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V.

Der Abend, an dem das Konzert der Bettina stattfand, war kalt und klar. Die Sterne funkelten.

Vereinzelte Droschken hielten vor der Singakademie. Ab und zu ging eine kleine Gruppe von Menschen hinein. Noch nicht ein Drittel des Saales war gefüllt.

Die Freunde vom »Festsaal«, die vollzählig erschienen waren, blickten sich ein wenig verstimmt um. Sie kannten die Musikverhältnisse Berlins zu wenig. Sie wußten nicht, daß nach dieser Riesenstadt aus allen Weltrichtungen die Virtuosen gepilgert kommen, für ihre letzten Groschen sich ein Konzert veranstalten lassen, bloß um hier »besprochen zu werden«. Mit den Kritiken in der Tasche ziehen sie dann in die Provinz, wo sie sich schadlos zu halten suchen. Die Leute vom »Festsaal« wußten auch nicht, daß jede Woche eine ganze Reihe von Konzerten namhafter Künstler stattfand, daß das Publikum in Berlin mit Musik überfüttert wird, daß man an den Neulingen nur geringes Interesse nimmt.

Die Besucher, die sich an dem Abend in der Singakademie eingefunden hatten, waren selbstverständlich mit Freibilletts erschienen, zum größten Teil Musiklehrer und -lehrerinnen, die wiederum ihre Bekannten mitgenommen hatten.

Die meisten Konzerte brachten den Veranstaltern nur Sorgen und Enttäuschungen. Nach jahrelangem Arbeiten und Studieren traten sie auf, um dann in der Presse mit ein paar mitleidigen, oder gar höhnischen Worten abgetan zu werden. Viele, die ihre ganze Jugend dem aufreibenden Studium geopfert hatten, mußten hören, daß ihr Können denn doch nicht für ein öffentliches Auftreten ausreiche. Anderen wurde der Rat gegeben, noch ein paar Jahre fleißig und ernsthaft an sich zu arbeiten.

Wie oft entschied so ein Abend über das ganze Schicksal solch eines armen Menschen! Nur für ein paar Wenige war Platz, die übrigen wurden ohne Schonung zurückgedrängt, um in bitterer Vergessenheit durch Stundengeben mühselig sich durchzuschleppen. Es war gleichsam ein Trost und eine Genugtuung für sie, wenn sie dann in all den folgenden Jahren den Fall jener miterlebten, die wie sie hoffnungstrunken hierher kamen. Sie waren die schärfsten Kritiker im Konzertsaal. Jeden falschen Ton hörten sie heraus, und ihre verständnisvoll lächelnden Blicke trafen sich. Sie legten den strengsten Maßstab an. Sie zahlten sozusagen heim, was man ihnen angetan hatte ...

Und vor diesen Leuten sollte Bettina zum erstenmal in Berlin spielen!

Am Abend vorher hatte sie Thomas froh geigen und sich selbst über all das Leid hinwegbringen wollen. Er hatte aber so verstört abgewehrt, daß sie jeden Versuch aufgab.

Und auch darin begriff sie ihn. Sie hatte wortlos den Geigenkasten beiseite gestellt und unaufhörlich zu erzählen begonnen, um ihn hinwegzutäuschen über das, was in ihr arbeitete.

Er mußte sie zu dem Konzert abholen. Darauf hatte sie bestanden.

Während der Fahrt fragte sie ihn, ob die anderen kommen würden.

»Alle, außer Katharina!«

Sie schmiegte sich an ihn und nahm seine Hand, die sie nicht mehr losließ. Und so niedergebeugt und mutlos sie war, so hielt sie doch der eine Gedanke in dieser Stunde aufrecht, daß sie nur für ihn spielen würde. Ich werde nur für ihn spielen, wiederholte sie sich in einem fort. Da wußte sie, daß sie alles geben würde, was in ihr lag. Ihr wurde ganz warm, obwohl sie nur ein Cape über ihrem dünnen, weißen Tüllkleid trug, um es nicht zu drücken.

»So, wir sind da«, sagte sie erregt. »Du mußt bei mir bleiben, bis es beginnt. Du mußt«, bat sie innig und nahm seinen Arm.

Eine Minute später waren sie in dem Künstlerraum, von dem aus eine Treppe zu dem Podium führt.

Sie hatte das Cape abgeworfen und stand nun vor ihm in ihrem bescheidenen Kleidchen, dessen Spitzeneinsatz bis zum Halse ging. Dennoch sah sie anmutig und eigenartig aus. Das Kleid stimmte zu ihrem feinen Persönchen. Ihr todestrauriges Gesicht hatte etwas unsagbar Rührendes. Sie achtete nicht auf seinen armseligen, fadenscheinigen Anzug, sie blickte nur in seine Augen, als wollte sie das Letzte in ihm ergründen. Und auf einmal flüsterte sie weich und wunderbar lächelnd: »Du sollst mich küssen, Thomas, wie eine Schwester sollst du mich küssen!«

Seine ernsten Züge blühten auf, als er sich zu ihr herabbeugte; und wieder hatte sie die Vorstellung, er sei gar nicht verheiratet. Und dieser Gedanke verstärkte sich noch, als er sie küßte, während sie die Lider schloß. So rein, so keusch, so jünglingshaft erschien er ihr.

Sie hörte Schritte. Unmittelbar darauf stand ein mittelgroßer Mann mit einer spiegelglatten Glatze und einem pfeffergrauen, dürftigen Vollbart, der am Kinn ausrasiert war, vor ihnen. Die lebhaften, kleinen Augen, die etwas Stechendes hatten, waren hinter einem Kneifer verborgen. Das Gesicht hatte einen rötlichen Ton.

Nachdem er zuerst Thomas einigermaßen erstaunt beäugelt hatte, reichte er ihr einen Strauß dunkler Rosen, ließ ein paar belanglose Worte fallen und zog gleichzeitig die Uhr vor. »In fünf Minuten fangen wir an, mein Fräulein!«

Sie nickte nur. Und auf Thomas weisend: »Sie gestatten wohl, daß ich Ihnen meinen Vetter vorstelle. Herr Thomas Track – Herr Konzertdirektor Behr!«

Der Konzertdirektor verbeugte sich mit einem undefinierbaren Zug um die Lippen und räusperte sich unverständlich. Dann ging ein seltsames Zucken über sein Gesicht, als fiele ihm irgendetwas ein. Er brachte eine höfliche Phrase hervor und fügte hinzu: »Eis ist übrigens Zeit, daß Sie Ihren Platz aufsuchen. Die Philharmoniker sind pünktlich. Die Leute haben es immer eilig, nach Hause zu kommen!« Er meinte damit die Orchestermusiker.

Bettina nahm Thomas' Hände, und voll Demut sagte sie wieder: »Ich spiele nur für dich!«

Ohne auf den Agenten zu achten, küßte er sie auf die Stirn. Dann entfernte er sich.

Der Konzertdirektor rieb einen Augenblick verlegen seine Hände.

»Hören Sie mal, mein Fräulein, ist das etwa der Thomas Truck, von dem man viel in den Zeitungen liest, der in Versammlungen –«

»Ja, der ist es«, antwortete sie ruhig und weidete sich in seiner Bestürztheit.

»Kindchen«, entgegnete der Agent in einem väterlich protegierenden Ton, »Sie müssen hier in Berlin etwas vorsichtig sein! So'n Mensch kann Sie – Sie nehmen mir das nicht weiter übel – erlauben Sie mal, wie der Mensch schon angezogen ist! ... Das ist doch keine Konzerttoilette! So ein Mensch kann Sie kompromittieren! Sie dürfen es mir ...« Er sprach nicht zu Ende.

Bettina hatte ihren Kopf ein wenig zurückgebogen und blickte so zornig auf ihn, daß er betroffen wurde.

»Diesen Menschen, mein Herr, kenne ich besser als Sie. Das ist ... der ist ...« Sie wollte offenbar eine Erklärung abgeben, aber als ob sie sich eines Besseren besonnen hätte, hielt sie mitten im Satze inne, kehrte sich um und nahm ihre Geige in die Hand.

»Aber Fräulein!« In dem Tone des Konzertdirektors lag etwas Begütigendes. »Lassen Sie sich nicht die Stimmung verderben, in keinem Fall wollte ich Sie verletzen!« Er wurde wieder etwas kühler und reservierter. »Übrigens, ist Ihnen schlecht? Sie sehen so furchtbar angegriffen aus. Wünschen Sie vielleicht ein Glas Rotwein?«

»Nein, nein, ich will jetzt hinaus!«

Der Konzertdirektor führte sie zur Treppe.

Sie hielt sich an dem Geländer. Auf jeder Stufe blieb sie eine Sekunde stehen. Ihr Gesicht war voll tiefer Trauer. Sie fühlte, wie die Tränen langsam in ihr aufstiegen.

Und jetzt trat sie vor das Publikum. Ich spiele für ihn ... Ihre blutlosen Lippen bewegten sich. Die Arme waren ihr schlaff.

Der Kapellmeister nickte ihr ermutigend zu.

Sie klammerte sich an die Geige. Ihr Auge irrte suchend durch den leeren Saal. Und da entdeckte sie ihn. Ihre Gestalt wuchs. »Ich spiele für ihn«, flüsterte sie wieder, ohne zu merken, daß viele Gläser auf sie gerichtet waren.

In der ersten Reihe saßen Herr und Frau Berg. Neben ihr Rechtsanwalt Kornfeldt.

Der Kapellmeister gab das Zeichen.

Das Orchester setzte zum Vorspiel ein. Beethovens großes Violinkonzert war die erste Nummer des Programms. Sie hatte ein paar Minuten Zeit, um sich zu sammeln. Nun legte sie den Bogen an.

Nach den ersten Tönen war es allen, die in dem fast leeren Saal sich eingefunden hatten, klar, daß etwas Außergewöhnliches ihrer wartete. Groß, voll und feierlich klangen die Töne. Hier wurde Beethoven nicht gespielt, hier wurde er erlebt, im Innersten erlebt. Das Spiel war von einer Reinheit und Kraft getragen, von einer Größe der Auffassung, daß es atemlose Stille schuf.

Sie aber dachte beständig nur: ich spiele für ihn.

Als der erste Satz verklungen war, blieb es einen Augenblick ganz still. Dann aber zerklatschte man sich schier die Hände.

Sie hörte es teilnahmslos. Sie suchte nur ihn, aber sie konnte ihn jetzt nicht finden. Er hatte sich vor ihren Blicken verborgen.

In ihm war Widerstreit und Auflösung. Auch er sah keinen Menschen um sich. Er sah nur den Garten, wo sie für ihn allein gespielt hatte, während im Winde ihr weißes Kleidchen wehte, und alles um ihn duftete. Versunkene Zeiten tauchten vor ihm auf. Geheimnisvolle Schauer durchdrangen ihn. Ihm war es, als ob ihr Spiel alles das, was wie eine Eiskruste hart auf ihm gelastet hatte, sanft, behutsam und milde von ihm nahm. Es trug ihn weit fort. Es schloß ihn auf. Es dünkte ihn, als ob es ihn kindlich fromm machte, als ob es alles Mystische und Religiöse, das in ihm schlummerte, auslöste. Und ohne, daß er sich völlig darüber klar wurde, stieg in ihm die Erkenntnis auf, daß er die ganzen Jahre die Augen gewaltsam geschlossen hatte, um das blühende Leben nicht zu sehen. Daß er in seinem Freiheitsrausche, in seinem heißen Bemühen, das Leben zu kneten und zu gestalten, alles Lebendige, alles Empfindende in sich ausgeschaltet hatte: den Frühling und die Musik, wie Bettina es nannte.

Und in dieser Stunde hellsten Bewußtseins hörte er seine Glocken läuten. Eine weite Sehnsucht durchdrang ihn, eine Sehnsucht nach der großen Erfüllung, nach dem großen Einklang. Ich habe gehungert, weil ich meinen Weg nur dunkel vor mir sah.

Und mitten in dem Spiele der Bettina wurde es ihm deutlich, daß sein ganzes Wesen von Grund aus auf Andacht gestimmt war. Wieder horchte er auf ... Ist denn mein Erwachen nicht zu spät? fragte er sich trostlos. Habe ich noch die Kraft ... die Stärke ...?

Und da begegnete er den Augen Bettinas, die angstvoll ihn suchten. Er sah sie ernst und gedankenvoll an. Dann senkte er den Blick und wurde wieder unruhig. Alles wogte von neuem in ihm durcheinander: der »Festsaal« ... Tanz ... Andacht ... Musik ...

Aus seinen Träumen weckte ihn der brausende Beifall.

Die Menschen hatten sich erhoben und klatschten Bettina zu.

Sie aber ließ bewegungslos alles über sich ergehen.

Und immer stärker und brausender wurde der Jubel.

Sie blickte teilnahmslos über die Menschen hin, nur erfüllt von ihrem Leid um ihn.

In der fünften Reihe stand der Musiker Abraham Gebhardt und starrte sie regungslos wie eine Erscheinung an.

Nach dem letzten Satze mußte sie unzählige Male hervorkommen. Müde und erschöpft dankte sie. Ihr Aussehen, das niemand sich erklären konnte, hatte etwas Erschütterndes.

Vermutungen wurden laut ... Man munkelte sich allerhand abenteuerliche Dinge zu.

Zuletzt folgte sie nicht mehr den Rufen. Sie brach im Künstlerzimmer auf einem Stuhle zusammen. Sie fror.

Dann fuhr sie empor. Der Konzertdirektor war an ihrer Seite. Er war ganz verwandelt. Er nahm ihre Hand.

»Ich gratuliere Ihnen aufrichtig! Sie sind mit einem Schlage berühmt geworden. Sie sind eine Künstlerin allerersten Ranges. Morgen werden Sie es in den Zeitungen lesen – heute sage ich es Ihnen! Und das ist vielleicht für Sie mehr wert!« fügte er hinzu. »Man hat nicht zu viel über Sie geschrieben. Ich kann Ihnen schon jetzt versichern, Sie werden von Berlin aus Ihren Siegeszug machen!«

Er sprach in einem fort. Sie müßte in wenigen Tagen noch ein Konzert geben und dann eine große Tournee antreten. Lächelnd schloß er: »Sie werden gar nicht wissen, wohin Sie mit all dem Gelde sollen!«

Und nun blinzelte er sie erwartungsvoll an.

»Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit. Aber ich gehe nicht aus Berlin fort. Ich bleibe hier.« Und bekräftigend setzte sie hinzu: »Ich muß hier bleiben!«

»Nun, darüber reden wir noch!«

Er schob sie wieder zur Treppe.

Sie wandte sich noch einmal um. »Wollen Sie mir einen Gefallen tun?« fragte sie bebend.

»Aber gewiß!«

»So bitten Sie den Herrn, der vorhin hier war, er möchte nach der nächsten Nummer zu mir kommen. Er sitzt links in der neunten Reihe.«

Der Konzertdirektor nickte.

»Übrigens«, setzte sie hinzu, und für einen Augenblick verklärte ein glückseliges Lächeln ihre traurige Miene, »dieser Herr ist Arzt!« Und als ob sie etwas höchst Bedeutungsvolles mitgeteilt hätte, wiederholte sie noch einmal: »Er ist Arzt!«

Dann ging sie rasch die Treppe hinauf.

Sie wurde mit lautem Beifall empfangen und dankte ernsthaft.

Und wieder riß ihr blühender Ton, ihr vertieftes, innerliches Spiel, ihre sichere Überlegenheit alles hin.

»Sie ist ein Phänomen«, flüsterte die Berg Kornfeldt zu.

Allem Beifall und allem Rufen zum Trotz zeigte sie sich nur einmal.

Sie eilte die Treppe hinunter, Thomas entgegen.

Schluchzend umarmte sie ihn.

Kein Wort brachte sie hervor. Ihr war so wohl und weh zumute, als seine Hand ihr Haar glättete. – – –

Am Ausgang der Singakademie stand eine Gruppe von Menschen und wartete auf sie.

Man wollte sie auch in der Nähe betrachten. Man wollte genau wissen, wie sie aussah. Man war ja zugegen gewesen bei dem großen Ereignis. Man wollte am anderen Tage auf das genaueste berichten können.

Die Leute mußten lange aushalten.

Als sie endlich kam, rissen sie verwundert die Augen auf, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten.

Sie schritt Arm in Arm mit einem reduzierten Menschen, der trotz der Kälte nicht einmal einen Mantel trug. Und hinter ihr bewegten sich fragwürdige Gestalten, die man in der Singakademie nicht zu sehen gewohnt war.

»Wie interessant!« rief ein junges Mädchen.

Als die Liers jetzt vorbeikam, kicherte es laut los.

An der anderen Seite der Bettina ging Abraham Gebhardt.

»Wie glücklich müssen Sie sein«, sagte er in ehrlicher, neidloser Bewunderung. Er konnte aber ihre Züge nicht erkennen.

Sie hörte es nicht.

Sie schmiegte sich fest an Thomas.

Sie spürte keine Kälte.

Sie ging mit ihm, mit ihm allein durch den Garten, und es war wie in längst entschwundener Kinderzeit. Sie standen am Weiher, lehnten sich an die Weiden und spiegelten sich in dem dunklen Wasser.

Hinter ihnen schritt die Brose mit Heinsius, der zuweilen einen trockenen Husten von sich gab.

Fründel ging zwischen der Ingolf und der Gerving. Er achtete nicht darauf, daß Liers vergeblich sich mühte, der Josefa etwas zuzuflüstern.

Die Letzten waren die Lissauers und Blinsky.

Ganz einsam für sich schlich die Maria Werft.

Und über diesen zwieträchtigen Menschen funkelte der sternenklare Winterhimmel.


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