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V.

Er war zum Thé dansant in die Lichtenstein-Allee geladen.

Es war Abend, und er mußte sich eilen, wenn er rechtzeitig hinkommen wollte.

Er hatte lange gezögert; allein die Sehnsucht und der Drang sie zu sehen, waren übermächtig ihn ihm. Und dann erinnerte er sich, daß er ihr sein Wort gegeben hatte.

Er stand da in seinem langen, braunen Jägerrock, der bis zum Halse geschlossen war und nur einen schmalen Streifen des Kragens offen ließ.

Er war erregt und voll freudiger Erwartung, als er die Treppe hinunterging.

Er vergaß alles, nur von dem einen Gedanken erfüllt, daß er sie wiedersehen würde.

Er war mit seinen zweiundzwanzig Jahren rein und keusch geblieben. In einem inneren Stolz und Adel hatte er sich für kostbares Gut gehalten, das nicht befleckt wenden durfte.

Seit es ihm in der Bodenkammer dunkel und mystisch aufgegangen war, daß es zweierlei Geschlechter gab, die bang und begehrend zueinander drängten – damals, wo Bettinas schwarze Seidenlocken ihn leise gestreift, hatte er wohl manche stürmische Stunde erlebt. Sein junges Blut hatte gepocht und gegen ihn sich empört. Und in schlaflosen Nächten hatte er den wilden Geist des Fleisches gespürt. Aber dann war jedesmal über ihn eine feine Scham gekommen und vor allem ein ernster, starker Wille, sich selber zu meistern und Herr über die dunklen Triebe zu werden. Und mit einem trockenen Schluchzen hatte er sich in die Kissen gegraben und mit festgeschlossenen Augen sich gewehrt. Dann war die Arbeit und das Studium an ihn herangetreten; der Drang nach innerer Befreiung und der Gram um das Volk. Alles das hatte von seiner Seele Besitz genommen und sein leidenschaftliches Begehren gebändigt.

Diese inneren Erlebnisse gingen ihm durch den Kopf, als er langsam in die Dorotheenstraße einbog, um dort auf die gelbe Pferdebahn zu springen, die ihn nach der Lichtenstein-Allee bringen sollte. Er setzte sich in den Wagen und nahm ein kleines, grünes Büchlein hervor: die Gedichte des Angelus Silesius. Er las:

Ich ward das, was ich war,
und bin, was ich gewesen,
und werd' es ewig sein,
wann Leib und Seel' genesen.

Mensch, alles, was du willst,
ist schon zuvor in dir:
es lieget nur an dem,
daß du nicht wirkst herfür.

Nichts Stärkres ist als Gott –
doch kann er nicht verwehren,
daß ich nicht, was ich will,
soll wollen und begehren.

Nichts ist, das dich bewegt –
du selber bist das Rad,
das aus sich selbsten läuft
und keine Ruhe hat.

Mensch, was du liebst, in das
wirst du verwandelt werden:
Gott wirst du, liebst du Gott,
und Erde, liebst du Erden.

Der Zufall muß hinweg
und aller falscher Schein –
du mußt ganz wesentlich
und ungefärbet sein!

Mensch, werde wesentlich;
denn, wenn die Welt vergeht,
so fällt der Zufall weg –
das Wesen, das besteht.

Eine tiefe Unruhe kam über ihn. Seine Lippen bewegten sich, und seine Stirn zog sich in Falten. Eine Zeitlang beherrschte ein grüblerischer Ausdruck sein Gesicht; dann aber glättete es sich, und um seinen Mund trat das blutende Lächeln der Tamara.

Gott wirst du, liebst du Gott,
und Erde, liebst du Erden –

wiederholte er. Und dann las er noch einmal ganz langsam und ganz in Feierlichkeit getaucht den letzten Vers:

Mensch, werde wesentlich;
denn, wenn die Welt vergeht,
so fällt der Zufall weg –
das Wesen, das besteht.

Er fragte sich gequält: war diese Weise aus einer versunkenen Zeit ein gauklerischer Wort- und Begriffverdreher, der wie ein Zirkusmann mit den Dingen jonglierte und auch das Verschiedenste zusammenbrachte? In jedem Verse fand er einen Widerspruch zum anderen. Er war gebunden und gefesselt, bestimmt und festgelegt, und über ihm stand Gottes Stärke. Und doch konnte Gott nichts gegen sein Wollen und Begehren, und doch konnte er trotz alles Gebundenseins nach dem Wesentlichen streben. Waren das die Kunstgriffe eines pfäffischen und pfiffigen Clowns? Oder lag in solchen Wiedersprüchen eine wunderbare Einheit?

Er klappte das Buch zu und tat es in seine Manteltasche. Er fühlte sich so schwer und beladen. Und wieder blickte er zurück: »Tamara«, flüsterte er vor sich hin. Und ihre sylphidenhafte Gestalt beugte sich über ihn, ihre alabasternen Arme umschlangen ihn, ihr reiner Hauch umwehte ihn. Vielleicht war sie die einzige, die in ihrer Unbewußtheit wesentlich war. Und vielleicht war alles Große überhaupt unbewußt und konnte nicht durch Fleiß und Müheaufwand erreicht werden?

Hinter der Tamara tauchte der Schatten des Vaters auf, dem er immer so feindselig sich entzogen hatte. Wie kam es, daß er zu ihm keine Beziehungen hatte, daß sie wie zwei Fremde aneinander vorübergeschritten waren und heute sich kaum kannten? Hatte er sich jemals bemüht, diesen Mann mit den robusten Knochen und dem brutalen Lebensdrang menschlich zu begreifen? Hatte er für ihn je etwas anderes als Härte übrig gehabt?

Der Pferdebahnwagen bog in die Lichtenstein-Allee ein. Er erhob sich rasch und sprang vom Perron. Ein paar Schritte und er stand vor dem Bergschen Hause.

Eine Equipage nach der andern fuhr vor das Portal. Und alle Fenster des Parterregeschosses waren hell erleuchtet. Aus dem Hintergrunde der Straße ragte der Tiergarten in seiner kahlen Dunkelheit, und über den alten Baumriesen wölbte sich der Himmel mit glühenden Augen.

Gerade und aufgerichteten Hauptes schritt er in seinem schwarzen Havelock durch das Portal. Aus dem Entree hörte er die Stimmen der letzten Gäste, die vor ihm gekommen waren. Er wartete einen Augenblick. Dann klingelte er.

Ein Diener in Gala öffnete und sah ihn verwundert an. Gleich darauf schien er ihn jedoch zu erkennen. Indessen sagte er kein Wort, und auch das glattrasierte Gesicht wurde sofort wieder ruhig und unbeweglich. Er half ihm beim Ausziehen des Mantels. Aber nun war es doch mit seiner Ruhe zu Ende, er hüstelte vernehmlich und betrachtete von oben bis unten das seltsame Kostüm des neuen Gastes.

Thomas war noch so von seinem Grübeln beherrscht, daß er es nicht einmal merkte. Er strich sich das Haar zurück – der Diener öffnete die Tür – und eine Sekunde später fand er sich von strahlender Helle umgeben, die ihn blendete.

Er sah in diesem Lichtgefunkel nur einen Schwarm von Menschen, schwarze Rockschöße und weiße Seide, die von bunten Farben wirr unterbrochen wurde.

Er stand unbeweglich in der Tür. Er merkte plötzlich, oder es kam ihm so vor, daß unter den Menschen ein Gewisper und Geflüster entstand, und daß aller Blicke auf ihn gerichtet waren.

Er stand in der Tür und rührte sich nicht.

Da kam sie mitten aus dem Gedränge der Fremden auf ihn zu. Sie war ganz in Seide gekleidet, nur der Hals und obere Teil des Busens waren frei und hoben sich leuchtend von dem dunklen Stoff ab. Gelbe, volle Rosen hatte sie sich in ihr nachtfinsteres Haar geflochten.

Sie reichte ihm die Hand und sagte: »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.«

Da war es ihm in dem fremden, strahlenden Raum, der ihm vorher so kalt und unheimlich vorgekommen war, als ob er die größte Gnade empfangen hätte.

Nun wurde alles um ihn wahrhaft licht und festlich.

Diener in Escarpins und Gamaschen trugen auf silbernen Tabletten Kognaks und heißen Tee. Überall hörte er freudige Laute, feines Gelächter und galante Reden.

Die Damen hatten das Haar seltsam frisiert, und die edlen Steine leuchteten und funkelten ihm von allen Seiten entgegen. Sie trugen die Kleider weit ausgeschnitten und waren stolz auf ihre Gottesschönheit.

Und wieder sahen alle verwundert auf ihn.

Er indessen schritt sicher an ihrer Seite. Scheu und Bedrückung war von ihm genommen, er hielt den Kopf hoch und sah jeden groß und ernst an.

Viele, viele Jahre später mußte er an diese Stimmung zurückdenken, und immer war es ihm ein Trost, daß er sein Haupt nicht geduckt und vor niemandem sich gebeugt hatte.

Ein massiger, kleiner Herr mit einem vorgeschobenen Spitzbauch, einem stark gelichteten Schädel und einem dichten, pechschwarzen Schnurrbart unter einer auffallend gekrümmten Nase kam auf ihn zu. In der Rechten hielt er einen goldenen Kneifer, mit dem er, wie mit einem Taktstock, beständig hin und her pendelte.

Sie stellte ihn als ihren Gatten vor.

Er kniff die kleinen Äuglein zusammen, reichte ihm seine fleischige Hand und begrüßte ihn mit eifriger Freundlichkeit. Er redete alles in einem nasalen Ton und hatte in jeder seiner Bewegungen etwas Dirigierendes und Protektormäßiges. Er sprach beständig davon, wie sehr er in Thomas' Schuld stehe.

Thomas zuckte verlegen mit den Achseln, er begriff das Gerede nicht.

Eine Dame, mager und ziemlich groß, mit einer überschlanken Taille und einem überpuderten Gesicht, gesellte sich zu ihnen.

Der Hausherr stellte sie als seine Mutter vor. Sie sprach affektiert und spielte sich als jugendliche Frau auf. Einmal gab sie mit ihrem schwarzen Federfächer ihrem Sohne einen Schlag. Ein paar Umstehende lächelten beifällig. Überhaupt jeder, der mit dieser Dame sprach, lächelte beifällig.

Name auf Name schwirrte an sein Ohr. Immer wieder verneigte er sich förmlich. Kommerzienräte und Doktoren, Rechtanwälte, Maler, Schriftsteller, alles war in diesem Kreise versammelt.

Einmal hörte er dicht hinter sich, wie ein junges Fräulein zu ihrem Courmacher sagte: »Sehen Sie nur diesen Apostel, wie originell! Bergs haben doch immer etwas Apartes!«

Der Herr entgegnete: »Sie können es sich leisten!«

Merkwürdig, alles das machte ihn nicht zornig. Er sah nur sie – und jauchzte.

Jedesmal, wenn sie einen Augenblick frei hatte, kam sie auf ihn zugeeilt; und niemanden blickte sie an wie ihn.

Was kümmerte es ihn da, ob die Menschen die Köpfe zusammensteckten und über ihn tuschelten!

Man ging zu Tisch. Während man sich setzte, wurde aus dem Hintergrunde Musik vernehmbar, Kleider rauschten, sinnenfrohes, leises Lachen drang zu ihm.

Und sie tat ihren Arm in den seinigen und sagte ihm, daß er ihr Tischherr sei. Ihr Herr für heute abend, fügte sie hinzu, und aus ihrer Stimme klang bewegte Freude, die ihn bezauberte. Er fühlte, daß sie sich an ihn schmiegte, und vor niemandem Scheu hatte, sich zu ihm zu bekennen.

Von allen Ecken und Enden der Tafel sah man verwundert auf das Paar.

Aber dann ging es von einem zum andern im Kreise herum, er habe die Dame des Hauses und das Kind gerettet. Und darum seien die Bergs bestrebt, ihn vor aller Welt ostentativ auszuzeichnen. Von diesem Unsinn erfuhr Thomas nichts.

Er kam auch nicht dazu, irgendwelche Beobachtungen anzustellen. Er sah und hörte nur sie. Er und sie saßen an der Freudentafel und tranken aus kristallenen Gläsern den roten und den goldenen Wein.

Er und sie berauschten sich an der Tafel des Lebens. Er und sie blickten sich tiefäugig an und verstanden sich wortlos – und alles um sie versank.

Er spürte es, daß dicht neben ihm das Glück saß, das übermächtige Glück, das den tiefen, magischen Schein des durch alle Dunkelheit leuchtenden Mondes, den schwermütigen Glanz aller Sterne und das glitzernde Licht und die belebende Wärme der Sonne hatte. Er spürte es und empfand, wie seine Seele sich weitete und zu einem Garten wurde, in dem es grünte, knospete, keimte und blühte.

»Trinken Sie doch«, sagte sie leise zu ihm.

Er erwiderte: »Ich sehe Sie an und bin im Rausch.«

Hors d'œuvre wurde aufgetragen; es barg alle Kostbarkeiten des Meeres.

Der Diener reichte ihm die Schüssel. Der graue, körnige Kaviar, die roten Hummern glänzten ihm entgegen.

»Essen Sie«, bat sie.

»Ich sehe Sie an, und bin gesättigt.«

Sie neigte die Augen.

Die Damen lachten silbern; die Herren in ihren weißen gestickten Chemisettes erzählten interessante Dinge und schenkten den Damen den Wein ein.

Immer neue Marken kamen auf die Tafel, und jeder Gang enthielt eine neue Delikatesse. Was das Meer barg, was unter der Sonne wuchs und reifte, was das Land trug, sah diese Tafel. Und alles war durch Menschenkunst, so weit es nur anging, in neue und komplizierte Formen gebracht.

»Bei Bergs ist alles magnifique«, sagte ein Herr ihm gegenüber. »Berg ist ein Lebenskünstler, so 'ne Diners gibt's in ganz Berlin nich mehr – gibt's nich mehr, ich versichere Ihnen. Sie müssen wissen, ich komme überall hin!«

Er sprach so laut, daß es die Herrin des Hauses hören mußte.

Thomas sah sich den Mann genauer an. Er trug einen gerade geschnittenen Spitzbart. Man merkte es ihm an, mit welchem Verständnis er den Wein auf der Zunge spürte, und mit welcher Feinfühligkeit sein Gaumen auf die Speisen reagierte. Er sah lustig und vergnügt aus, obwohl seine Züge ein wenig verlebt waren.

»Wer ist das?« fragte Thomas.

Sie nannte ihm den Namen eines Malers, der in der Berliner Gesellschaft verkehrte und in den Kreisen des Berliner Westens dank seiner geselligen Vorzüge seine entwertete Leinwand verkaufte.

Thomas erinnerte sich an Brose, der im Norden der Stadt kümmerlich mit seiner Frau sich von Porzellanmalerei nährte, um das große, künstlerische Problem, dem er nachging, zu lösen: er wollte das flache, ärmliche Land, da, wo es hart an die letzten Häuser der Großstadt stößt, und wo Himmel und Erde gleichsam sich berühren, malen. Das Problem der Horizontlinie nannte er es. Wie würden sich die Broses hier ausnehmen?

Schon im nächsten Augenblick vergaß er diese Gedanken.

»Wie lange währt noch Ihr Studium?« fragte sie ihn unvermittelt.

»Ich bin in einem Jahre Arzt.«

»O, wie schön! Wie alt sind Sie dann?«

»Dreiundzwanzig Jahre!«

»Ah, das ist ja kolossal!«

»O nein, das ist etwas ganz Gewöhnliches.« Und ablenkend fuhr er fort: »Darf ich übrigens wissen, wie Sie heißen?«

»Regine.«

Er wollte etwas antworten, aber sie unterbrach ihn.

»Sprechen Sie jetzt, bitte, nicht zu mir. Da unten sitzen ein paar nichtswürdige Damen, die uns beobachten. Sie ahnen gar nicht«, fügte sie bitter hinzu, »wieviel Niederträchtigkeit in diesem Saale ist.«

Unwillkürlich wandte er den Blick nach der bezeichneten Stelle. Da saß die alte Frau Berg in eleganter, jugendlicher Robe; und in ihrer Nähe ein paar gleichalterige Damen, die ebenfalls wie junge Frauen sich herausstaffiert hatten.

Der Maler ihnen gegenüber fing seinen Blick auf, und sich direkt zu ihm hinüberbeugend, meinte er respektvoll und bewundernd: »So, mein Herr, sehen heute unsere Großmütter aus. Wenn ich ein Festredner wäre, würde ich aufstehen und auf die moderne Großmutter toasten.«

Thomas dachte an weißhaarige Frauen voll Güte und Resignation. Und wieder fühlte er sich beklommen.

Jemand hielt jetzt eine Rede auf die Gastgeber. Thomas erfuhr, daß Berg nicht nur ein Finanzgenie, sondern auch der feinste Gourmand der Berliner Gesellschaft sei. Und Frau Berg war eine Königin, wie sie in Weisheit schon von ihren Eltern genannt worden war.

Bei dem Teil der Rede hatte Thomas einen schlechten Geschmack im Munde. Er blickte starr auf seinen Teller und schämte sich. Alles kam ihm so grob, so unverschleiert, so taktlos vor.

Sie sagte: »Ich verstehe Sie und weiß, was in Ihnen vorgeht. Ich weiß es. Und darauf stoße ich mit Ihnen an.«

Es dauerte nur einen Augenblick, aber von neuem zog das Glück in ihn ein und verdunkelte trübe Vorstellungen.

Nun kam der Festredner auch auf sie zu.

Die gnädige Frau reichte ihm ihr Glas und lächelte.

Er sah es und wollte es nicht sehen. Warum lächelt sie? fragte er sich dennoch.

Die Tafel wurde aufgehoben.

Man ging in den Musiksaal. Ein berühmter Cellist trug mehrere Stücke vor.

Ein Rechtsanwalt flüsterte trocken seinem Nachbar zu: »Seine Witze sind mir lieber!«

Eine Dame sang und verzog dabei ihr Gesicht zu einer Grimasse.

Dann trat ein Herr auf. Man flüsterte sich zu, daß er ein Tenor der Königlichen Oper sei.

»Was, meinen Sie, kostet das Konzert?« fragte ihn plötzlich jemand. Thomas zuckte verlegen mit den Achseln.

»Nun, ich will es Ihnen sagen. Der Cellist bekommt fünfhundert Mark. Berg gibt ihm fünfhundert Mark, obwohl er es auch mit zweihundertfünfzig tun würde. Darin ist er groß. Ich sage Ihnen, dieses Konzert allein kostet mehrere Tausend Mark. Wenn man Sie hier lanciert, können Sie ihr Glück machen. Bergs haben manchen schon –«

Aus Thomas' Augen schoß ein Blick, daß der redelustige Herr mitten im Satze abbrach.

Nach jeder Nummer wurde heftig applaudiert, und die gnädige Frau und der Hausherr sagten den Künstlern angenehme Worte.

Der Tenor fächelte sich mit einem seidenen Tuche das Gesicht. Ein Schwarm von jungen und alten Damen umringte ihn.

Herr Berg kam auf Thomas zu und klopfte ihm auf die Schulter.

»Sehen Sie, junger Freund, so ein Tenor – vernarrt sind die Weiber in ihn. Dumm ist das Luder ... dumm –« er tupfte sich an die Stirn und pendelte mit dem Kneifer. »Aber das tut nichts, tut absolut nichts!«

Er nahm Thomas unter den Arm und zog ihn in das angrenzende Rauchzimmer.

Zigarren, in Stanniol eingewickelt, in Kistchen verpackt, die nur zehn Stück enthielten, wurden herumgereicht.

»Rauchen Sie sie mit Verstand, das Stück kostet zwei Mark«, flüsterte ihm der Cicerone des Hauses Berg zu.

Er war ernüchtert, er lehnte dankend ab und ging langsam wieder in die anstoßenden Gemächer, um sie zu sehen. Aber er fand sie nicht.

Er lehnte sich in eine Ecke und starrte vor sich nieder. Er wurde auf einmal unendlich traurig und verstört, und alle Wärme war von ihm genommen. Etwas wie nagenden Schmerz fühlte er.

Aus einer Gruppe von Herren und Damen trat ein verhältnismäßig junger Mann mit einer Art von aufgeblasenem Froschgesicht, dünnem Haupthaar und einer Glatze, die einer Tonsur glich, nachlässig auf ihn zu. Er schlenkerte auffällig mit den Armen hin und her, hatte aber in seinen Bewegungen und in seinem Sprechen eine unverschämte Selbstsicherheit.

»Gestatten Sie mir, daß ich mich Ihnen vorstelle: Rechtsanwalt Kornfeldt!«

Thomas nannte seinen Namen und schwieg.

»Merkwürdige Gesellschaft hier, was? Sie sind in diesen Kreisen offenbar fremd«, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten, »ich sehe es Ihnen an. Immerhin, man kann hier Beobachtungen machen, Studien – und ich glaube«, fügte er kokett lächelnd hinzu, »Sie machen Studien, junger Freund. Sie haben so etwas in Ihrem Blick. Übrigens wer macht nicht Studien! Einer beobachtet den andern! Uns Rechtsanwälten drängt sich ja das Leben in seiner Mannigfaltigkeit förmlich auf. Wenn ich Zeit hätte, ich könnte Kommentare schreiben. Man kann behaupten, nirgends strömt das soziale Leben so zusammen wie in dem Bureau eines beschäftigten Anwalts. Man kommt mit allen Schichten der Bevölkerung in Berührung. Welch ein Schmutz! Aber ich kann Ihnen versichern, je höher man steigt, desto schlimmer wird es.« Mit dieser Bemerkung schloß er seine etwas langatmige Rede und sah Thomas herausfordernd an, als wollte er ihm eine Entgegnung abzwingen. Der brachte kein Wort hervor.

»Wissen Sie«, nahm der andere, ohne sich beirren zu lassen, das Gespräch wieder auf, »ich wette, Sie sind Fanatiker, ich verstehe mich auf Physiognomien. Sozialist sind Sie, Marxist, fanatischer Marxist. Ich sage es Ihnen auf den Kopf zu, die Verelendungstheorie ...«

Thomas war von dieser Redseligkeit, die durch nichts ins Wanken kam, denn doch etwas betroffen.

»Können Sie mir das alles vom Gesicht ablesen?«

»Ja, denn Ihre Züge lügen nicht. Sie haben«, sagte er geschraubt, »das Antlitz des Märtyrers!«

Thomas bemerkte, daß die Gruppe, aus der der Advokat zu ihm getreten war, sie aufmerksam beobachtete. Ein kurzes, abwehrendes Wort schwebte ihm auf der Zunge.

Der Rechtsanwalt kam ihm jedoch zuvor.

»Wissen Sie, darin stimme ich Ihren Parteigenossen vollkommen zu: der Liberalismus hat abgewirtschaftet. Ich bin absolut nicht Sozialist, aber ich wähle sozialdemokratisch. Es ist die einzige Partei, die der Regierung energischen Widerstand leistet, die Kerle fallen wenigstens nicht um!«

»Warum erzählen Sie mir das alles?« Er hatte Mühe, seine innere Gereiztheit zu verbergen. »Warum sprechen Sie von Gesinnungsgenossen, die Sie mir aufbürden? Sie irren; wenn es Sie beruhigt, ich bin nicht Sozialdemokrat.«

»Donnerwetter, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Übrigens«, setzte er nach einer kleinen Pause hinzu, »Sie brauchen sich in diesem Hause nicht zu genieren. Man denkt hier sehr frei.«

Die Zornadern auf Thomas' Stirn schwollen. »Ich geniere mich nirgends. Und wenn ich etwas zu bekennen habe, so gibt es keine Rücksicht, die mich davon abhalten könnte.«

Die Herren und Damen standen jetzt dicht um sie herum und hatten einen Kreis gebildet.

»Wenn es indessen Ihre Wißbegierde befriedigt«, sagte Thomas, »so kann ich Ihnen mitteilen, daß ich deshalb nicht Sozialdemokrat bin, weil mir die Konsequenzen dieser Partei unklar vorkommen; weil mir die Idee einer Massenherrschaft ebenso verächtlich ist wie die des Einzelregimes; weil ich an die letzten Erkenntnisse des Sozialismus nicht glaube.«

Kornfeldt machte ein verschrecktes Gesicht.

»Sie sind ja 'n Ketzer«, brachte er etwas verstimmt hervor.

Ein Herr lachte. »Da sind Sie aber schön reingefallen, lieber Rechtsanwalt!«

Die Damen horchten interessiert auf. Eine sagte: »O wie schade, er hat etwas von Ferdinand Lassalle.«

»Übrigens ein feiner Kopf«, meinte ein anderer. »Der Mensch hat Intelligenz, unzweifelhaft!« Kornfeldt faßte sich wieder.

»Erlauben Sie mal, Sie wollen mir doch nicht einreden, daß Sie Gegner des Sozialismus sind und zu den staatserhaltenden Parteien gehören?«

»Ich versuche niemandem etwas einzureden. Ich gehöre vorläufig keiner Partei an. Ich suche meinen Weg, und ich ahne ihn dunkel. Von Ihren Ideen und Anschauungen liegt er weit ab.«

»Hm, sehr interessant. Wirklich sehr interessant. Wo liegt Ihr Weg, wenn man fragen darf?«

Sein Ton klang scharf und spöttisch. Er spielte sich als Kriminalist auf und nahm eine inquisitorische Miene an. Er wollte ihn offenbar reizen und zu Unvorsichtigkeiten verleiten.

Thomas schaute sich mit verwirrten Augen um. Was wollten die fremden Menschen von ihm, und wo war sie, die ihn solcher Pein aussetzte?

»Wo also liegt Ihr Weg?«

Da richtete er sich empor, und seine schlanke, feine Gestalt glich einer Edeltanne. Er war etwas blasser geworden, und seine Nasenflügel bewegten sich. Über der Nasenwurzel hatte sich eine tiefe Falte eingegraben.

»Mein Weg liegt«, sagte er mit verschleierter Stimme, »bei Angelus Silesius im Nachtlicht.«

Man starrte ihn mit verdutzten Gesichtern an.

»Wer ist Angelus Silesius? Ist das 'n Utopist, 'n Sozialreformer?«

Thomas beherrschte sich.

»Nein, Herr Rechtsanwalt, der ging auf die Seele. Nur auf die Seele, obwohl er sich«, fuhr er langsam und nachdenklich fort, »mit dem Körperlichen beschäftigte – denn, wenn er Sie interessiert – er war Leibarzt des Herzogs Sivius Nimrod von Öls.«

»Ach so, der Mann ist tot?! Sie kommen uns mit den Toten!«

Leises Gekicher entstand.

»Angelus Silesius lebt; und im Vergleich zu diesem Lebendigen erscheinen Sie mir wie ein Leichnam. Darf ich ihn zitieren?«

Er vergaß auf einmal, wo er war, und wer um ihn stand. Seine Gestalt wuchs, sein Auge wurde innerlich.

Aus verschiedenen Zimmern hatten sich die Gäste inzwischen hinzugesellt; alle führten vor ihm einen Schattentanz auf.

Er stand plötzlich auf einer Kanzel. Die Schatten verkörperten sich zu einer Gemeinde der Andächtigen, der Durstenden, die von ihm Zuspruch erwarteten.

»Der Zufall muß hinweg
und aller falscher Schein –
du mußt ganz wesentlich
und ungefärbet sein!

Mensch werde wesentlich;
denn, wenn die Welt vergeht,
so fällt der Zufall weg –
das Wesen, das besteht –«

rief er mit vibrierender Stimme.

»Der Mensch ist pathologisch«, raunte ein anwesender junger Arzt der Dame des Hauses zu.

Auch die kleine Gestalt des Rechtsanwalts reckte sich. Jetzt glaubte er ihn soweit zu haben, um das Spiel lustig und siegreich zu Ende zu führen. Einige wollten Fragen stellen, andere gaben ein unterdrücktes Gelächter von sich. Der Rechtsanwalt machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung. Niemand sollte ihm dazwischen kommen. Er war es, der das Kreuzverhör leitete.

»Was hat der Leibarzt des Herzogs mit dem Nachtlicht zu tun?« begann er von neuem.

Es war klar, jetzt mußte die Geschichte zu Ende kommen. Auch der Arzt stellte sich in Positur.

Das Gesicht Thomas Trucks wurde hilflos, ehe er entgegnete: »Im Nachtlicht finden sich gehetzte Seelen, die den Spuren des Angelus Silesius folgen. Menschen, die wesentlich sein wollen.«

Auf das Wort »wesentlich« hatte er einen seltsamen Ton gelegt, und seine Miene hatte einen beinahe weltscheuen Ausdruck bekommen.

Das Gelächter und Gekicher war verstummt, und statt dessen trat nun ein peinliches Schweigen ein.

Thomas wollte noch etwas sagen, aber er brachte keinen Laut mehr hervor. Es flirrte ihm vor den Augen, und eine Art von Schwindel ergriff ihn. Er schloß einen Augenblick die Lider und wortlos murmelte er: »Hilf mir ... hilf mir.«

Der Rechtsanwalt holte aus einer Seitentasche einen Klemmer hervor, den er sorgfältig mit einem weißen Taschentuche putzte, und brach die Stille mit den Worten: »Jetzt weiß ich es, Sie sind ein Revolutionär, Sie sind ein Revolutionär, obwohl Sie uns sorgfältig Ihre geheimsten Gedanken verschwiegen haben. Sollte Ihnen jemals etwas passieren, so bitte ich Sie, sich an mich zu wenden. So ein Prozeß würde mich berühmt machen. Also vergessen Sie mich nicht!«

Diese Worte gaben Thomas seine äußerliche Fassung wieder. Er blickte sein Gegenüber lange und durchdringend an. Dann verbeugte er sich plötzlich vor allen, ergriff eine Sekunde die Hand der gnädigen Frau, die ganz aschfahl geworden war, und verließ gerade und aufgerichtet den Saal.

Und etwas später, er wußte nicht wie, war er in dem dunklen Tiergarten, heraus aus all dem Glanz, und schritt an den kahlen Räumen vorbei, über die die Mondsichel ein gelbes, grünes Licht warf. Was hinter ihm lag, kam ihm fremd, verwunderlich und seltsam vor.

Aber in der Herzgegend fühlte er einen stechenden Schmerz.


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