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XXI.

Der Wind blies Thomas und Bettina entgegen. Sie konnten sich nicht ansehen und schritten mit etwas vorgebeugten Körpern einher. Einmal flog ein Hut an ihnen vorbei. Es war ein richtiger Frühlingssturm, der welke Blätter jagte und dazu seine unverschämten Melodien pfiff.

Einen Augenblick atmeten sie unter dem Stadtbahnbogen am Zoologischen Garten auf. Bettina sah blaß aus, und eine gewaltsame und gequälte Ruhe lag auf ihr.

Es war Frühling, aber der Tiergarten lag kahl und arm da. Die schwarzen Stämme hatten nur ganz schüchterne Knospen angesetzt, und nur ein spärliches, dürftiges Grün lugte zwischen den Sträuchern hervor. Sie kamen an dem grauen Wasserturm vorbei, und die Wolken begannen plötzlich wie gehetzt zu fliegen, und die Sonne drang durch die Nebel. Die uralten Eichen wirkten in ihrer Laublosigkeit schwer und massig, düster und groß, und aus all dem Schwarz tauchten in feinen Linien die weißen Birkenstämme hervor, die etwas wie Licht und Farbe in das Dunkel brachten. Neben den Baumalleen zweigten sich vereinzelte Reitwege ab, die vereinsamt dalagen.

Sie gingen beide in kargem Schweigen. An der Schleuse machten sie halt und blickten in das Wasser, das an einer Stelle weiß aufwirbelte und sich gleichsam zu überstürzen schien. Ein paar große Spreekähne und Schleppdampfer lagen bewegungslos da, bis es sich auf einem der Kähne zu regen begann.

Aus der Koje traten zwei Schiffer. Der eine mit flachsgelbem, der andere mit rotem Haar, das Gesicht bis zu den Hälsen gebräunt. Sie nahmen die großen Ruderstangen und stießen ab; die eisernen Tore wurden von einem Manne mit hellem Vollbart, der Wasserstiefel trug, ein braunes Wams anhatte und aus einer bemalten Porzellanpfeife rauchte, aufgezogen, und der Kahn bewegte sich langsam vorwärts. Aus dem Schornstein der Koje stieg der Mittagsrauch empor.

Ein kleines Mädchen mit einem aufdringlich kläffenden Spitz kam zum Vorschein und hinter ihr eine junge Frau, die verlebt und abgearbeitet dreinschaute.

Auch auf den Schleppdampfern tauchten die Gestalten der Schiffer auf. Sie sahen schwarz und rußig aus, trugen Kinnbärte wie Friesen, verschlissene Velvethosen und blaue Blusen, die verschossen waren. Ein alter Mann mit trüben Augen saß vorn auf dem einen Dampfer. Er hatte einen dicken Schal mehreremal um den Hals geschlungen und stierte teilnahmslos in die Luft und in das verschlungene Geäst der Bäume.

Wie aus einer Versenkung stand plötzlich neben Thomas und Bettina ein großer Mann mit einem weißen Vollbart und weißem Haupthaar, das ihm in dünnen Locken bis an die Schultern reichte. Er hatte lebhafte Augen, trug eine Soldatenmütze und einen an allen Ecken und Enden geflickten Soldatenmantel. Die Nase war gerötet, und ein leichter Fuselgeruch strömte von ihm aus. Er hielt in der Rechten eine große, gelbe Guitarre und wußte trotz seines Alters eine straffe, soldatische Haltung zur Schau zu tragen. Neben ihm stand ein zwölfjähriges Mädchen, das in ihrem hellgrauen Jackett förmlich zu versinken schien. Es war ihr offenbar von einer erwachsenen Frauensperson geschenkt, reichte ihr bis zu den Knien, war fettig und befleckt, und gab dem Kinde ein sonderbares Aussehen. Auf dem Kopfe hatte es eine trichterförmige Mütze, die Füße waren mit zerlöcherten Filzschuhen bekleidet, und die viel zu großen Strümpfe waren ihr heruntergerutscht.

Diese vier Menschen standen auf der Brücke und sahen teilnahmslos auf die Spreekähne, die Schleppdampfer und die dunklen Baumkronen im Hintergrunde.

Der alte Mann legte seine Hand soldatisch an die Mütze. »Was meinen Sie wohl«, sagte er, »das Kind hier könnte Opern singen. Die Herrschaften von der Oper bemühen sich um das Kind – Prosit die Mahlzeit, ich gebe es nicht her!«

Dabei strich er sich mit einer verhältnismäßig weißen und gepflegten Hand durch den Vollbart.

Thomas nickte stumm.

»Ich bin Sozialist«, fuhr der Alte fort. »Ich habe drei Feldzüge mitgemacht.« Er schlug den Mantel zurück. »Sehen Sie dieses Ehrenzeichen hier? Das kann mir niemand nehmen; so lange ich nicht stehle, kann mir das niemand nehmen, und ich stehle nicht«, setzte er bedeutsam hinzu. »Ich bin Sozialist. Alles Unheil kommt von den Pfaffen her. Mein Herr, die Bibel kenne ich genau. Ich verstehe mich auf die Bibel. Man soll nicht sagen, daß ich keinen Glauben habe. Mein Herr, ich habe einen Glauben, einen ganz bestimmten Glauben. Ich wohne draußen in Weißensee. Wissen Sie, was dieses Kind nach der Schulzeit tut? Sie näht für den Bäcker Mehlsäcke, das Stück für zehn Pfennige.«

Er rümpfte die Nase. »Sie wollen sie für die Oper! Prosit die Mahlzeit, ich gebe sie nicht her! Es ist das einzige, was mir von zehnen geblieben ist. Will das Fräulein eine spanische Romanze hören?«

»Singen Sie getrost!«

»Seit zwanzig Jahren spiele ich zur Guitarre auf«, redete er weiter, ohne ihrer Aufforderung Folge zu leisten. »Ich bin zweiundsiebzig Jahre, wer hätte das gedacht! Sie müssen wissen, ich bin von gutem Herkommen. Ich klage nicht unseren geliebten Kaiser an, denn unser Kaiser« – er hob den Finger ekstatisch empor – »unser Kaiser ist unschuldig ... ich klage die Regierung an, ich bin ein königstreuer Sozialist. Sie glauben, daß ich trinke? Ich trinke niemals. Fragen Sie dieses Kind, ob ich trinke. Will das Fräulein eine spanische Romanze hören?«

Er gab der Kleinen einen Ruck und begann in die Saiten zu greifen. Das Mädchen sang mit einer Stimme ohne Ton, die obendrein hohl und ausdruckslos klang, ein langatmiges, sentimentales Lied. Den Refrain gurgelte er beständig mit. Er war mit vollem Eifer dabei und schien während des Spiels gerührt und bewegt. Bei jedem Einsatz rülpste er und gab ein röchelndes Geräusch von sich.

Immer und endlos kehrte die Zeile wieder, daß der Sänger, der gestoßen und von der Welt nicht verstanden sei, unter den schattigen Kastanien Spaniens begraben sein wollte.

Die ganze Vorführung wirkte unglaublich komisch und grotesk; und dann diese beiden Menschen in der sonderbaren Tracht, deren Mienen beim Gesänge etwas Heiliges bekamen! Am Schlusse atmete der Alte tief auf. Dann sagte er noch einmal höhnisch und überlegen: »Zur Oper wollen sie sie haben!«

»Komm«, bat Bettina schmerzhaft.

Thomas gab dem Manne ein Geldstück; der stellte sich in militärischer Haltung vor ihn hin, das Mädchen knickste feierlich.

Lange Zeit waren sie wortlos, bis endlich Thomas das Schweigen brach: »So verzerrt das Leben den Menschen! Zweiundsiebzig Jahre ist er alt geworden, um schließlich mit langen, weißen Locken zum Branntwein zu flüchten. Er lügt das Blaue vom Himmel herunter, schneidet dreist auf und taxiert seine Kunden. Vor dem ist er kaiserlich, und vor jenem macht er den Revolutionär. Bloß um das bißchen Leben zu fristen durch dies schmierige Gewerbe. Und doch«, fuhr er fort, »kann man ihn vielleicht nicht einmal einen frechen Schwindler nennen. Vielleicht liegt in seinen Lügen der letzte Rest von Idealismus, das Ende aller Lebensträume!« Und er lächelte sonderbar: »Was ist es anders, wenn dieser alte Süffel sich in den Kopf gesetzt hat, daß in der Kehle seines Kindes Millionen stecken, daß alles sich nach ihm drängt und er mit stolzer Miene jedem die Tür weist! Und ist es schließlich nicht natürlich, wenn er sich mit welken Händen an das letzte klammert, was er besitzt? Stelle dir vor, daß es eine Zeit gab, wo er voll Lebensfreude und Zuversicht seinen Weg ging, wo er von früh bis spät gearbeitet hat, um sein Haus zu erhalten. Stelle dir vor, daß er, wenn er abends heimkam, voll Stolz und Selbstgefühl an seinem Familientische sich niederließ, neben ihm seine Frau und rings um ihn herum die Kinder, die alle voll Vertrauen und Liebe zu ihm emporschauten. Denke dir, er hatte zehn Kinder, und jedes sah in ihm nicht nur den Ernährer, sondern den gütigen Vater, der mit seiner Liebe ihre Dürftigkeit vergoldete, und er selbst kam sich hier in seinem Elend reich, stark und vermögend vor. Er war wie ein kräftiger Baum, an dessen Ästen die Früchte reiften. Das alles«, schloß er lehrhaft, »muß man bedenken, wenn man so einen Menschen richtig verstehen, wenn man ihn in seinem Gram begreifen will.«

Er blickte sie von der Seite an.

Ihre Züge hatten noch immer den zerknitterten, blassen Ausdruck. Sie hatte offenbar krampfhaft zugehört und kein einziges Wort begriffen. Sie rang nach Haltung und schien doch bei jedem Wort zusammenzubrechen. Wo ist das Ende meiner Träume? fragte sie sich leise; aber sie sprach es nicht aus, sondern sah ihn nur milde, demütig und gütig an.

Wieder trat ein Schweigen ein, bis er stehen blieb und ihre Hand nahm.

»Bettina, bleibe mir gut. Ich fühle, daß ich dein Gutsein brauche.«

Seine Stimme zitterte vor innerer Bewegung; und sie erwiderte mit einem unsagbar elenden Lächeln: »Ich kann gar nicht anders, als dir gut sein, ich brauche es nicht erst zu versprechen.«

Er fühlte, daß sie die Wahrheit sprach, und war tief bewegt.

Aber in diesem Augenblicke hielt hart neben ihnen ein Wagen; er hörte seinen Namen rufen und sah dicht vor sich Regine.

Zuerst war er so betroffen, daß er keinen Laut hervorzubringen vermochte.

Die gnädige Frau reichte ihm die Hand.

Da faßte er sich, und auf Bettina deutend, aus deren Gesicht jeder Blutstropfen geschwunden war, stellte er vor: »Das ist Bettina, von der ich Ihnen erzählt habe. Meine Kusine Bettina, oder richtiger, meine einzige Schwester Bettina«.

»Um Gottes willen, Sie sind ja leidend«, rief die gnädige Frau. Und zu Thomas: »So helfen Sie ihr doch in den Wagen.«

Ehe sie sich's versahen, fuhren sie mit der gnädigen Frau davon. Und Thomas saß ihnen beiden gegenüber, und der Kopf drohte ihm zu springen.

»Mir ist ganz wohl«, sagte Bettina, und wieder trat dies elende Lächeln auf ihr Gesicht, »ich habe nur den einen Wunsch, nach Hause zu kommen«, fügte sie matt hinzu, und Thomas merkte deutlich, welche Anstrengung sie das Sprechen kostete.

»Wir fahren selbstverständlich sofort zu Ihnen«, und Frau Berg gab dem Kutscher Thomas' Wohnung in der Luisenstraße auf.

Die gnädige Frau nahm dann Bettinas Hand, streichelte sie und bat sie, zu ihr zu kommen. »Ich erinnere mich deutlich«, redete sie auf das blasse, lautlos wimmernde Mädchen ein, »daß Thomas mir von Ihrem Spiel erzählt hat. Ich bin eifersüchtig geworden«, setzte sie hinzu, und sofort erkennend, daß sie zuviel gesagt hatte, errötete sie tief.

Da sie keine Antwort bekam, schwieg sie eine Weile, um dann mit Thomas ein paar belanglose Phrasen zu wechseln. Ihre Schwiegermutter habe sich erholt, sie habe den Soupcon, daß die ganze Geschichte eine kleine Komödie gewesen sei. »Diese Frau«, schloß sie boshaft, »läßt sich sogar vom Schlag treffen, wenn sie damit eine Sensation erzielen kann!«

Die harte und lieblose Äußerung verletzte ihn.

Der Wagen hielt, und Frau Berg wiederholte noch einmal ihre Aufforderung.

Im Hausflur blieb Bettina stehen und lehnte sich bleich an die Wand. »Laß mich einen Moment«, brachte sie mühsam hervor.

Sie bebte am ganzen Körper. Sie hatte die kleinen Hände geballt und die Augen geschlossen. So stand sie ein paar Sekunden da, ein Bild des tiefsten Jammers.

Und niemals glaubte Thomas etwas Elenderes, gleich Hilfloseres und Verlasseneres gesehen zu haben.

Aber sie erholte sich merkwürdig rasch. Inmitten ihres Schmerzes hatten ihre blutlosen Lippen gemurmelt: Gott, verlaß mich nicht ... Gott, laß mich jetzt nicht zusammenbrechen ... vergiß alle meine sündhaften Reden von heute nacht ... Mein Herr und Heiland, steh' mir bei! ...

Und da hatte sie die Kraft gefunden, sich zusammenzuraffen.

»Sei mir nicht böse, Thom, daß mir plötzlich schlecht wurde.« Und in einem Ton, der fast heiter und ruhig klang: »Komm, laß uns jetzt hinauf.«

Sie sollte seinen Arm nehmen, aber sie bestand darauf, allein zu gehen, und am Geländer sich stützend, klomm sie empor.

Oben saß sie ihm in seinem Zimmer gegenüber. Sie sah ihm ruhig und offen in die Augen, und kaum hörbar fragte sie: »Nicht wahr, Thom, das war sie?«

»Ja«, entgegnete er ebenso.

»Ich glaube, sie hat dich lieb«, fügte sie nachdenklich hinzu, »und schön ist sie auch.«

Sie stand mühsam auf und ging aus dem Zimmer. Aber gleich darauf kehrte sie wieder zurück.

»Thom, ich habe eine Bitte. Willst du mir sie erfüllen?«

»Ich will.«

»Erzähle mir, wie alles gekommen ist. Erzähle es mir von Anfang an und vergiß nichts. Du hast doch gesagt, ich bin deine Schwester.«

Er setzte sich ihr gegenüber und berichtete der Reihe nach.

Sie lauschte ihm angestrengt, als wenn es sich um die schwersten Probleme handelte, und verzog keine Miene in ihrem Gesicht. Jeden seiner Blicke verfolgte sie, und jedes seiner Worte sog sie gleichsam in sich ein. Sie wollte den Ton seiner Stimme nicht vergessen und wollte den Ausdruck seiner Züge in dieser Stunde festhalten. Ihre Augen waren durchdringend, feierlich und forschend auf ihn gerichtet. Sie luden ihn zur Beichte. Sie hatten etwas Strenges und Zwingendes.

Alles erzählte er – nur den Jubel seiner Seele suchte er zu dämpfen.

Aber gerade den heimlichen Ausdruck seiner Freude hörte sie heraus. Sie lauerte darauf – und er entging ihr nicht.

Als er geendet hatte, beugte sie sich tief zu ihm herab, küßte, ohne daß er es verhindern konnte, seine Hände und war aus dem Zimmer verschwunden.

Er blickte ihr betroffen nach. Alles an ihr kam ihm verwunschen und geisterhaft vor. – – –


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