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Die nächste Nummer des »Festsaals« brachte aus der Feder Thomas Trucks einen Aufsatz, der für seine Beziehungen zu den Freunden von folgenschwerer Bedeutung werden sollte. Er trug den Titel »Die Weltanschauung und Religion des selbstbewußten Ich« und legte in seinem wesentlichen Gedankeninhalt dar, daß der entwickelte, auf der Höhe angelangte Mensch mit dem Begriff Freiheit allein nicht auszukommen vermöge. Alle bedeutsamen und weitgreifenden Wirkungen seien nur von reinen Persönlichkeiten ausgegangen, die sich zu einer großen Weltanschauung durchgerungen hätten und dadurch erst zur eigentlichen Freiheit gelangt wären. In diesem Sinne müsse der freie Mensch Religion haben. Man solle sich an dem Wort nicht stoßen. Religion im tiefsten Sinne sei wesentlich unterschieden vom dogmatischen Buchstabenglauben. Die freiheitlichen Denker sprechen von der Hochachtung, Selbstwürde und Majestät der Persönlichkeit. Sie verurteilen die materialistische Geschichtsauffassung, die Zwangsrecht und Autorität predigt und zur Knechtung des einzelnen führt. Nach ihr hat das Individuum nicht den leisesten Spielraum mehr. Es wird bedingt und bewegt durch die Masse. Es ist an sich null und nichtig. Dieses wesenlose Objekt wird unter das Joch des Zukunftsstaates gespannt. Es darf unter dem Schweiße seines Angesichts den Pflug ziehen, aber es darf nicht denken. Es wird gefüttert, aber es darf nicht zum Bewußtsein seines Ich kommen. Zwangsrecht und Autorität knebeln es härter denn je. Das ist das würdelose Dogma des Materialismus, der keine Zukunft haben kann, weil er keine Religion besitzt.
In dieser völligen Verneinung und Leugnung der Persönlichkeit haben die freien Geister den Bankerott der materialistischen Geschichtsauffassung, des gemeinen Sozialismus erkannt. Sie haben erkannt, daß die Wurzeln des Volksgrams tiefer ruhen als in den ökonomischen Verhältnissen, daß an sich eigentlich schon heute die Produktionsmittel in den Händen der Arbeiter sind, daß nur durch ein geheiligtes Raubrecht die Produktion selbst ihnen gestohlen wird.
Indem sie immer und immer wieder auf das unantastbare Recht der Persönlichkeit hinweisen, haben sie in unbewußtem Ahnen auch den Keim zu einer religiösen Weltanschauung gelegt. Sie haben begriffen, daß das höchst entwickelte Ich, die reine Persönlichkeit ein Bild der Unendlichkeit ist.
Denn was bedingt anderes die Ehrfurcht vor der Persönlichkeit, wenn nicht ihre Unendlichkeit, ihre Ewigkeit! Der Mensch aber, dem dieser Gedanke erst einmal aufgegangen ist, fühlt sich eins und verwoben mit dem All. Für ihn entsteht die Gleichung: Ich = All. In ihm ist das große, ahnungsvolle Erwachen des Allbewußtseins; indem er sich als Urgeist fühlt, durchdringt ihn das Gemeinschaftsgefühl.
Aus der höchsten Selbstliebe, aus dem reinsten Egoismus quillt die Nächstenliebe hervor. Und darum ist es eins der tiefgründigsten Worte: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Erst wenn du zum Bewußtsein kommst, zur Erkenntnis, zur Ehrfurcht, zur Liebe deines Selbst gelangt bist, wenn du die Ehrfurcht vor dir, dem Menschen gelernt hast, wenn die große Freiheitsidee wie eine reine Flamme in dir aufgegangen ist, dann bist du der höchsten Nächstenliebe fähig.
Das nennen wir: die Freiheit des Ich – das Erwachen des Menschen – die Auferstehung – die Religion. Weil die materialistische Geschichtsauffassung in diesem Sinne der Religion entbehrt, irreligiös ist, bekämpfen wir sie als eine Denkrichtung, die die Geister verflacht und ins Irre führt.
Als der Buddha unter die Brahmanen trat, denen das Allbewußtsein längst aufgedämmert war, und ihnen, die sich Götter fühlten, zurief: »Ich bin ein Mensch, ich bin der erleuchtete, der wissende Mensch, ich bin das All-Ich«, da war die Wirkung dieser Worte eine unbeschreibliche, eine gewaltige, die brausend alles mit sich fortriß.
Und als Christus, der öfter als einmal verkündet hatte: »Ich bin des Menschen Sohn«, in der Stunde, die ihn ans Kreuz bringen sollte, auf die Frage pfäffischer Richter und Rabbiner: »Bist du Gott?« alle Todesfurcht weit von sich wirft und nur die eine Antwort hat: »Ihr sagt es, ich bin's!« – was tat er da anderes, als daß er die große Ureinheit von Ich und All, das Hohelied vom Menschen verkündete!
Folgen wir den Spuren, die der Erleuchtete gegraben haben.
Versuchen wir es, unsere Weltanschauung in uns zu wecken, den Weg zur Freiheit, zur Religion zu finden ...
Die diesem Aufsatze zugrunde liegenden Erkenntnisse waren in Thomas unter den Klängen Beethovenscher Musik am Konzertabend der Bettina wie Schößlinge, die der Regen in der Frühlingsnacht aus dunklem Erdreich hervortreibt, aufgeblüht. Sie waren dann in den nächsten Tagen und Wochen gewachsen und ungeahnt zur Reife gekommen.
Mit der Klarheit, die über ihn kam, die ihn zuerst im Inneren erschütterte, hatte ihn auch ein tiefes Gefühl der Ruhe erfüllt.
Bevor er einen Gedanken niederschrieb, hatte er ihn mit Bettina besprochen.
Sie wich nicht von seiner Seite. Sie hörte ihm still zu, empfänglich für jedes seiner Worte. Oder sie nahm ihre Geige und gab ihm mit leuchtenden Augen das Beste, was sie hatte: ihre Seele.
Es war seltsam, sobald in seinen geistigen Kämpfen eine Vorstellung ihn mutlos und mürbe machte, oder der Weg zum Wissen und Erkennen über Baumwurzeln in die Dunkelheit führte, brauchte sie nur zu spielen und alle Finsternis versank.
Langte er dann zu Hause an, wo ihn Katharina mit bösen Augen empfing und nur darauf lauerte, ihn mit ihrer Furcht zu quälen und zu schmähen, so hörte er sie still und stumm an. Auf seinen bleichen Leidenszügen lag Mitgefühl und Trauer.
Er kam ihr wie behext vor.
In ihr schrie alles auf, daß sie ihn nicht zu reizen vermochte.
Und in bitterem Auflachen warf sie alle Schuld auf die Bettina ...
Als Thomas seine Gedanken für den »Festsaal« formulierte, war es ihm, als ob plötzlich eine schwere Last von ihm gefallen wäre. Er hatte aber das klare Empfinden, daß er in keiner Redaktionssitzung über seine Früchte des Nachdenkens des längeren und breiteren zu sprechen vermochte. Die Dinge waren ihm so heilig, daß er die Debatte bis nach dem Erscheinen des Aufsatzes vertagt wissen wollte.
Niemals hatte er so langsam gearbeitet. Von Woche zu Woche hatte er die Veröffentlichung hinausgeschoben. Nur den Extrakt des Gefundenen hatte er geben, nur andeuten wollen. Er war sich der ganzen Tragweite seines Handelns bewußt. Er zweifelte nicht daran, daß mit diesem Aufsatze für den »Festsaal« ebenso wie für ihn eine neue Epoche beginnen würde. Er sah fest dem Kampfe entgegen.
Einmal sagte er zu Bettina: »Du bist es, die mir einen Teil meiner Heiterkeit zurückgibt. Ich habe das Leben geleugnet, indem ich seine höchsten Triebe verneinte. Du bringst mir das Leben zurück, du und deine Kunst!«
Als nun aber die betreffende Nummer herauskam, da brach ein Sturm unter den Freunden los, den er in solcher Stärke doch nicht erwartet hatte.
Es war in der Wohnung der Brose, wo die Geister aufeinander platzten.
Die Brose hatte es kommen sehen.
Sie wollte Bettina den Anblick eines Kampfes ersparen, dessen Widerwärtigkeiten sie vorausahnte. Aber Bettina wich nicht.
Es war ganz still, als Heinsius die Sitzung eröffnete.
Er erklärte – und auf seinen Backenknochen brannten rote Flecken – er habe beim Lesen des Artikels zunächst einen Blick auf den Kalender geworfen und sich überzeugt, daß Fasching sei. Und wenn dieser Aufsatz nichts weiter als eine Parodie, einen Fastnachtsscherz bedeute, so könne man ja von ihm zur Tagesordnung übergehen.
Alle sahen nur gespannt Thomas an, auf dessen Gesicht sie jedoch keine Veränderung wahrzunehmen vermochten.
Er entgegnete voll tiefen Ernstes: »Ich finde die Art des Angriffes unwürdig. Will mir Heinsius eine Brücke bauen? Oder will er mich verhöhnen? Ich weise beides zurück. Die Sache ist mir zu heilig, als daß ich sie auf solche Methode behandeln könnte. Ich habe eine Entwicklung meines inneren Menschen ausgedrückt – denn«, fügte er nachdenklich hinzu, »jetzt erst ist mir der Begriff ›Mensch‹ klar geworden. Mir kommt es vor, als ob ich all die Zeit in einem Irrgarten der Erkenntnis gewandelt wäre. Wenn ich große Beispiele anführen werde, so lehne ich von vornherein den Vorwurf ab, daß ich mein kärgliches Tun auch nur vergleichen wollte mit denen, die mir vorbildlich waren. Es kam der Tag«, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort, »wo Buddha und der Christus erkannten, daß sie nicht mit Selbstkasteiungen und Askese ihr Ziel erreichen würden. So verließ Buddha die Wälder von Uruwelea und Christus die Wüste ... All die Jahre habe auch ich den Menschen in mir kasteit, die Freiheit gepredigt, ohne sie eigentlich verstanden zu haben. Ich gehe den Weg der Wahrheit und des Lebens, wenn ich umkehre. Ihr sollt mich darum nicht schelten«, sagte er bittend, »denn was ich schrieb, schrieb ich in Ehrfurcht vor euch. Ist es denn nicht möglich, daß auch ihr die Brücke betretet, auf der ich nunmehr stehe ...?«
Während Thomas sprach, hatte Fründel nicht den Blick von ihm gelassen. Seine Miene hatte etwas Fanatisches, Triumphierendes und geradezu Niederträchtiges. Sie schien auszudrücken: Da seht ihr's, wie recht ich gehabt hatte! Nun ist er in seine eigene Falle gegangen.
Er hatte sich von seinem Platz erhoben und war dicht an Thomas herangetreten, um ihm zu erwidern.
Aber Heinsius, dessen Züge streng und von innerer Erregung beherrscht waren, kam ihm zuvor. Seine Stimme klang hart und trocken. Nach jedem Satze machte er eine Pause und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ich bin leider nicht imstande, auf den versöhnungsseligen Ton, der soeben angeschlagen wurde, einzugehen. Das ist für mich eine Fülle von tragischer Ironie. Der Artikel bedeutet für mich nicht mehr oder nicht weniger als einen Treubruch, eine Felonie ... Jahr und Tag hat man dazu gebraucht, um sich von Formeln und Dogmen frei zu machen. Endlich ist man soweit, den Ballast von sich zu werfen, gemeinsam für die Ideen der Zukunft den Acker zu bestellen ... und da kommt einer, dem man blindes Vertrauen geschenkt hat, wärmt den alten Kohl von neuem auf, schmalzt und salzt ihn und setzt das üble Gericht den Gläubigen vor! Wenn irgendein Idiot diese Phrasen auftischte, denn für mich sind das nur Phrasen, so wäre das bedeutungslos. Aber wenn Sie Ihre Autorität in die Schale werfen und den Lesern, die vertrauensvoll das Blatt in die Hände nehmen, einen solchen sentimentalen Wust vorsetzen, so müssen Sie Verwirrung stiften! Ich werfe Ihnen Unredlichkeit gegen uns vor; denn der ›Festsaal‹ wird auch von uns vertreten, und diejenigen, die ihn lesen, müssen zu dem Glauben kommen, daß Sie in unser aller Namen sprechen. Das Renegatentum freier Geister wird mir aus Ihrem Falle klar! Ich begreife jetzt, daß es Menschen gibt, deren vermeintliche Stärke nur ein Selbstwahn, ein Aushängeschild ihrer inneren Schwäche ist. Es kommt die Stunde, wo sie kläglich umfallen! Ich kann keine Versöhnungspolitik treiben«, schloß er, und seine Stimme schien überzuschlagen; »denn hier handelt es sich nicht um Meinungsverschiedenheiten, hier ist ein Gegensatz, der scheidet und trennt! ... Wir treten nicht auf Ihre Brücke, deren Pfeiler morsch sind. Und es ist wieder eine Ihrer Wahnvorstellungen, wenn Sie sich als Brückenbaumeister aufspielen! ... Die Brücke steht seit uralten Zeiten! Immer und immer wieder wird sie von den Schwachen und Einfältigen benutzt ...«
Er brach ab und sah Thomas mitleidig und sarkastisch an.
Dem war zumute, als ob eine Mauer, die ihm bisher Halt und Stütze gewährt hatte, hinter ihm zusammenbrach. Es wurde einen Augenblick dunkel um ihn.
Nein, nein, ich hatte mir doch nicht vorgestellt, daß es so schwer sein würde, dachte er bei sich. Laut aber sagte er: »Wogegen soll ich mich zuerst verteidigen? Ihr blickt mit drohenden Gesichtern auf mich, und wie einen Angeklagten, wie einen Verbrecher behandelt ihr mich! Was wollt ihr von mir? mir? Die Freiheit der Persönlichkeit ist euch das Höchste, so sagt ihr wenigstens; und nun stellt einer Sätze auf, die euch unbehaglich sind, die ihr im Augenblick vielleicht nicht zu fassen vermögt, und laut ruft ihr: kreuzigt ihn! Ich soll unredlich sein! Ich wußte doch, daß ich Kämpfe mit euch ausfechten müßte. Aber ich glaubte und glaube ein unverbrüchliches Recht zu haben, zu denen zu reden, die bisher meine Stimme vernommen! Sie irren, Heinsius, wenn Sie glauben, mich in Harnisch und Zorn zu bringen. Und ebensowenig werden Sie mich einschüchtern können. Ich bin ein Stein im Rollen, ich muß zu meinem Ziele«, sagte er langsam und träumerisch, »niemand ... nein, niemand kann mich aufhalten! Sie verwechseln und werfen alles durcheinander! Sie verstehen mich nicht, das muß wohl an mir liegen«, fügte er gleichsam entschuldigend und demütig hinzu. »Ich weiß ja, wie sauer mir selbst der Weg geworden ist, den ich gegangen bin. Ich fühle mich auch nicht als Baumeister, beileibe nicht! Die großen Führer habe ich genannt. Ich bin ein unbeträchtlicher, bescheidener Mensch! Wenn ich etwas für mich in Anspruch nehmen darf, so ist es der Drang zur Ehrlichkeit! Viele der Gedanken, die ich angedeutet und noch weiter auszuführen habe, müssen wohl in all den Jahren langsam in mir gewachsen sein. Ich schäme mich nicht, es einzugestehen, daß ich in dem von mir festgelegten Sinne eine religiöse Natur bin. In mir ist«, setzte er leise hinzu, »auch viel Mystik! Alles das habe ich gewaltsam lange Zeit zu unterdrücken gesucht. Ich wähnte euer Weg sei der richtige! So kämpfte ich gegen mein eigenes Erwachen an. Ich ließ mich von Ihnen, Heinsius, betören. Unter dem Feldgeschrei »Freiheit, Freiheit!« ließ ich mir aufreden, daß die Kunst etwas sei, das man beiseite schieben, das man mißachten müßte. Heute weiß ich, daß die echte Kunst zu den wahrhaftigsten und elementarsten Lebensäußerungen des Menschen gehört, daß sie einen wesentlichen Bestandteil seiner religiösen Naturveranlagung ausmacht. Ich sehe auch keinen Grund ein, daß ihr mit Steinen auf mich werft! Ihr wollt mit mir brechen, nachdem wir jahrelang zusammengehalten haben! Ich bitte euch, laßt davon ab!«
Bei den letzten Worten begegnete sein Auge dem Fründels.
Er senkte erschreckt den Blick. Eine tiefe Trauer befiel ihn. Er sah in den Zügen des Mechanikers nur blinden, feindseligen Haß.
Und als ob es ihn drängte, das ihm drohende Ungewitter zu entladen, verschränkte er die Arme, verzog sonderbar sein Gesicht, kniff ein wenig die Augen zusammen und sagte: »Sprechen Sie nur, Fründel, ich fürchte auch Sie nicht!«
Der Mechaniker musterte ihn verächtlich.
»Sie haben sich ein wenig in uns getäuscht. Wir lassen uns nicht wie die Gimpel fangen und einschüchtern! Übrigens bin ich für mein Teil nicht verwundert. Ich habe das alles vorausgesehen. Genau so mußte es kommen! Ich verzichte auch auf Diskussionen mit Ihnen! Für mich sind Sie ein Verlorener! Ein Überzähliger! Ein Mann über Bord!« Er machte eine kleine Pause. »Ich bin nur erstaunt«, begann er dann wieder, und nun kaute er jedes Wort gleichsam hervor und betonte es eigentümlich, »mit welchem Verständnis und mit wie scharfem Erfassen Sie Stirner, Dühring, Nietzsche gelesen haben! Diese Menschen haben die Sklavenmoral für denkende Leute zerstört, die Legende vom Christentum in ihre absurden Bestandteile aufgelöst. Und was Dühring anbelangt, so hat er dem Buddhismus, auf den Sie, wie es scheint, ebenfalls hereingefallen sind, mit ein paar grausamen Begleitworten eine klägliche Grabstätte bereitet! Er hat, wenn ich mich recht erinnere, in einem Buche, das »Der Wert des Lebens« heißt, die jämmerliche Lebensfeindlichkeit dieser sogenannten religiösen Anschauungen in ihrem Kern getroffen! Und nun tischen Sie uns diesen Salm auf! Wir danken Ihnen schönstens! Die Mahlzeit mögen Sie allein verspeisen! Wir essen nicht mit! Wir sind auch gegen geistige Blutvergiftung! Die Unehrlichkeit, von der Heinsius sprach, dokumentiert sich für mich nicht am wenigsten in dem Punkte, daß Sie die Dreistigkeit gehabt haben, in Ihrem Mischmaschaufsatz zwischen sich und Stirner eine Beziehung zu finden! Das ist der Gipfel der Unverfrorenheit und heillosesten Verwirrung!«
»Sind Sie fertig?« fragte Thomas. Er war jetzt um einen Schatten bleicher geworden.
»Es lohnt nicht, mehr zu sagen«, erwiderte der Mechaniker wegwerfend. »Es hat nämlich keinen Zweck«, fügte er hinzu.
Thomas richtete sich gerade auf. »Nach dieser Erklärung wende ich mich nicht mehr an Sie, sondern an die übrigen. Ich habe nur zu bemerken, daß mich solche Angriffe nicht treffen. Sie machen mich lachen und lassen mich kalt! Aber eines möchte ich betonen: So weit wie der Autoritätsglaube meines Mitstreiters Fründel geht, reicht der meinige nicht! Mein Erkennen macht vor keiner Autorität Halt! Daß ich es rund heraussage: Ich halte die Beurteilung Christi sowohl bei Stirner, Dühring wie Nietzsche für einen verhängnisvollen Irrtum! Und gerade hier sehe ich das Brüchige in dem Denken dieser Forscher. Wie klein, eng und beschränkt haben sie Christus gesehen! Ich begreife es schlechthin nicht, daß Männer von ihrer geistigen Veranlagung ein solches Zerrbild von der Erscheinung Christi entwerfen konnten. Ich habe die Überzeugung, daß sie niemals die Evangelien gelesen haben, daß sie mit vorgefaßten Schuljungenansichten an die Betrachtung dieses Ewigen, Einzigen herangetreten sind. Und jetzt habe ich nur noch folgendes zu bemerken: Mit vollstem Bewußtsein habe ich die Beziehung zwischen mir und Stirner aufgestellt. Denn Ihr Max Stirner, der den reinen Egoismus predigt, sagt an einer Stelle –ich habe die Worte auswendig gelernt«, rief er mit leuchtenden Augen, »weil sie für mich ein Wegweiser und gleichfalls eine Brücke waren –: ›Soll ich etwa an der Person des anderen keine lebendige Teilnahme haben, soll seine Freude und sein Wohl mir nicht am Herzen liegen, soll der Genuß, den ich ihm bereite, mir nicht über andere, eigene Genüsse gehen? Im Gegenteil. Unzählige Genüsse kann ich ihm mit Freude opfern. Unzähliges kann ich mir zur Erhöhung seiner Lust versagen, und was mir ohne ihn das Interesse wäre, das kann ich für ihn in die Schanze schlagen, mein Leben, meine Wohlfahrt, meine Freiheit. Es macht ja meine Lust und mein Glück aus, mich an seinem Glück und an seiner Lust zu laben, aber mich, mich selbst opfere ich ihm nicht, sondern bleibe Egoist und – genieße ihn.‹ So zu lesen zweite Auflage, Seite zweihundertneunundneunzig. Und eine Seite später: ›Ich liebe die Menschen auch, nicht bloß einzeln, sondern jeden. Aber ich liebe sie mit dem Bewußtsein des Egoismus. Ich liebe sie, weil die Liebe mich glücklich macht; weil mir das Lieben natürlich ist, weil mir's gefällt. Ich kenne kein Gebot der Liebe‹.«
Nun machte er eine kleine Pause und sah mit einem prachtvollen, ironischen Lächeln, wie wir es uns wohl bei Christus vorstellen mögen, wenn die Jünger mit ratlosen Mienen und verständnislosen Fragen in quälten, oder bei Sokrates, wenn die Schüler seines Wesens Hoheit nicht begriffen, den Mechaniker an.
»Was ist das anderes«, fragte er, »als Nächstenliebe, die aus der höchsten Selbstliebe fließt! ... Was ist das anderes als eine Äußerung des selbstbewußten Ich, das sich im Zusammenhang und in der Gemeinschaft mit den anderen Wesen fühlt und empfindet? ... Trotz verschmitzter Dialektik und aller sophistischen Klügeleien hat auch in diesem Menschen eine dunkle Ahnung von dem geheimnisvollen All-Ich gelebt. Und es ist kein Zufall, wenn dieser arme, verhungerte Schulmeister, der alle Schranken durchbrach und in die Einsamkeit des klaren Denkens flüchtete, von dem ›Verein der Gleichen‹ spricht. Vielleicht«, fuhr Thomas leise fort, »hätte sich ihm das Rätsel des Daseins entschleiert, wenn er nicht jedwedes Ding als Realpolitiker geschaut hätte, wenn er nicht gekommen wäre, um aufzulösen, anstatt zu erfüllen. In jedem Falle aber war es mein ehrliches Recht, mich auf ihn zu berufen. Und wenn mir schließlich als bitterster Vorwurf der entgegengeschleudert wird, daß ich alte Dinge auftischte, so antworte ich: die Wahrheit ist uralt und urewig! Und der Gedanke, den ich selbständig und im Innersten durchgearbeitet, gehört mir, wird mein geistiger Besitz, mein Eigentum, auch wenn er vor mir klar formuliert worden ist. Das nämlich«, schloß er, »ist eines der seltsamsten geistigen Phänomene, daß dem suchenden Menschen sich plötzlich von allen Seiten diejenigen aufdrängen, auf Schritt und Tritt ihm begegnen, die vor ihm gesucht und gefunden haben. Nur eine enge Seele kann das verstimmen! Der andere wird den Kopf höher heben und freudig bewegt sein, wenn er seine Wahrheit durch fremde Erkenntnis bestätigt findet!«
Er atmete tief auf, und wieder sah er zu Bettina hinüber, die angstvoll an seinen Lippen hing.
»Für mich ist hier kein Platz mehr«, stieß er rauh hervor. »Sie sind ein Jongleur und Taschenspieler! Sie werfen die Worte wie Bälle in die Luft, daß einem vor den Augen schwindelig wird und man nicht mehr folgen kann. Ich habe genug von Ihnen!«
Sein Gesicht war wutverzerrt, und gleichzeitig blinzelte er in nervösem Zorn beständig mit den Augen.
»Das Streiten hat wirklich keinen Zweck« bemerkte Lissauer. »Soviel ist klar geworden, wirr kennen nicht mehrr zusammengehen.«
Auch sein Gesicht hatte etwas Strenges und Fanatisches.
Heinsius erhob sich ebenfalls.
»All mein Leben habe ich gerungen«, sagte er finster, »ich falle nicht um, nun, wo es bei mir zum Sterben kommt! Ich sinke nicht zurück! Ich gebe keinen Deut meiner Freiheit auf! Ich warte auf den Tod und sage ihm: Ich fürchte dich nicht, denn ich bin frei!«
Ein Hustenanfall schnitt ihm für eine Weile das Wort ab. Sie blickten besorgt auf ihn. Er sah so jammervoll aus. Alles in seinem gebrechlichen Körper schien zu wanken und aus den Fugen zu gehen.
Dennoch wandten sie sich rasch ab. Sie wußten, daß jedes Mitgefühl ihm peinlich war.
Als er endlich zur Ruhe kam, schloß er, und Thomas schien es, als ob er dabei schmerzhaft lächelte und ihn wunderlich anblickte: »Gefühl ist Ballast, ein Mensch wie ich braucht leichtes Gepäck!«
Eine flüchtige Sekunde war Thomas zumute als müßte er seine abgemagerten und durchsichtigen Hände ergreifen und festhalten. Es durfte nicht sein, daß sie alle so jämmerlich von ihm abfielen, daß das Zusammenwirken vieler Jahre in Feindschaft und Bitterkeit endete. Und mit einer Stimme, von der er und die anderen fürchteten, sie könnte in ein wehes Schluchzen umschlagen, rief er: »Ihr ... Ihr ... wollt Menschen sein! ... Menschen!«
Seine Bewegung drohte ihn niederzuzwingen.
Da traf sein Blick die Bettina.
Er richtete sich hoch auf.
Und nun sah er seine Gegner feindselig und überlegen an; seine Augen blitzten.
»Wißt ihr, was ihr seid? In dieser Stunde wenigstens sollt ihr es erfahren! Lebensschänder ... verknöcherte Dogmatiker ... Doktrinäre mit verkalkten Herzarterien! ... Stumpf seid ihr und borniert zum Gotteserbarmen und von einem Hochmut« – er lachte gellend auf – »wie ihn nur armselige, kleine Wichte haben!«
Er wollte den inneren Schmerz übertäuben und biß sich auf die Lippe, daß sie wund wurde, dann kehrte er sich ab.
Fründel und Heinsius gingen zur Tür. Auch Lissauer und Blinsky rüsteten sich.
Lissauer reichte ihm die Hand. Der kleine bucklige Mann mit der Utopistenstirn und dem glatt zurückgekämmten Haar zitterte auf einmal.
»Ich will ... ich will nicht weich werrden«, stotterte er. Und während er zur Seite schielte, fuhr er fort: »Ich will mich nicht verwirren lassen; nein, nein, das geht nicht«, sagte er heftig. »Man hat so lange an sich gearbeitet – und das alles soll umsonst ... soll Torrheit gewesen sein? ... Nein ... nein ... nein! ... ich will nicht!«
Und mit beiden Händen hielt er sich die Ohren zu, als könne er keinen Einwand mehr hören.
Auch der kleine Blinsky wollte ein Wort des Abschieds reden. Er machte ein paar Ansätze dazu, aber das Wort blieb ihm im Halse stecken. Er wurde puterrot, als ob er einen Knochen verschluckt hätte und krampfhaft würgte. Schließlich gab er Thomas nur wortlos die Hand und folgte den anderen.
Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, entfernte sich auch die Brose. Aber ihr Blick sagte deutlich: Ich halte zu dir – und wenn alles weicht!
Und nun waren Thomas und Bettina allein.
Sie standen sich tiefernst gegenüber.
Die Augen Bettinas strahlten eine wunderbare Helligkeit aus.
Dieser blasse Mensch in seiner ärmlichen Kleidung, die an dem müden Körper nur so hing, mit der reinen Stirn, dem blutenden Lächeln um die zuckenden Lippen, dem in sich gekehrten Blick hatte sie durchleuchtet.
Das war der Thomas, dem sie als Kind im Garten zugejubelt und Kränze ins Haar geflochten. Das war der Thomas, an dem sie mit wehem Herzen all die Jahre gehangen hatte. Ihr Elend und Gram schienen ihr in dieser Stunde gering, lagen weit, weit hinter ihr.
Ihr war es, als ob er sie aufgeschlossen hätte, als ob sie es erst jetzt in sich zu blicken vermochte. Sie, sie allein begriff ihn; sie ahnte ihn wenigstens.
Er war untergetaucht in den Strom des Lebens, bis in seine Tiefen und Abgründe hatte er ihn durchforscht, an Steinen sich blutig und wund gerissen. Schlamm und Tang hatten sich an ihn gelegt, ihn umschlungen. Aber die Wellen hatten ihn wieder in die Höhe getragen, und sein Körper strahlte in Reinheit.
»Du ... du!« flüsterte sie.
Und in diesem »du« lag ihre starke Liebe.
Da sah er sie groß und voll an.
Ihr dünkte es, als ob seine Augen heller würden und sich weiteten, als ob sein schlanker Körper noch wüchse. Und seine Stimme klang ihr wie nie gehörte Musik, die sie durchdrang und alles in ihr auslöste bis in die letzten und geheimsten Zusammenhänge.
»Sie fallen von mir ab, du siehst es! Sie fallen von mir ab wie die Regentropfen vom Baume! Sie stoßen mich von sich wie einen räudigen Hund! Nun bin ich einsamer denn je ... ich friere nicht! ... ich sehe ins Licht ... ich wandle im Licht! ... das Licht blendet mich nicht! ... Du bist bei mir – und alles um mich ist hell!«
Er hielt eine Sekunde inne.
Ganz leise und gedämpft brachte er mehr für sich hervor: »Im ›Festsaal‹ brennen alle Kerzen ... sie brennen in weißen Leuchtern.«
Dann beugte er sich zu ihr herab und küßte sie mit keuschem Munde.
»Ich lasse dich nicht«, sagte er, und seine Stimme klang groß und fest.