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Über dem Hause lag es wie Angst und Druck. Frau Tamara mußte das Bett hüten; und der Doktor fehlte jetzt häufig sogar bei den Mahlzeiten.
Thomas würdigte er keines Blickes und sprach kein Wort zu ihm, er tat, als existierte er nicht für ihn. Bettina knurrte er unfreundlich an, so daß die Kinder wie erlöst waren, sobald er das Haus verließ.
Sie waren ganz auf sich allein angewiesen; denn Tamara hatte die Gewohnheit, wenn sie sich elend fühlte, niemanden zu sich zu lassen, am wenigsten ihren Jungen, der sie im Zustand der Hilflosigkeit nicht sehen sollte. Und während ihres Krankenlagers stellte es sich heraus, daß niemand mit Bettina so recht umzugehen wußte.
Man beklagte sich über sie beim Doktor. Und der sah sie mit einem so finsteren Blicke an, daß ihr kleines Herz fast still stand. Kam dann Thomas aus der Schule, so flog sie ihm förmlich entgegen, drückte sich an ihn und wich nicht mehr von seiner Seite. Denn nur bei ihm fühlte sie sich sicher.
Einmal sagte sie zu ihm mit blitzenden Augen: »Wenn ich groß bin, werde ich mir einen schwarzen Rappen kaufen und all die bösen Menschen niederreiten. Zerstampfen werde ich sie«, setzte sie hinzu, »und nicht aufhören, bis sie in ihrem Blute –«
Thomas ließ sie nicht zu Ende sprechen. Er packte sie an den Schultern und sah sie entsetzt an. Er war ganz bestürzt von diesem Ausbruch ihres wild erregten Gemütes.
»Du könntest morden?« fragte er beinahe scheu.
Sie zuckte nicht mit den Wimpern. »Gewiß«, antwortete sie, »alle, die mir Böses tun. Alle, die mich treten und so schlecht gegen mich sind.«
Er gab sie unvermittelt frei. »Pfui Teufel«, sagte er mit tiefem Abscheu und wandte ihr den Rücken.
»Thomas!« rief sie bebend.
Er drehte sich noch einmal um.
In ihren Augen standen schwere Tränen. »Wenn du so zu mir bist«, brachte sie mühsam hervor, »tue ich was!« Und bekräftigend wiederholte sie noch einmal: »Ich tue was!«
Da wurde er weich und zärtlich. Er dachte an den kleinen schwarzen See, in den sich die Äste der Weiden bogen, und wurde ganz beklommen. »Ich weiß, was du denkst«, sagte er.
Sie blickte verwirrt zu Boden.
Er sah sie schon als kleines Wassernixchen mit triefenden, schwarzen Locken, die Augapfel sonderbar verdrehend, wie sie allnächtlich aus der Tiefe des unheimlichen, kleinen Wassers emporstieg und in verhexten Lauten, die schauerlich durch die dunkle Stille zu ihm drangen, seinen Namen rief. Er schüttelte sich. Dann lachte er heiter auf.
»Das könnte dir so passen, Bettinchen, da unten in das große Schloß zu steigen, Reigen zu tanzen und schlimme Lieder zu singen.«
Sie schüttelte ihre Locken und stimmte nicht in sein Gelächter ein. »Gerne täte ich's nicht«, entgegnete sie ernst. »Ich habe solche Angst davor. Aber manchmal meine ich, wenn es nur dunkel wär' und ich heimlich davonlaufen könnte. Hier hat mich doch keiner lieb. Keiner!«
»Und Tamara?«
»Tamara«, wiederholte sie und sah ihn plötzlich mit einem Lächeln an, das nicht das eines Kindes war, sondern etwas untrüglich Wissendes barg. »Tamara ist gegen keinen schlecht; aber lieben tut sie nur dich.«
»Und habe ich dich nicht lieb?«
Das Lächeln des kleinen Mädchens bekam jetzt etwas Erschütterndes. Leise und verträumt entgegnete sie: »Wenn du mich lieb hättest!«
»Ich habe dich lieb.«
Einen Augenblick leuchtete es über ihr Gesicht. Dann erwiderte sie wehmütig: »Mich hat noch niemand gern gehabt.«
»Und deine Mama?«
»Auch die nicht. Die hat nur den Papa ...« Sie brach hastig ab.
»Und der?« fragte Thomas.
Sie wurde ganz blaß.
»Der?«
Sie barg ihr Gesicht eine Weile in die Hände. Dann ließ sie die Arme sinken und blickte den Jungen in fassungsloser Erregung an. Und mit einer Ruhe, die zu ihrer inneren Bewegtheit in keinem Einklang stand und für Thomas etwas Eisiges hatte, fragte sie: »Weißt du, wie das sechste Gebot lautet?«
Thomas besann sich.
Sie kam ihm zu Hilfe. »Du sollst nicht ehebrechen.«
»Ja, aber«, antwortete der Junge.
»Er hat meine Mama immer allein gelassen«, fuhr sie fort. »Er hat sie nicht mehr leiden können.«
Thomas schwieg noch immer.
Bettina wurde unruhig. »Begreifst du es denn nicht?« fragte sie nervös. Und ihren letzten Trumpf ausspielend, sagte sie: »Ich habe es gehört, wie meine Mutter zu ihm gesagt hat: ›Warum faßt du mich immer mit glühenden Zangen an?‹«
»Er hat sie mit glühenden Zangen angefaßt?«
»Meine Mutter hat es gesagt, ich habe es nicht vergessen. Und dann ist er ganz von uns fortgegangen, und darum« fügte sie demütig und traurig hinzu, »sind wir zu euch gekommen. So, nun weißt du alles.«
Thomas nickte. Einen Augenblick blieb alles still. Bettina warf ihren Kopf verwegen in die Höhe. »Wenn ich ihn sehe, dann schieße ich ihn tot.«
»Deinen Papa?«
»Das ist ganz egal«, entgegnete sie ruhig und gelassen.
Er erschrak vor der Kraft und Entschlossenheit des kleinen Bäschens und blickte sie mit Bewunderung an.
Bettina fühlte es. »Ja, siehst du«, sagte sie, von ihrer eigenen Bedeutsamkeit geschmeichelt, »er hat die Mama getötet, ich töte ihn, das ist doch ganz in Ordnung.«
Thomas war sich darüber noch nicht ganz klar, und doch fand er es im Grunde logisch. Gleichwohl wehrte er sich gegen sie. »Du bist ein bißchen dumm«, meinte er kurz und bündig, als wollte er einen ihm lästigen Denkprozeß abkürzen.
»So, so, meinst du?« gab sie zurück, und mit einer Überlegenheit, vor der ihm bänglich wurde, fügte sie hinzu: »Du wirst es ja sehen. Ich weiß, was ich weiß.«
In diesem Augenblick hörten die Kinder die Stimme des Doktors. Sie sahen sich bedeutsam an und räumten hastig das Feld, obwohl Thomas noch seinen Namen nennen hörte. Wie verfolgte Sünder stiegen sie die Treppen empor, immer weiter, bis sie vor den Bodenkammern standen. Sie krochen in einen der Verschläge hinein, an dem sich ein paar Latten gelöst hatten. Die Dämmerung, die hereinzusinken begann, ließ gerade noch so viel Licht übrig, daß man die einzelnen Dinge unterscheiden konnte.
Die Kinder, die zum erstenmal den Bodenraum betraten, blickten neugierig um sich. Und da sehen sie ein paar singende Engelgruppen, die ehedem in einer der Gartenlauben befestigt gewesen waren und später hatten weichen müssen. Diese singenden Engel mit verletzten Nasen, verstümmelten Ohren, deren zum Lobgesang geöffnete Münder bereits abbröckelten, machten auf sie einen bedeutsamen und unheimlichen Eindruck. Dann lagen da noch verschiedene Futterale, die sie behutsam öffneten. Aus dem einen fiel ihnen eine Flöte entgegen, aus dem anderen eine Zither. Ein Kasten, der daneben lag, enthielt ein altes Schachspiel aus Elfenbein. In der Ecke befand sich ein länglich-runder, in die Höhe ragender Gegenstand, der mit einem schwarzen Tuch verhüllt war. Vorsichtig traten sie an ihn heran.
»Was mag darunter sein?« flüsterte Bettina.
Thomas schlug statt aller Antwort den dunklen Vorhang zurück. Und nun schrien sie beide gellend auf.
Ein Totengerippe starrte ihnen entgegen.
Aber sie faßten sich bald. Die Bodenkammer kam ihnen auf einmal wie ein unheimlicher Winkel vor, in den sie ein merkwürdiger Zufall verschlagen hatte.
Da lag noch unendlich viel anderes altes Gerumpel, verstaubt, vermodert, das längst vergangenen Zeiten angehören mochte. Sie fanden es beide in der Bodenkammer schön. Sie bekamen jenes süße Angstgefühl, das den Kindern ein leichtes Gruseln schafft und ihnen doch verlockend und anziehend ist. Sie sahen sich von geheimnisvollen Dingen umgeben und erdichteten sich zu jedem Stück eine Geschichte.
Sie schmiegten sich eng aneinander und schraken zusammen, wenn in ihrer Stille ein Geräusch vernehmbar wurde. Und schließlich hockten sie auf zwei zerbrochenen Schemeln nieder, und Bettina fing unvermittelt bitterlich zu weinen an.
»Hast du Angst?« fragte Thomas besorgt.
Sie drückte fester seine Hände und bewegte heftig den Kopf.
»Warum weinst du also?«
Da blickte sie mit einem fremden Lächeln zu ihm empor, wie er es noch nie an ihr gesehen hatte, und antwortete: »Ich weine, weil ich dich so sehr lieb habe, Thomas, und weil ich immer hier oben mit dir allein sein möchte.« Und während sie das sagte, berührten ihre Haare sein Gesicht, so daß ihm wunderbar zumute wurde.
Er mied ihren Blick, aber dann schämte er sich dessen.
Die Dunkelheit brach herein. Die Kinder unter dem Dachgiebel saßen noch immer schweigend und stumm nebeneinander. Sie rührten sich nicht.
Unbestimmte Gefühle und Stimmungen erfüllten sie. Thomas versuchte Bettinas Züge zu erkennen, aber er sah trotz aller Anstrengungen kaum noch ihre bräunliche Gesichtsfarbe. Nur ihre Augen, die ernst, feierlich und durchdringend auf ihn gerichtet waren und aus ihrem Gesicht wie losgelöst schienen, so groß und glänzend kamen sie ihm vor, empfand er deutlich.
Und da auf einmal ohne Überlegung und ohne Absicht küßte er sie auf ihren kleinen, begehrlichen Kindermund mit den dunklen, kirschigen Lippen. Unmittelbar darauf umschlangen ihn zwei magere Kinderarme und drückten und preßten ihn so gewaltsam, daß er meinte, eine übernatürliche Kraft ginge von ihnen aus. Und die kleine Bettina rückte ihm immer näher und goß verschwenderisch einen solchen Reichtum von Zärtlichkeiten über den Knaben, daß er ganz verwirrt und wie benommen wurde. Ein dumpfes Glücksgefühl durchdrang ihn, und zugleich empfand er die Kleine so neu, so stark, so überlegen, daß er in seiner Schüchternheit sich trotz seines Alters ordentlich klein neben ihr vorkam. Vom Rathaus schlug es die neunte Stunde. Und jeder Schlag der Glocken tönte wie eine strenge Anklage in ihren Ohren wider.
Auf den Fußspitzen ging Thomas voran. Bettinas Kleidchen blieb an einem großen Nagel hängen, so daß Thomas alle Mühe hatte, sie zu befreien.
Scheu und gegenseitig sich meidend, trippelten sie die Stufen herunter. Es war ihnen, als ob sie etwas Böses begangen hätten.
Vor der Gesindestube machten sie Halt.
Thomas klinkte beherzt die Tür auf und trat mit einem dreisten, herausfordernden Blick in das erleuchtete Gemach. Das Bäschen folgte in einiger Entfernung.
Die Dienstboten brachen mitten im Gespräch ab und blickten verwundert auf die Kinder, an deren Kleidern Staub und Moder hing.
»Wir möchten Abendbrot«, unterbrach Thomas das Schweigen. Die Frauensleute, die offenbar geklatscht hatten und sich belauscht glaubten, knurrten etwas Unverständliches zur Antwort, und beruhigt verließen die Kinder mit einem gewissen Siegergefühl den Raum.
Aber beim Essen sprachen sie kein Wort miteinander. Sie blinzelten sich nur hin und wieder verstohlen an und wünschten sich beklommen: Gute Nacht!
Diese Dämmerstunde in der Bodenkammer aber blieb ihnen bis auf die kleinste Einzelheit im Gedächtnis haften. Sie war ihnen ein teures Erlebnis, das sich in ihre Seelen prägte wie ein liebliches, zartes Bild, wie ein Geheimnis ihrer Jugend, dessen feinen Duft sie wie etwas Kostbares bewahrten. Denn in dieser Stunde waren sie erwacht. Die Bodenkammer wurde zu einem Schlupfwinkel, der ihnen und nur ihnen gehörte.
Sie hatten von nun an einen gemeinsamen Besitz, der sie innig verband und einen rätselhaft süßen Zusammenhang zwischen ihnen schuf.