und verständlich.«

Er fuhr mit Zeigefinger und Daumen von den Schläfen bis zu den Backen herunter: »Daran ist nichts Lächerliches und nichts Unlogisches. Niederreißen und niederreißen ist zweierlei. Wenn ich weiß, was ich an die Stelle des Zerstörten setzen will, so hat eben meine Vernichtungsarbeit bereits etwas Positives. Ich denke, das ist klar.«

Die Ingolf senkte die Augen. Er hatte etwas in seiner Festigkeit, das sie bestrickte und verwirrte. Sie wehrte sich gegen ihn und fühlte, wie sie dabei wund wurde. Er hatte die Gewohnheit, sie so durchdringend und unverschämt anzusehen, daß sie jedesmal in Verlegenheit geriet. Sie hatte versucht, seinem Blick zu trotzen, ihn auszuhalten – es war aber vergebens gewesen. Dieser Mensch hatte etwas Eisernes, Unbeugsames. Nichts irritierte ihn. Niemals kam seine Selbstsicherheit ins Wanken.

»Ich glaube«, sagte sie schüchtern, und der Ton ihrer Stimme klang weich, »daß unglückliche Zufälle in Ihnen so viel Bitterkeit und Widerstandsgeist entfacht haben; ich könnte mir denken, daß Sie unter besseren Lebensbedingungen mit Ihrem Verstände und Ihrer Arbeitskraft – denn niemals«, setzte sie hinzu, »habe ich einen Menschen gesehen, der so arbeiten kann – ein ernster Forscher und Gelehrter geworden wären, sozusagen eine Leuchte der Wissenschaft.«

Als sie nach diesen Worten zu ihm aufschaute, lächelte er mitleidig, mitleidig oder niederträchtig, sie wagte es nicht zu entscheiden. In jedem Fall drückte sein Gesicht wieder seine hochmütige Überlegenheit aus, vor der sie sich fürchtete. Ich bin ihm an Bildung und Kultur bei weitem überlegen, und dennoch zwingt er mich nieder, wie sehr ich mich auch sträube. Er zwingt mich wie ein Reiter, der dem sich aufbäumenden Tier die Sporen in die Weichen drückt.

»Warum weisen Sie alles, was ich sage, so ... so ...« – sie suchte nach einem passenden Ausdruck – »so unduldsam zurück?«

»Tue ich das?«

»Ja«, sagte sie, und die Röte schoß in ihr Gesicht.

»Hm, ich kann eben nicht schwindeln, und ich kann mich nicht wie Sie mit Gefühlen aufhalten, den Luxus erlauben mir meine Mittel nicht. Ich möchte Ihnen nur erwidern, daß ich in jeder Lebenslage nach dem Gesetze meiner geistigen Anlage mich so entwickeln mußte, wie es tatsächlich geschah. Ich konsolidiere, wenn ich es so nennen darf, die mir angeborene Art meines Denkens durch Arbeit und Studium. Ich suchte und suche nach der verstandesgemäßen und wissenschaftlichen Begründung dessen, was von Anbeginn in mir war. Ich betrachte es als das einzige Glück meines Daseins, daß ich diese Begründung fand und so, wie Sie es ausdrücken, in meiner Selbstsicherheit wachsen konnte.«

Sie schlug die Augen groß auf. »Das war das einzige Glück Ihres Daseins? Das einzige?« wiederholte sie, und bei dieser Frage drückte ihr kluges Gesicht eine tiefe Bangigkeit aus.

»Der Ausdruck ›Glück‹ war schon sehr dumm und gefühlsselig obendrein. So etwas gibt's ja gar nicht. Nur schwachsinnige Kreaturen konnten in ihren Einbildungen ...«

»Nein, nein«, wehrte sie ab. »Ich will das nicht weiter hören. Sie sollen mit ihrer Verneinungswut nicht alles in einem zerstören. Ich bin nicht solch ein Übermensch, daß ich ohne alle die Dinge leben könnte. Mir ist Empfindung und Gefühl eine innere Herzenssache. Ich fürchte mich vor Ihnen!«

»Vor mir?«

Sie gab ihm keine Antwort und wandte sich scheu von ihm ab.

»Sehen Sie mich mal an, Fräulein!«

»Weshalb?«

»Ich möchte, daß Sie mich jetzt ansehen.«

»Gut. Ihr Wille ist mir Befehl!«

»Ich befehle niemandem, ebensowenig wie ich mir befehlen lasse. Ich bin für äußerste Freiheit in allen Konsequenzen. Aber davon wollte ich nicht reden. Ich will wissen, was sie mir noch sagen wollten, denn Sie hatten noch etwas auf dem Herzen und auf der Zunge«, fügte er spöttisch hinzu.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich weiß es, weil ich Sie kenne. Es ist nicht weiter schwer, in Ihnen zu lesen!«

»Das ist ein wenig unverschämt!«

»Und trotzdem ist es wahr. Was wollten Sie also noch sagen?«

Sie überlegte eine kleine Weile und kämpfte mit sich selbst. Dann atmete sie tief auf.

»Meinethalben! Ich wollte nur bemerken« – sie wich dabei seinem Blick aus – »daß auch ein Mensch wie Sie sich selbst belügen kann. So empfindungsleer, wie Sie vorgeben, scheinen Sie mir denn doch nicht zu sein. Sie würden sonst schwerlich –« Sie stockte und hörte mitten im Satze auf.

»Bitte, weiter sprechen, was würde ich sonst schwerlich? Man hört nicht mitten in der Anklage auf; das ist feig, mein Fräulein!«

Sie lachte herb auf.

»Sie haben eine famose Art, mit einer Frau zu verkehren. Sie legen einem beständig Blutegel an! Sie verstehen es von Grund aus, einen zu schröpfen, Herr Mechaniker Fründel! Im übrigen kann ich es Ihnen ... ich meine, Ihr Verhältnis zur Josefa widerlegt Sie selbst.«

Er verschränkte die Arme und entgegnete langsam: »In Ihrer Ausdrucksweise liegt ein kleiner Irrtum. Sie meinen das Verhältnis Josefas mit mir! Das wäre logisch, wenn Sie das meinten. Ich habe zu dem Wesen kein Verhältnis ... wenigstens nicht mehr – aber es ist richtig, daß sie es zu mir hat. Dafür kann ich nichts, das ist ihr Pech!«

»Verzeihen Sie, es lag mir ganz fern, in Ihre persönlichen Angelegenheiten eingreifen zu wollen.«

»Das tun Sie gar nicht! Es ist mir indessen lieb, die Geschichte aufzuklären. Ich kann Sie nicht zwingen, mich anzuhören, aber es wäre mir lieb, wenn Sie es täten.«

Sie entgegnete darauf nichts. Er nahm das als ein Zeichen des Einverständnisses auf, legte die linke Hand auf das Kinn und begann: »Es ist richtig, daß ich ihr eine Zeitlang nachgestellt habe, es ist richtig, daß ich in sie vernarrt war und sie auf Schritt und Tritt verfolgte. Es ist wahr, daß sie anfangs von mir nichts wissen wollte und vor mir geflohen ist. Aber dann erreichte ich das«, sagte er langsam, »was ich damals erreichen wollte und erreichen mußte; denn es war ein Wille in mir, der mich dazu trieb«, fügte er in doktrinärem Tone, gleichsam erklärend, hinzu. »Und wie das so kommt«, fuhr er fort, »wie sie einmal in dem Netze war, wollte sie nicht mehr heraus. Als ich den Käfig öffnete, bedankte sich der Vogel bestens für die Freiheit. Dieses war mein Pech, Fräulein Ingolf. Und nun kam die Geschichte umgekehrt. Jetzt macht sie Jagd auf mich. Sie bildet sich in bezug auf meine Person ein Besitzrecht ein, zu dem nicht der mindeste innere Grund vorliegt. Sie wirtschaftet mit vorsintflutlichen Begriffen, die für mich unerträglich sind. Sie bewegt sich in Anschauungen von Treue, die allenfalls für Hintertreppenromane ausreichen. Dieses Wesen«, setzte er geärgert hinzu, »macht in ekelhafter Weise Besitzrechte geltend; sie bildet sich ein, einem Menschen, der mit ihr fertig ist – ich bin nämlich mit ihr fertig, absolut fertig, seine Freiheit nehmen zu können. Und in dem einen haben Sie vollkommen recht, es ist in mir ein Rest von Gefühlsduselei und Schwäche, wenn ich nicht kurzen Prozeß mache.«

Die Ingolf war zuerst sprachlos.

»Sie sind ein Übermensch oder ein Unmensch«, brachte sie mühsam hervor. »In keinem Falle sind Sie mir verständlich. Sie gestehen selbst zu, daß Sie diese arme Seele wie ein Wild gehetzt und vor den Schuß gestellt haben, und nun passiert das, was nicht selten vorkommt, daß der besiegte Teil sich mit ganzer Inbrunst und Hingabe vertrauensvoll und demütig an den Stärkeren anklammert, ihm alles gibt, was er besitzt, ja, noch mehr, sich selbst ohne Rest aufgibt – und was tun Sie?« In ihren Augen flackerte bei diesen Worten etwas wie Empörung.

Die Ingolf sprach nicht mehr für Josefa, sie sprach für sich, für ihr ganzes Geschlecht. Die Frau in ihr war aufrührerisch geworden.

»Was tun Sie?« wiederholte sie. »Sie trinken den Becher aus, bis Sie nicht mehr weiter können, und werfen ihn dann zur Erde, daß er in tausend Scherben zerklirrt. Das finde ich gemein, das finde ich niederträchtig! Gibt es denn gar nichts, wovor die Rücksichtslosigkeit, die brutale Lebenskraft halt macht? Ist die Treue wirklich ein so antiquierter und sinnloser Begriff?«

Er hatte ihr ruhig zugehört, ohne daß auch nur ein Zug in seiner Miene sich änderte. »Sind Sie fertig?« fragte er höhnisch, »und gestatten Sie mir, zu antworten?«

Die Ingolf stützte sich auf eine Stuhllehne, ihre Brust hob und senkte sich, ihr gesundes Gesicht war blaß geworden, und aus den Poren der Stirn drang ihr ein feiner Schweiß.

»Ich bin wirklich neugierig, was Sie mir darauf erwidern können, ich bitte darum!«

»Sie haben mir die Sache leicht gemacht, Sie haben selbst, wenn ich Sie zitieren darf, in einer kräftigen Tonart, für die ich Ihnen unbedingt Dank schulde, etwa gesagt: Sie kneipen, bis Sie nicht weiterkneipen können. Ja, verlangen Sie denn, meine verehrte Dame, daß jemand, wenn er noch einen Rest von klarer Erkenntnis hat, und wenn ihm bei seinem Gelage die Übelkeit bereits ankommt, sich trotzdem zu Tode sauft? Er hört eben auf, wenn er nicht weiter kann; er hört auf, wenn er kein Narr und Idiot ist. Auf das »Können« läuft es hinaus. Und genau so, aber genau so soll der Mann die Frau und die Frau den Mann genießen; wenn sie nicht weiter ›können‹, so sollen sie gescheiterweise aufhören. Tun sie es nicht, so sind sie entweder hündische Sklavenseelen, für die die Peitsche noch zu gut ist, oder sie sind geisteskrank! Und was Sie da von Treue faseln, ist in diesem Falle nichts weiter als die Formel für den geistigen Verfall. Aber ganz abgesehen davon hat Ihre Treue etwas höchst Unmoralisches und Unästhetisches.

Wenn ich nicht irre«, schloß er akademisch, »sind die Beziehungen von Mann und Weib von außerordentlicher Delikatesse, und wenn hier jemand wider sein eigenes Innere, dem lieben Philister und dem anderen Teile zu Gefallen, Treue übt, so ist das etwas ... etwas ... geradezu Widerwärtiges. Und Ihre Treue bekommt hier eine Wertung, auf die ich jetzt aus bestimmten Gründen nicht näher eingehen will, nur soviel sage ich, diese ganzen faulen Ehen sind auf dem schiefen und unlogischen Begriff der Treue aufgebaut – das ist ein feiner Punkt, meine Dame! Jesuitenmoral im schlimmsten Sinne! Ich verlange dagegen unbedingte Freiheit! Sie sehen an dem einen Exempel, wenn sie es genau nachrechnen, daß die Unfreien schlimmer als die Straßendirnen sind, sie prostituieren sich und gestehen es nicht einmal ein. Sie lügen mit frechen Stirnen und losen Mäulern – dieses wenigstens ist meine Ansicht!«

Sie hatte ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und tieftraurig entgegnete sie: »In allem, was Sie sagen, gibt Ihnen mein Verstand recht, und mein Herz und mein Gefühl wehren sich gegen Sie. In Ihnen ist so wenig Güte – in Ihnen ist nur Härte!«

»Glauben Sie?« fragte er, und für einen flüchtigen Augenblick leuchtete es in seinen schmalen Augen auf.

Sie sah ihn ganz betroffen und beinahe erschreckt an. Was war das?

Er schien zu ahnen, was in ihr vorging; denn, gleichsam erklärend, fuhr er fort: »Ich habe diese Josefa eine Weile geliebt auf meine hartnäckige Art. Ich habe sie wirklich gern gehabt, und damals hatte ich unablässig nur den einen Gedanken, ich müßte sie besitzen. Ich müßte sie erforschen, ich müßte Herr über sie sein. Darum war mir's ernst. Kann ich nun wirklich dafür, daß auf meinen Rausch – es war nämlich etwas wie ein Rausch – so schnell bei mir die Ernüchterung folgte, während sie, sozusagen, Blut geleckt hatte und immer wilder und versessener wurde? Wenn ich wirklich jemandem ein Recht einräumte – was übrigens gänzlich ausgeschlossen ist – über die Sache zu urteilen, könnte er mir ernsthaft daraus einen Strick drehen, daß meine Verliebtheit aufhörte, daß der innere Gehalt dieses Menschen, der nur aus leidenschaftlichem, sinnlichem Begehren besteht, mich enttäuschte? Gewiß nicht! Also, was wollen Sie eigentlich?«

»Ja, war denn nicht«, fragte sie nach einer langen Weile stockend und langsam, »gerade das sinnliche Begehren der Kitt, der sie beide zusammenhielt, lag nicht von vornherein gerade hierin die Ursache Ihrer eigenen heftigen und schrankenlosen Wünsche? Haben Sie nicht um dessentwillen diese Seele aus ihrer Bahn gerissen, ohne Rücksicht auf die Zukunft?«

»Ich leugne das nicht. Ich leugne nicht, daß ich ein Mensch aus Fleisch und Blut bin. Ich kasteie mich nicht, verstehen Sie! Zum Teufel noch einmal, ich bin jung und will meine Jugend genießen! Auch der Vorwurf trifft mich also nicht; nämlich«, warf er hin, »wir leben alle in einer Gesellschaft erbärmlicher Wichte. So ein freier Mensch im Denken und Handeln wie Goethe soll nur erst wieder geboren werden. Kennen Sie die Wahlverwandtschaften?«

Sie nickte.

»Erinnern Sie sich an die Stelle, wo der Vorschlag der Ehe auf Kündigung gemacht und begründet wird?«

»Dunkel«, entgegnete sie. »Im übrigen sind die Ausnahmegesetze nur für die Ausnahmemenschen da. Was Goethe sich leisten konnte, berechtigt einen anderen Sterblichen noch lange nicht zum gleichen Handeln.«

Seine Lippen kräuselten sich hochmütig.

»Das sind für mich Weibergespinste! Ich habe menschlich die gleichen Rechte, die der Höchststehende hat, oder, richtiger und korrekter ausgedrückt, ich habe die Rechte, die ich mir selbst nehme und zuerkenne. Sie gestatten, daß ich aus meiner Bibel zitiere: ›Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar meine Sache! Ihr meint, meine Sache müßte wenigstens die gute Sache sein? Was ist gut, was böse? Ich bin ja selber meine Sache, und ich bin weder gut noch böse. Beides hat für mich keinen Sinn ... Mir geht nichts über mich!‹« Er machte eine Pause. Dann nahm er plötzlich ihr rechtes Handgelenk. »Nämlich, Sie irren, wenn Sie annehmen, daß ich diese Worte, die ungeheuer gedankenschwer sind, so mir nichts dir nichts hinplärre. Als ich ihren letzten und tiefsten Sinn begriffen hatte, da kannte ich sie auswendig, da waren sie das Nachtgebet, mit dem ich einschlief, das Morgengebet, mit dem ich aufwachte.« Und den Zeigefinger der freien Hand emporhebend: »Sie dürfen es mir glauben, daß das keine Kleinigkeit ist!«

»Bitte lassen Sie mich los, ich fürchte mich vor Ihnen!« Er gab auf der Stelle ihre Hand frei, nahm seinen Hut, und ohne ein Wort des Abschieds ging er aus der Tür.

Die Ingolf preßte das Gesicht an die Fensterscheiben und wartete, bis er aus dem Hausflur trat. Sie sah seinem Schatten nach; und als er längst entschwunden war, starrte sie, wie betäubt, in die Straße hinaus.


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