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II.

Nirgends im Hause hatte sie ihren verprügelten Leidensjungen gefunden. Auch die Dienstboten wußten ihr keine Auskunft. Den Garten, der in voller Sommerpracht stand, hatte sie schon flüchtig durcheilt. Nun ging sie in bedrückter Sorge noch einmal zurück. Sie ließ in ihrer Erregung das Gittertor offen und schritt an all der blühenden Herrlichkeit achtlos vorüber.

Dieser Garten, den sie eigentlich erst geschaffen hatte, war eine Sehenswürdigkeit der Stadt, auf die der Fremde aufmerksam gemacht wurde. Hier standen düstere Pappeln und Ebereschen. Dort Buchen dicht neben Erlen und nicht weit davon Birken mit ihren weißen Stämmen und feinen Zweigen, die wie weiches, seidenes Haar im Winde sich bewegten. Dann kamen große Gebüsche, wo Rot- und Weißdorn wild verschlungen zusammenwuchsen und ein paar Schritte weiter ein kleines Stückchen Wiese, wo Schafgarbe, Huflattich, roter Sauerampfer, Hahnenfuß, Klee und Mohn, Ranunkeln und Anemonen bunt und lustig durcheinander wucherten. Etwas entfernt davon, getrennt durch einen kleinen Kiesweg, sah man ein Stückchen Ziergarten mit farbenschillernder Nelkenpracht und starkem Rosenduft. Schwertlilien und Levkojen, Tausendschönchen und Goldlack, Reseda und zarte sammetweiche Stiefmütterchen gruppierten sich um hochragende, schwermütige Zypressen.

Frau Tamara bemerkte nichts von alledem. Ihr Blick wurde immer unruhiger. Nun stand sie vor einem kleinen, dunklen Wasser, das von dichten Weiden eingeschlossen war, einen Augenblick still. Die rätselhaften Bäume rauschten im Winde und spiegelten sich gespenstig in dem schwarzen Grunde. Ihr klopften die Pulse. Sie legte die weiße Hand, die groß und schmal war, an das pochende Herz und sah in ihrem furchtsamen Lächeln um sich. Dann ging sie in zager Hoffnung noch ein Stückchen weiter, vorbei an der hundertjährigen Linde, wo ganz für sich ein stiller, einsamer Flecken grünen Rasenteppichs vor ihr lag. Nun atmete sie tief auf.

Da lag ihr Junge mit geschlossenen Lidern, beinahe bewegungslos, wie ein zur Strecke gebrachter Edelhirsch, und fing mit seinen trotz des jugendlichen Alters ehernen Zügen die heißen Strahlen der Mittagssonne auf. Und dicht neben ihm kniete ein zartes, kleines Mädchen mit schwarzen Locken, die bis zu den Schultern reichten und dunklen, braunen Augen, die in leidenschaftlicher Bewegtheit auf den Knaben gerichtet waren.

Aufmerksam betrachtete sie die beiden Kinder. Auf dem Scheitel des Mädchens tanzten verwegene Lichtstrahlen, und die schwarzen Locken glitzerten und funkelten im Sonnengolde. Das Kind rührte sich nicht. Es blickte unverwandt auf den Knaben, der die Augen so fest geschlossen hatte und mit den Händen so trotzig die Ohren zuhielt, als wollte er allen Einflüssen der Außenwelt entfliehen. Das kleine Mädchen drehte sich um, und wie es, gleichsam aus der Erde gewachsen, Frau Tamara vor sich sah, da zuckte es zusammen, aber es gab keinen Laut von sich. Es erhob sich vorsichtig, und das Köpfchen ein wenig zur Seite geneigt, schritt es auf Frau Tamara zu.

»Tante Tamara!« ... Ihr dünnes Stimmchen zitterte wie vor verhaltenem Weinen. Sie kam nicht weiter.

Die junge Frau beugte sich zu ihr herab und küßte sie auf die weiße, klare Stirn, die dem zarten Kindergesicht etwas Frühreifes und Ernstes gab.

»Geh Bettina, pflück' Blumen. Ich will mit Thomas sprechen.«

Das Kind nickte, es fragte nichts weiter. Mit seinem feinen Instinkt begriff es, und leise schwebte es davon.

Obwohl das kurze Gespräch nur geflüstert worden war, hatte es den Knaben doch aus seinen bleiernen Träumen aufgestört, und als er die Mutter jetzt vor sich sah, vermochte er sich nicht zu beherrschen. Er blickte sie so stumm, so martervoll und so zerrissen an, er zeigte ihr so unverhüllt seine Leiden, daß die Frau in sich hineinstöhnte. Sie kniete vor ihm nieder, ganz wie vorhin das kleine Mädchen, und nahm seine Hand. Da bezwang sich der Junge. Er wollte der Mutter zulächeln, aber die schrie auf. Sie sah plötzlich ihr blutendes Lächeln auf seinen Zügen, und alles zog sich in ihr schmerzhaft zusammen.

»Junge, Junge, sieh mich nicht so an«, brachte sie jammervoll hervor.

Da schlang er seine Arme um sie und küßte sie demütig, zart und behutsam. Und nun saßen sie eine Zeitlang still beieinander, empfanden jeder des anderen Nähe und sprachen nicht.

Aber auf einmal unterbrach Thomas die Stille. »Tamara, ich soll abbitten, weil der Lehrer mir unrecht getan hat. Er hat mich bestraft für eine Sache, mit der ich nichts zu tun hatte. Dagegen wehrte ich mich. Ich wehrte mich dagegen«, wiederholte er, und eine Blutwelle des Zornes ging in der Erinnerung des ihm zugefügten Unrechts über sein Gesicht. »Ich bin doch kein Sklave, Tamara«, fügte er hinzu und richtete sich aus seiner liegenden Stellung auf.

Sie schmiegte sich an ihn, als wäre der Junge, der vierzehn Jahre sein mochte, ihr Beschützer. Man hätte sie für Geschwister halten mögen; denn die zarte Frau, die im zweiunddreißigsten Jahre stand, sah um vieles jünger aus.

»Nein, du bist kein Sklave«, entgegnete sie, und trotz der heißen Sonnenwärme fröstelte es sie bei diesen Worten.

Das kleine Mädchen kam jetzt auf sie zugeeilt. Es trug ein enganliegendes, schwarzes Kleid, das sich von dem weißen Gewande der jungen Frau düster abhob. Die bewegten Kinderaugen leuchteten. In der Hand hielt sie drei Laubkränze, mit denen sie wortlos Tante Tamara, Thomas und sich schmückte. »Thomas, nun bist du ein König und hast eine Krone.«

»Und du bist die Königin«, setzte die Tante hinzu.

Das Kind schüttelte den Kopf. »Die Königin bist du. Ich bin die Prinzessin Bettina aus Indien.«

Das sagte sie fest und bestimmt wie ein unumstößliches Bekenntnis.

»Wo liegt denn Indien?« fragte Frau Tamara.

Ein paar flüchtige Sekunden zögerte das Kind, ehe es entgegnete: »Indien liegt im Monde.«

Da lachte Thomas hell auf und sprang in die Höhe.


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