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»Ist die Ingolf da?«
Das Hausmädchen starrte die Fragende verdutzt an.
»Fräulein Ingolf«, verbesserte sich diese rasch.
»Treten Sie bitte ein!«
Die Josefa hatte ein helles Gewand an, aus dünnem, gelbem Stoff, der wie japanische Seide glänzte. Sie hatte einen schwarzseidenen Schal um sich geschlungen, der bis zu den Knien reichte. Oben war das Kleid von Einsätzen durchbrochen, so daß ihre feine, zarte Haut durchschimmerte. Sie trug einen breitkrempigen, schutenartigen Hut, der mit Bändern befestigt war, und ganz weiße Schuhe, als ob sie zum Balle ginge. Auf der Straße hatten ihr die Leute nachgeblickt, ohne daß sie es gemerkt hatte. In der Tür blieb sie stehen und stützte sich auf ihren schlanken Sonnenschirm.
Auf die Ingolf wirkte sie zuerst wie eine liebliche Erscheinung. Als sie aber in die weit aufgerissenen, starren Augen des Mädchens sah, schrak sie zusammen. Sie bot ihr schweigend einen Platz an und setzte sich ihr gegenüber.
Die Gerving nahm langsam ihren Hut ab, legte ihren Schirm beiseite, zog ein Taschentüchelchen hervor und trocknete sich das erhitzte Gesicht ab. Dann rückte sie ihren Stuhl dicht an den der Charlotte Ingolf. Und indem sie sich in dem Zimmer prüfend umsah, als wollte sie jeden Gegenstand taxieren, sagte sie: »Ich will wissen, warum Sie ihn mir gestohlen haben.«
Ganz langsam mit weißen Lippen stieß sie das hervor. Und indem sie sich wieder umsah, fügte sie bitter und hämisch hinzu: »Sie haben ja alles, sind reich, studiert, was wollen Sie eigentlich noch mehr?«
Die Ingolf rührte sich nicht. Sie zuckte bei jedem Worte wie unter Rutenschlägen zusammen.
»Glauben Sie denn, daß ich mir das gefallen lasse?« fragte die Gerving von neuem und lächelte sonderbar dabei.
Die Ingolf rührte sich nicht.
»Sie meinen wohl, ich bin so eine, die man einfach beiseite schieben kann?« und nun schlug sie ein krampfhaftes, gedämpftes Gelächter an. »Sie irren, mein Fräulein« – dieses »mein Fräulein« sprach sie ganz geziert – »ich lasse mich nicht wegwerfen, eher ... Wissen Sie eigentlich, in welchen Beziehungen ich zu ihm stehe?«
»Nun gut, Sie wissen es und haben ihn mir doch ...«
Die Ingolf erhob sich mit einem Male, alles in ihr zitterte und bebte. »Ich wollte ja gar nicht«, rief sie bedrückt. »Ich ... ich ...« und leise in einem bettelnden, entschuldigenden Ton setzte sie hinzu: »Sie müssen es doch selbst wissen, daß man gar keinen Willen bei ihm hat ...«
Die Augen der Gerving schillerten. Sie wußte es. Und dennoch tat es ihr in dieser Stunde wohl, ihre Erfahrungen durch die andere bestätigt zu finden. Aber das ging sofort vorüber. »Dieser Mensch«, sagte sie finster, »hat mich zu sich gezwungen ... ich gehöre ihm und er mir.« Und in leidenschaftlichem Tone: »Ich dulde es nicht, nein, ich dulde es nicht!« Auch sie stand auf und ging mehrere Male durch das Zimmer.
Die Studentin verfolgte gespannt jede ihrer Bewegungen. »Was ist denn da zu tun?« frage sie plötzlich hilflos und unterwürfig.
»Was da zu tun ist?« Die Gerving blieb stehen, ihre Züge hatten etwas von Zorn und Schmerz Entstelltes. Sie sah lauernd in das kluge Gesicht der andern, deren Stirn durch Arbeit und selbständiges Denken etwas Bedeutendes bekommen hatte. »Ich will Ihnen etwas verraten, Fräulein«, zischte sie hervor, »Sie müssen fort ... Sie müssen fort!«
Die Ingolf schüttelte leise den Kopf. »Das kann ich nicht, ich kann es einfach nicht!«
»Sie wollen also nicht?«
»Ich kann nicht«, wiederholte sie wieder, und in dem Ton ihrer Stimme lag Weh.
Sie sahen sich lange und schweigend an. Jede hatte ihre eigenen, unentwirrbaren Gedanken – aber jede hatte den nämlichen Schmerz.
Nun änderte die Josefa ihre Taktik. »Wollen Sie etwas wissen?« fragte sie höhnisch. Und ohne ihre Antwort abzuwarten: »Es dauert nicht mehr lange, und dann ist er Ihrer ebenfalls satt.«
Charlotte Ingolf sah sie mit trüben Augen an und erwiderte nur: »Ich weiß es!«
»Sie wissen es? Nun gut! Dann wissen Sie auch, daß er keine Rücksicht kennt ... er liebt nur sich – morgen schon kann er eine andere haben.« Und von Haß erfüllt, setzte sie hinzu: »Das ist ein sauberer Patron, das ist ein niederträchtiger, gemeiner Mensch.«
»Nein«, entgegnete die Ingolf. »Sie glauben es selbst nicht. Er ist nur unglücklich.«
Josefa maß sie mit einem verächtlichen, geringschätzigen Blick. »Unglücklich? – der macht unglücklich, meinen Sie. Der ist gemein, nichts weiter als gemein, sage ich Ihnen ... der schont nichts auf der Welt. Der hat für andere nichts übrig ...« Und plötzlich trat ihr der Schaum auf die Lippen. Sie rang nach Atem. Dann ballte sie die Hände und trat so dicht auf die Ingolf zu, daß diese Furcht bekam. »Der könnte«, flüsterte sie, »seine Mutter, sein Kind verrecken sehen und würde sich nicht rühren, erkläre ich Ihnen. Das ist ein Schuft, ein miserabler Schuft! ... Wenn man Stolz in sich hätte, nur etwas Stolz«, sagte sie mehr für sich, »so müßte man ihm einen Fußtritt geben, ihm ins Gesicht spucken und seiner Wege ziehen ... aber das ist es ja gerade ... man hat keinen Stolz ...«
Die Ingolf schüttelte nur den Kopf.
»Wenn Sie sich darüber klar sind«, begann nach einer Weile die Gerving hartnäckig von neuem, »daß er Sie ebenfalls« – sie machte mit der Hand eine entsprechende Bewegung – »warum gehen Sie denn nicht freiwillig? Sie sehen doch, daß Sie zwischen mir und ihm stehen ... Sie sehen es doch deutlich!«
»Ich sehe das alles«, erwiderte sie. Und nach einer Pause: »Er braucht mich. Ich fühle es. Ich halte ihn«, sagte sie kaum hörbar, »nicht wie Sie für einen Verbrecher, ich halte ihn für einen unglücklichen Menschen ... und außerdem ... ich liebe ihn ja ...«
»Und was werden Sie tun«, forschte die Josefa weiter, »wenn er Ihnen den Tritt gegeben haben wird?«
»Was ich tun werde? ... Ich glaube, ich werde arbeiten!«
»Sie haben eine Arbeit, die Ihnen Freude macht?«
»Ja!«
»Meine Beschäftigung kennen Sie?« fragte sie vergrämt, während sie ihre Mundwinkel tief herabzog ...
Charlotte Ingolf senkte den Kopf und nickte.
Langsam setzte sich Josefa den Hut auf. Sie brauchte verhältnismäßig viel Zeit, um die Bänder zu einer Schleife zu knüpfen. Als sie damit fertig war, nahm sie ihren Sonnenschirm. Sie ging aber noch nicht aus dem Zimmer, sondern betrachtete unaufhörlich ihre weißen Schuhe. Sie überlegte und grübelte. Sie schien die andere vergessen zu haben, die in peinvollem Schweigen neben ihr stand. Erst nach geraumer Zeit raffte sie sich auf und sah die Ingolf fest und durchdringend an. »Ich wünsche Ihnen viel Glück«, brachte sie hervor. Wieder hielt sie inne, wandte sich, rückwärts gehend, zur Tür, und während sie diese aufdrückte, schrie sie in einem Tone, der drohend und furchtbar ernst klang, so daß er der Ingolf ins Mark schnitt: »Wenn es Ihnen nur gut bekommt!«
Hierauf verschwand sie eiligst.
Die Ingolf stand wie angewurzelt da. Sie horchte auf die verhallenden Schritte. Sie hörte, wie ihre Pulse schlugen. Sie schlich sich zum Sofa, drückte ihr Gesicht an die Lehne und wimmerte in sich hinein.