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XV.

Am frühen Morgen trat der Doktor an Thomas' Bett.

Der Junge hörte ihn mit weit geöffneten Augen an, die glanzlos waren.

Er brachte kein Wort hervor.

Über sein Gesicht zuckte es beständig.

Er ging barfüßig in seinem dünnen Nachthemd in das Zimmer der Tamara, das er hinter sich schloß. Er kniete vor ihrem Lager und ließ keinen Blick von ihr. Sie lag da in tiefem Frieden, der Tod schien ihr süßes Antlitz noch verschönt zu haben. Er konnte sich von ihrem Anblick nicht losreißen und wagte es nicht, sie anzurühren.

Eine Flucht von Gedanken durchkreuzte sein Hirn, aber nicht einen einzigen vermochte er festzuhalten. Seine Lippen bewegten sich unaufhörlich, und in seinen Fingerspitzen klopfte es laut und vernehmlich. Er sah sie plötzlich mitten auf der Schneewiese am Weiher liegen, und sie war weißer als der Schnee und hatte Lilien im Haar. Da schoß es ihm durch den Kopf, daß man sie nur in ihrem Garten zur letzten Ruhe betten dürfte.

Draußen pochte es. Er rührte sich nicht.

Er hörte den Vater seinen Namen nennen und hielt den Atem an.

»Thomas öffne«, klang es von neuem an sein Ohr.

Da schleppte er sich mühsam zur Tür und eilte wie gehetzt durch den langen Korridor in sein Zimmer.

Die Bettina stand bitterlich weinend in einer Ecke – er sah sie nicht. Er warf die Kleider um sich, und ohne Hut und Mantel rannte er wie ein Verfolgter durch den grauen Morgen in das Predigerhaus.

»Die Tamara ist tot«, brachte er mühsam hervor und klammerte sich frierend an den Geistlichen; und als über dessen Züge eine fahle Blässe glitt, und dann aus den stahlgrauen Augen unaufhaltsam die Tränen drangen, da brach auch der Junge in einem Weinkrampf zusammen, der seine Starre löste. Und von dem Leiden des Mannes ergriffen, stammelte Thomas betroffen: »Du ... du ... du ...« Da sahen sich die beiden mit einem Blick an, den sie nie in ihrem Leben vergaßen.


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