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Am anderen Morgen erwachte er, noch immer in seinem Stuhle sitzend. Das Buch war seinen Händen entglitten. Der Kopf tat ihm weh.
Er mußte sich langsam und mühsam an die Vorgänge des verflossenen Abends erinnern; alles kam ihm wie in Nebel gehüllt vor, auch glaubte er, geträumt zu haben. Und erst allmählich, als Einzelheiten lebendig in ihm auftauchten, zweifelte er nicht mehr, daß die gestrige Nacht mit ihren Erlebnissen in Wirklichkeit gewesen war.
Er dachte zurück bis auf den Tonfall jedes Wortes, bis auf den wechselnden Ausdruck ihrer Züge; zuweilen schloß er die Augen, um den Erinnerungseindruck ganz stark sich wachzurufen, und schließlich blieben alle seine Gedanken an ihrem Worte haften: »Was in uns ist, ist wahr.«
Aber was ist in uns? spintisierte er weiter. Was bleibt in uns übrig, wenn alle Krusten und Hüllen gefallen sind? Und gab es eine Möglichkeit, daß man mit saurem Schweiße unaufhörlich in sich das Erdreich aufschüttete, bis man an die Wurzeln seiner Persönlichkeit kam? Und wie viele gelangten bei dieser Arbeit zum Ziele?
Das Innere des Menschen war ein Urwald, in dem alles durcheinander wucherte, was Jahrtausende hineingetragen. Gift- und Schlingpflanzen, kriechendes Gewürm, leuchtende Käfer, unheimlich gebildet, wuchsen neben hochstämmigen Bäumen, bewegten sich neben tummelnden Ameisen und schwärmenden Waldbienen. Das Innere des Menschen war ein Urwald, in dem beim Erwachen des Frühlings ein schläfrig süßer Duft aus dem Erdreich stieg, wo aus der Stille und Einsamkeit ein unheimliches Leben herausschlich. Spechte wetzten die Schnäbel, Auerhähne balzten, der Kuckuck machte sich in langgezogenen Tönen vernehmbar, Eichhörnchen huschten behende die Stämme empor, das welke Laub fiel geräuschlos hernieder, und wer Ohren hatte, vernahm, wie alles in der Natur summte und sich losrang und nach Erwachen und Leben gierte. Unzählige Stimmen, Laute und Geräusche, ein Gewisper und ein Geflüster, eine Regsamkeit und ein Bewegungsdrang, die alles in Aufruhr versetzten. Einem Urwalde glich das Innere des Menschen. Kahl und abgestorben liegt es da, bis all das unheimliche Leben plötzlich wie mit einem Schlage das Unterste zu oberst kehrt. Und selbst wenn man jeden dieser Laute deutlich vernähme, wer vermochte sich einen Einklang zu schaffen, wer vermochte durch die Finsternis und das Urgestrüpp sich einen Weg zu bahnen? Und wer hatte die Kraft und den Mut, den Weg zu gehen?
War es nicht viel besser und lebenstüchtiger, wenn man das Hören allmählich verlernte? Wenn die unendlich vielen Stimmen verstummten, wenn man die empfindlichen und trostlosen Geräusche überschrie, wenn man das Keimen und Wachsen nicht mehr sah? Lief nicht schließlich das ganze Leben des Menschen darauf hinaus, dem inneren Auge das Licht zu nehmen, den inneren Ohre den Ton? War es nicht vermessen und die Jugend untergrabend, auf die Suche zu gehen nach dem, was in uns ist? Aber war dieses Suchen nicht unsere Sehnsucht? Und war man überhaupt noch ein hochragender Mensch, wenn man seiner Sehnsucht die Flügel beschnitt und sie wie arme gefangene Vögel erdkriechend machte?
Aber was war denn die Sehnsucht? schrie er sich heftig an. Vielleicht war sie nur ein dumpfes Gespenst, leer, inhaltlos, das ihn verfolgte wie sein Schatten und nicht einzufangen war, ein Phantom, ein Reflex! Ja, ein Reflex! erwiderte er sich selbst. Aber wie der Schatten ein Reflex von etwas Körperlichem, etwas Seiendem, also ein Abbild vom Wesen der Dinge, also wirklich existierend, also etwas Wesentliches, vielleicht das Wesentliche!
Seine Ideen schmerzten ihn. Er entkleidete sich und verwandelte sein Zimmer in eine Badestube. Er goß das kalte Wasser wie einen Strom über seinen Körper, schüttelte sich wie ein nasser Pudel und warf sich, ohne sich abzutrocknen, in das Bett. Er hatte das Gefühl, daß es töricht und unvernünftig wäre, heute in ein Kolleg zu gehen. Er würde gedankenlos in die Luft starren und kein Wort verstehen. Und wenn er doch etwas verstünde, so würde es ihm kindisch und belanglos vorkommen.
Das war das letzte, was er dachte. Nur noch unklare, unbestimmte Empfindungen durchwogten ihn. Er fühlte wohl, wie der nasse Körper unter den Decken und Kissen sich trocknete und Wärme aufnahm, wie es ihn durchrieselte, als ob durch sein Blut ein Feuerstrom geleitet würde. Aber das alles kam nicht mehr zu klarem Bewußtsein in ihm; er hörte auch nicht mehr, wie seine Wirtin hereinkam, um das Zimmer aufzuräumen.
Sie sah sich kopfscheu in der Nässe um und holte einen schmutzigen, baumwollenen Lappen, mit dem sie stöhnend über die Dielen fuhr. Hierauf stellte sie sich vor sein Bett und betrachtete ihn neugierig. Er atmete schwer und schien unruhig zu träumen. Sie legte ihre welke Hand, die sie vorher an ihrem Rocke trocknete, einen Augenblick auf seine Stirn; dann schüttelte sie das Oberbett, daß der Wust der Federn nach unten kam und die Brust nicht beschwerte. Und mit sich selbst zufrieden, räumte sie gemächlich den Tisch auf, tat die Speisereste und das Geschirr auf ein Tablett, besah sich sorgfältig die rote Decke, die sie an längst vergangene Zeiten zu erinnern schien, und trippelte, mit ihrem Kram beladen, schwerfällig hinaus.
Er schlief bis zwei Uhr mittags. Als er das Bett gekräftigt verließ, beherrschte ihn nur noch die eine Vorstellung: es gibt nichts Schöneres und Besseres, als verliebt zu sein, ich bin jung, ich bin glücklich, ich bin verliebt! Und herzhaft sprang er in seine Kleider und pfiff dabei eine Melodie. Wie kann man nur so kindisch sein, immer zu grübeln, sagte er zu sich selbst. Wer nicht genießt, lebt nicht. Und sein ganzes Leben betrachtete er auf einmal in einem völlig anderen Lichte. Alle seine Ideen kamen ihm wie Jugendeseleien vor; erst seine Liebe hatte ihn gereift und zum Manne gemacht.
Er zündete sich seine Pfeife an und schritt auf die Straße. – – –