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XI.

Es ging Thomas in dieser Zeit eigentümlich. So oft er aus der Schule kam und über Tamaras Befinden sich vergewissert hatte, drängten alle seine Wünsche zu Bettina. Hatte er sie aber im Garten aufgespürt und sah er sie von weitem, so bog er rasch ab, um ihr nicht zu begegnen. Er wäre gern zu ihr gegangen und hätte zu ihr gesagt: Bettina, küsse mich; küsse mich wie damals auf der Bodenkammer; und dann würde er sie am liebsten mit seinen starken Armen in die Höhe gehoben haben, daß ihre Locken im Winde wehten, und ihre schwarzen, lachenden Augen um Gnade bäten. Er träumte es sich so. Und auf dem Heimweg vom Gymnasium malte er sich alle Wonnen seiner jungen Liebe aus. Freilich, bevor er sie noch sah, wurde er verschämt und scheu. Wie hatte er auch in Gedanken so keck und verwegen sein wollen, sie anzurühren, oder in seine Arme zu nehmen! Und die Vorstellung gar, jemand könnte seine Zärtlichkeit belauschen, peinigte und marterte und demütigte ihn vor sich selbst. Seine Liebe war ein heimlich verborgener Edelstein, der schon an Glanz und Pracht verlor, wenn ihn nur ein anderer sah. Er allein durfte sich in der Dunkelheit an seinem leuchtenden Feuer erwärmen. So verkroch er sich, sobald Bettina in Sehweite war. Vor jedem lauten, häßlichen Ton bewahrte er seine Neigung. Sie wäre ihm beschmutzt gewesen, wenn jemand sie überlegen belächelt hätte.

Bettina mißverstand es, daß er sie in seiner keuschen Liebe mied. Sie glaubte, daß er ihr Küssen in der Bodenkammer übel aufgenommen habe und ihr böse sei. Und nun wurde auch sie scheu und verlegen.

Aber gerade dieses gegenseitige Mißverstehen und zaghafte Davonflattern brachte ihre jungen Herzen nur noch näher zusammen.

Nach dem Gespräch mit Tamara drängte es ihn mit aller Gewalt zu dem Kusinchen. Mit ihr mußte er beraten.

Er suchte sie im Garten, und als er sie nach einer Weile entdeckte, da blieb er wie gebannt in einiger Entfernung stehen und wagte nicht näher zu treten.

Sie stand unter einem Laubengang von Akazien in einem weißen Spitzenkleidchen. Auf ihren schwarzen Locken, die im Winde wehten, trug sie einen Kranz weißer Blumen. Und aus ihrer Geige holte sie wilde, übermütige Weisen, und ihr schlanker Körper schien wie geschwellt vor Lust und Erregung.

Als sie Thomas erblickte, brach sie mitten im Spiele ab und sah ihn in lieblicher Verwirrung an.

Auch er brachte zuerst kein Wort hervor. Endlich sagte er: »Weißt du, du kommst mir wie eine Sommerfee vor. Ich kann es mir nicht vorstellen, daß der Garten ohne dich und deine Geige unser Garten wäre. Es kann auch gar nicht anders sein«, fuhr er seltsam erregt fort. »Es gibt halt Märchen, die keine Märchen sind, nämlich ...« – er stockte einen Augenblick – »nämlich«, begann er von neuem und brach eine Blume ab, »das ist eine Anemone, und du bist aus ihrem Kelch herausgewachsen. Und eigentlich müßtest du nicht Bettina, sondern Anemone heißen, denn du bist geradeso wie die –« Er brach verwundert über sich selbst ab.

Sie aber klatschte vergnügt in die Hände und strahlte vor Freude. »Sprich weiter«, sagte sie, »es war zu hübsch.« Und in sich versunken lächelnd, wiederholte sie: »Also ich bin eine Sommerfee, und einmal war ich eine Blume. Wie schön ist das, Thomas!«

Und von neuem legte sie die Geige an ihr Kinn, sah ihn mit verlangenden, weit geöffneten Kinderaugen an und spielte nur für ihn. Und der Ton klang voll, weich und blühend, als sollte er hineinströmen in all die Pracht dieses Spätsommertages. Und Bettina selbst glühte vor Leben und innerer Bewegung.

»Kann denn noch jemand so spielen wie du?« sagte Thomas in tiefer Bewunderung, als sie geendet.

Da trat auf ihr holdes Antlitz eine rätselhafte Schwermut.

»Wenn ich einmal so geigen könnte!« meinte sie verträumt. »So geigen wie er! Nein«, fuhr sie fort, und ihre Augen blitzten und funkelten wie Wildfeuer, »ich wünschte, ich könnte besser spielen als er und er müßte es selbst eingestehen. Du weißt, ich hasse ihn. Ich könnte ihn, glaube ich, ertrinken sehen und würde mich nicht rühren, wie er sich nicht gerührt hat, als die Mama ... Aber« – unterbrach sie sich, und ihr Auge bekam einen verzückten Glanz – »spielen tut er, ach, du kannst es dir nicht denken!«

Sie lachte plötzlich boshaft auf, und in ihre kindliche Miene trat ein schadenfroher, häßlicher Zug. Sie sah, wie Thomas davon betroffen wurde. Da sagte sie erklärend: »Eines Tages, als ihn eine abholte, und die Mama wieder so weinte, da bin ich in sein Musikzimmer gegangen und habe ihm seine beste Geige zerschlagen, und die Scherben« fuhr sie zitternd fort – »es waren lauter Scherben, Thomas, habe ich ihm auf den Flügel gelegt. Du« – sagte sie, und ihre Stimme schlug vor Lust und Entzücken gleichsam über – »geschrien hat er am anderen Tage, geweint! Ich stand im Nebenzimmer und hörte alles. Und dann habe ich leise die Tür geöffnet, mich dicht vor ihm hingestellt und gesagt: Ich war's. Denn zuerst hatte er geglaubt, die arme Mama hätte es getan. An den Haaren hat er mich gerauft, Thomas, und mit den Füßen nach mir getreten! Und von dem Tage an hat er mich so gehaßt wie ich ihn.«

Und als sie dem Knaben nun ihr großes Geheimnis, das sie all die Zeit still für sich getragen, gebeichtet hatte, da strahlte sie vor Vergnügen, und jede ihrer Bewegungen hatte etwas Katziges und ihre Miene etwas Raubtierartiges.

»Rauf du nur und tritt mich mit Füßen, habe ich bei mir gedacht – mir schadet's nichts, und deine Geige ist doch entzwei.« Aber auf einmal veränderte sie ihre Haltung, und mit trauriger, leiser Stimme sagte sie, ganz in der Erinnerung verwehter Töne schwelgend: »Ach, spielen tut er wie ein ...«

Sie lief plötzlich davon, um hinter Hecken und Büschen zu verschwinden. Thomas sah nur noch, wie der Wind ihre Locken schüttelte, und wie die weißen Blumen auf ihnen tanzten.

Als sie nach einer kleinen Weile ohne die Geige zurückkam, schien sie Thomas völlig verändert. So ruhig und wortkarg war sie, so ernst und verschlossen.

Da setzte er sich neben sie und erzählte ihr vom Prediger und der Tamara. Sie hörte mit gefalteten Händen gläubig und furchtsam zu. Und als er aufgehört hatte, brachte sie in festem Tone die Worte hervor: »An deiner Stelle würde ich nicht zu ihm gehen. Ich täte es ganz gewiß nicht! Sieh mal«, fuhr sie hastig überredend fort, »er will dich bestimmt anders machen.«

»Soll ich denn nicht anders werden?« fragte er weich.

»Nein Thomas, gerade so sollst du bleiben.«

»Er wird aber nicht zu Tamara kommen, wenn ich nicht zu ihm gehe«.

Sie überlegte ein Weilchen. »Dann mußt du doch zu ihm gehen«, meinte sie beklommen.

»Die Tamara hat so schön ausgesehen, und seine weiche Stimme wird ihr gut tun.«

»Wird es denn der Onkel erlauben?« fragte sie scheu.

Thomas wurde verlegen und sprang auf.

»Soll ich es ihm jetzt sagen?«

Sie stützte die Arme auf und grübelte ein wenig. Es war ihr so seltsam und geheimnisvoll, daß sie in einer so wichtigen Sache entscheiden sollte. Sie fühlte sich auf einmal so klug und erwachsen wie ein großes, feines Fräulein. Thomas' Vertrauen schmeichelte ihr.

»Frag ihn gleich«, entschloß sie sich kurz. »Dann wissen wir es doch.« Dieses »wir« erschreckte sie und tat ihr doch unsagbar wohl.

»Warte auf mich«, sagte Thomas und ging.

Nun saß sie allein da mit brennenden Backen und klopfendem Herzen. Sie hielt es nicht lange so aus, sprang an den Weiher, spiegelte sich in dem dunklen Wasser, hob dann ihr weißes Kleidchen ein wenig in die Höhe und tanzte leicht beschwingt, ihre Bewegungen zuweilen auf der glatten Spiegelfläche, die still und regungslos dalag, verfolgend. Dann beugte sie sich über den Rand und haschte nach den langstieligen Wasserrosen, ohne darauf zu achten, daß das Wasser Kleid und Füße besprengte und vereinzelte Tropfen in ihr Gesicht spritzten. Es begann zu dunkeln, und Thomas kam nicht. Aber aus dem Grunde des Weihers tauchten ihr gespensterhafte Schatten auf, die unheimliche Worte flüsterten. Da schrie sie auf und jagte in das Haus. – – –


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