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Sechzehntes Kapitel.

» Also warum reisen wir jetzt auf einer anderen Linie?« waren Colmars erste Worte, als er und Durand einander in dem Warschauer Zuge, der schon auf den Zug aus dem Süden gewartet hatte, gegenübersaßen.

Colmar war jetzt ganz Freundlichkeit. Er spielte den Interessierten, aber im Grunde doch Harmlosen ganz ausgezeichnet gut. Es war nicht die geringste Unruhe in seinem Wesen, keine Spur von Spannung in seiner Miene, keine Spur von Lauern in seinem Blick.

Durand konnte sich seine Ruhe nicht erklären, denn er wußte nicht, daß ein Achselzucken sie ihm gegeben hatte.

Ein Achselzucken, ja nur ein Achselzucken war die erste Ursache der verhältnismäßig wirklich großen Ruhe, in der Colmar sich derzeit befand.

Als Durand vorhin in dem ziemlich dunklen Restaurationsraum für einige Minuten mit einem Manne zusammentraf, mit welchem vorher Klesing ein paar Worte gewechselt, hatte er nicht darauf geachtet, daß er neben einem offenen Fenster stand, welches auf den Bahnsteig hinaus die Aussicht gewährte, und wußte nicht, daß Colmar sich dicht neben diesem Fenster postiert hatte – Colmar und noch einer, auf welchen der ganz mit Lauschen beschäftigte Maler nicht achtete. Dieser andere hatte den Kopf verbunden, er schien des blassen Mannes nicht zu achten, neben dem er stand, bemerkte aber gleichwohl den jähen Mienenwechsel in dessen Gesicht, wonach er, an ihm und dem Fenster vorüberschlendernd, Durand sich soeben aus dem Restaurant entfernen sah.

Und was hatte Colmar gesehen?

Ein Achselzucken des Mannes, mit welchem Durand geredet hatte, und nachdem dieses seine Aufmerksamkeit erregt, hatte er auch einige Worte vernommen, nichts von dem, was Durand geredet, wohl aber was der andere geantwortet hatte.

»Daß sie den Namen der alten Frau nannte, weiß ich ganz genau, und auch diese trug Trauer. Aber es war kein Grund da, sie aufzuhalten und ihr eigentliches Reiseziel zu erforschen.«

Das hatte der Mann gesagt, hatte alsdann trotz seiner Zivilkleidung militärisch gegrüßt, und gleich danach war Durand auf den Bahnsteig hinausgetreten, wo Colmar jetzt langsam auf und nieder ging.

Eine Minute später stellte er im Coupé jene Frage an Durand, und dieser antwortete: »Warum wir jetzt auf einer anderen Linie unsere Fahrt fortsetzen? Weil Nadja Kissilew auch hier die Nordbahnstrecke verlassen hat.«

»Kissilew« – das schlug ein. Colmar knickte völlig zusammen. Er mochte nicht, gleich Wasili Alexin, der Meinung sein, daß eine Kissilew im heiligen russischen Reich schwerer aufzufinden sei als eine Stecknadel in einem Heuschober. Eine Weile starrte er ganz fassungslos sein Gegenüber an, dann zwang er sich zu einem Lächeln und fragte: »Wer sagt es, daß die Dame Kissilew heißt?«

»Ihr Paß. Er ist ganz ordnungsmäßig ausgestellt.«

»Dann wissen Sie wenigstens, von wo ihre Reise ausging,« warf Colmar rasch ein.

Durand dachte: »Weißt du es wirklich nicht, wo Nadja wohnt? Oder spielst du nur den Unwissenden? – Jedenfalls reisen wir einstweilen nach Warschau,« sagte er laut.

Colmar schien nichts dagegen einzuwenden zu haben, sagte nur bedauernd: »Da kann ich Ihnen leider nicht behilflich sein – ich hätte allenfalls in Krakau jemand ausfindig machen können, der Nadja kennt, aber sonst weiß ich in der weiten Welt niemand, den ich um ihren Verbleib fragen könnte.«

»Mir ist es schon dienlich, wenn Sie überhaupt bei mir sind,« sagte Durand, den Maler dabei fest ins Auge fassend, was diesem sichtlich unangenehm war.

»Wen übrigens hätten Sie denn in Krakau nach der jungen Dame fragen können?« fuhr Durand fort.

Colmar dachte noch ein Weilchen nach, ehe er antwortete: »Es lebt dort ein Fräulein Therese Lubinska, eine entfernte Verwandte Nadjas.«

»So. Wo wohnt sie denn?«

Jetzt überlegte Colmar nicht mehr, er mußte mit sich darüber einig geworden sein, daß es ungefährlich sei, den Namen und die Adresse dieser Dame zu nennen.

»In der Grodzkastraße, neben dem Gebäude der juridischen Fakultät, wohnt sie,« sagte er. Dann zündete er sich ein wenig umständlich eine Zigarre an.

»Was ist diese Frau?«

Der Maler wurde über die Konsequenz, mit welcher Durand bei diesem Thema blieb, merklich betreten.

»Die Dame ist nicht verheiratet, und mehr weiß ich nicht,« sagte er verdrossen.

Durand fragte nicht mehr. Er blätterte jetzt in seinem Kursbuch und machte darin eine kleine Notiz.

Colmar hatte sich erhoben und war, Durand fast den Rücken zuwendend, an das andere Ende des Coupés getreten. Er betrachtete die immer heller werdende, aber keineswegs reizvolle Gegend mit einer Aufmerksamkeit, deren sie sicherlich nicht wert war.

Er sah sie wohl auch gar nicht – er dachte gewiß an ganz anderes als an die verschneite Fläche, durch welche der Zug hineilte und auf der da und dort ein armseliges Gehöft auftauchte. Weshalb hätte sich sonst seine Hand so krampfhaft zur Faust geballt, weshalb hätte sich sonst sein Gesicht so verzerrt? Er achtete in seiner Versunkenheit nicht einmal darauf, daß der Spiegel, der in die Coupéwand eingelassen war, verriet, in welch verzweifelter Stimmung er sich derzeit befand.

Durand aber, der achtete darauf, und der Blick, mit welchem er des Malers Spiegelbild studierte, war recht düster. Aber auch voll Mitleid.

Auf der Grenzstation Granica gab er, von Colmar unbemerkt, Klesing einen Auftrag, worauf dieser auf der Station zurückblieb.

In Warschau angekommen nahmen die beiden Herren in der Krakauer Vorstadt in einem vornehmen Hotel Quartier. Sie hatten zwei nebeneinander liegende Zimmer gemietet.

»Und was geschieht jetzt?« fragte Colmar, als er, nachdem er Toilette gemacht, in Durands Zimmer trat.

Er schien wieder ganz gleichmütig zu sein.

»Jetzt gehe ich zum hiesigen Polizeiamt und werde dort erfahren, ob unter den seit gestern hier Angekommenen eine Nadja Kissilew ist.«

»Und wenn sie nicht hier ist?« Colmar lächelte unmerklich.

»Dann werde ich sie eben einige Tage später finden.« Durand hatte schon den Hut in der Hand. »Bleiben Sie hier?« fragte er.

»Ja.«

Colmar ging wieder in sein Zimmer. In der nächsten Straße nahm Durand einen Wagen und fuhr zum Telegraphenamt, dann erst ließ er sich zum Polizeiamte bringen.

Dort wußte man von einer Nadja Kissilew nichts, wohl aber war da der Name Malachow bekannt.

Eine Frau Katharina Malachow war sechsunddreißig Stunden vorher in Trzebinia angehalten worden. Sie war die Witwe eines nach Sibirien verbannt gewesenen ehemaligen russischen Beamten, der sich politisch vergangen hatte. Die Frau stand, wie alle Angehörigen eines Verschickten, unter geheimer polizeilicher Aufsicht, und so wußte man es, daß Frau Malachow vor Winters Anfang nach Frankreich gereist und jetzt wieder zurückgekehrt sei, daß ihre Tochter, die bis dahin in Radom gelebt, inzwischen den beiderseitigen Haushalt aufgelöst und in Mlociny, einer kleinen Ortschaft nördlich von Warschau, ein Häuschen gemietet habe, wohin auch Frau Malachow sich begeben hatte.

Mit dieser Auskunft versehen kehrte Durand in das Hotel zurück. Es folgte ihm ein Mann dahin, der, von dem ein wenig scheelen Blick des Portiers begrüßt, sich auf eine Bank setzte, welche im Hintergrunde des Ganges stand, in den die Zimmer der beiden Herren mündeten.

»Na, sehen Sie, wir kommen doch zum Ziele.« Mit diesen Worten trat Durand in Colmars Stube.

Der Maler, welcher anscheinend in ein Buch vertieft neben dem gemütlich erwärmten Ofen saß, fuhr ein wenig zusammen. »Was haben Sie erfahren?« fragte er hastig. »Doch nicht, daß –«

»Daß Nadja Kissilew hier ist? – Nein, das nicht; aber in Koluszki hat eine blonde Dame in Trauer den Zug verlassen und ist vermutlich nach Lodz weitergefahren«

»Woher weiß man das?«

»Die Kissilew steht unter Polizeiaufsicht.«

»Unsinn!«

»Sie scheint mit irgend jemand politisch Kompromittiertem in Verkehr zu stehen.«

Jetzt schwieg Colmar.

»Wissen Sie nichts darüber?« fragte Durand.

»Nichts,« antwortete Colmar kurz.

In diesem Augenblick meldete ein Kellner, daß für die beiden Herren serviert sei, und so gingen sie nach dem Speisesaal.

Aber nur Durand aß mit Appetit und teilte während des Essens seinem verstimmten Reisegefährten mit, daß er noch an diesem Nachmittag nach Koluszki und nach Lodz fahren wolle. Er erkundigte sich auch bei dem aufwartenden Kellner, zu welcher Stunde ein Zug abgehe, und ob man Lodz heute noch erreichen könne.

Jawohl, man konnte diesen Ort heute noch erreichen.

Durand zeigte sich recht befriedigt darüber. Colmar aber blieb verdrossen und konnte das nicht verbergen.

Ganz plötzlich jedoch besserte sich seine Stimmung wieder auffallend.

Durand erhob sich, seinen Stuhl rasch zurückschiebend.

»Also,« sagte er, »ich mache mich zur Fahrt bereit. Kommen Sie –«

»Mit,« hatte er sagen wollen, er sagte es jedoch nicht. Er stieß nur einen leisen Wehruf aus, denn er war auf dem glatten Parkett ausgeglitten und lag nun mit einem Knie auf dem Boden.

Unwillkürlich hatte er nach einem Halt gesucht und ein gut Teil des Tischtuches, das ihm zwischen die Finger gekommen war, mitgerissen, so daß etliche Gläser und eine Flasche ins Wanken kamen und zu Boden stürzten.

Ebenso unwillkürlich hatte der ihm gegenübersitzende Colmar das Tischtuch zurückgehalten, um weiterem Unheil zu steuern. Auch der servierende Kellner war herbeigeeilt, um Durand aufzuhelfen, denn merkwürdigerweise hatte dieser noch keine Anstalten getroffen, sich zu erheben.

Und jetzt sagte er süßsauer lächelnd zu dem Kellner: »Sachte, sachte, mein Lieber, das geht nicht so schnell. Stützen Sie mich unter dem Arm. Ich habe große Schmerzen. Ich meine, ich habe eine Sehnenzerrung erlitten.«

Nun ist eine Sehnenzerrung ja nichts, das auf Leben und Tod geht, trotzdem aber pflegt man die Ankündigung, daß jemand sie sich zugezogen hat, mit Zeichen des Bedauerns aufzunehmen.

Solche jedoch zeigte bei Durands Worten nur der Kellner, dessen freundliches Gesicht ganz bestürzt aussah, als er sich über den Gestürzten beugte.

In Colmars Augen aber hatte es jäh aufgeleuchtet.

Das hatte Durand recht gut gesehen. Im nächsten Moment freilich stand der Maler schon neben ihm und brachte ihn, einige Phrasen des Bedauerns murmelnd, mit Hilfe des Kellners auf den Stuhl.

»Wie hat mir denn nur das geschehen können?« fragte Durand, das Bein an sich ziehend, und setzte sogleich hinzu: »Ah, eine Apfelschale, auf die ich getreten bin!«

»Ja, eine Apfelschale,« sagte auch der Kellner und hob das schlüpfrige Streifchen auf, das Durand früher absichtlich hatte zu Boden gleiten lassen, um – er hatte dabei an Klesings Unfall gedacht – eine Ursache für seinen Sturz zu schaffen.

Die Sache war ebenso einfach als glaubwürdig; den beiden Zeugen des Vorganges fiel es nicht ein, sich irgend etwas Besonderes dabei zu denken.

Und Durand spielte auch weiterhin seine Rolle ganz gut. Nachdem er eine Weile geruht und dann aufzustehen versucht hatte, sank er mit einem Schmerzenslaut wieder auf den Stuhl zurück.

»Ich muß den Stiefel ausziehen, noch ehe der Fuß anschwillt,« sagte er und bat die beiden, ihn nach seinem Zimmer zu führen.

Sich kräftig auf sie stützend, humpelte er alsdann aus dem Speisesaal, legte sich in seinem Zimmer auf das Sofa und entledigte sich da unter etlichen recht glaubwürdigen Schmerzensäußerungen des Stiefels.

»Es wird gut sein, wenn Sie mir einen Arzt holen,« sagte er zu dem Kellner, der ihm behilflich war, es sich bequem zu machen.

Der junge Mensch eilte eifrig davon.

Colmar zeigte sich jetzt sehr teilnehmend, brachte Polster und Decken herbei und plauderte dazwischen angeregt mit Durand, der verschiedene Äußerungen der Ungeduld laut werden ließ.

Daß mir das gerade jetzt geschehen muß,« sagte er unter anderem ärgerlich, »heute, da ich so Wichtiges vorhabe! Nadja Kissilew ist morgen vielleicht schon nicht mehr in Lodz. Wo soll ich sie dann suchen?«

Er sah sehr geärgert und sehr unruhig aus, aber plötzlich war das nicht mehr so. Es mußte ihm eine gute Idee gekommen sein. Er nickte Colmar zu.

»Wir Männer sind wirklich Jammerlappen, wenn wir physische Schmerzen haben,« sagte er. »Auch ich verliere den Kopf, weil mir der Fuß wehe tut. Vergesse ganz, daß Sie da sind, und Sie sind doch speziell Ihrer ehemaligen Flamme wegen mit mir gereist. Sie interessiert es ja auch, ob diese Nadja allein oder vielleicht doch in Gesellschaft reist, oder ob sie diesen König etwa unterwegs irgendwo trifft.«

»Natürlich interessiert mich das,« beeilte sich Colmar zu versichern. Er war jetzt wie elektrisiert. Er konnte, so wie er seine Gedanken nicht in Ruhe zu halten vermochte, auch seine Gliedmaßen nicht zum Stillhalten zwingen. Namentlich seine Hände vermochten nicht ruhig zu bleiben.

Soeben hatten seine Finger mit den Anhängseln seiner Uhrkette gespielt, hatten so kräftig an jenen gezerrt, daß sich eine der Berlocken ablöste und zur Erde fiel.

Sie war rundlich und glatt, und so rollte sie durch das halbe Zimmer und verschwand unter einer Kommode.

Colmar war sofort hinter dem aufblitzenden Flüchtling her. Aber er kam schon zu spät. Das Ding war unter dem Kasten verschwunden.

Da faßte Colmar diesen und schob ihn mit einem einzigen Ruck zur Seite, hob das Anhängsel auf und brachte den Kasten wieder ebenso leicht an Ort und Stelle.

»Wie ein anderer einen Sessel stellt,« dachte Durand und verglich Colmars elegante, schlanke Gestalt mit dieser Kraftleistung.

Aber er fand keine Zeit dazu, sich dem Gedanken, der soeben auf ihn einstürmte, hinzugeben.

Colmar hatte sich zu ihm gesetzt. »Ich glaube zu erraten, wo hinaus Sie wollen,« sagte er lebhaft. »Ich soll Sie heute vertreten?«

»Stimmt.«

»Ich soll an Ihrer Stelle nach Koluszki fahren?«

»Nach Koluszki und dann nach Lodz.«

»Warum meint man, daß die Dame nach Lodz fuhr?«

»Sie soll mit dem Schaffner über Lodz gesprochen haben,« log Durand.

»Ah so!« Colmar fuhr sich mit der Hand über die Stirne. Es war gerade so, als ob er dort etwas in Ordnung zu bringen habe – wohl die Gedanken, die sich dahinter drängten. »Und wenn ich Nadja finde – was dann?« fragte er.

»Dann telegraphieren Sie mir sofort und bleiben in ihrer Nähe. Sie darf, ehe sie sich über ihr Verhältnis zu König nicht klar geäußert hat, unseren Augen nicht mehr entschwinden.«

Colmar hatte seine Uhr herausgezogen. »Jetzt ist es 2 Uhr 23, um 3 Uhr 45 geht, wie der Aufwärter sagte, ein Personenzug nach Koluszki ab. Mit dem soll ich fahren?«

»Natürlich, sonst kommen Sie heute nicht mehr nach Lodz.«

»Liegt das weit ab von der Hauptlinie?«

»Na, so dreißig Kilometer, schätze ich. Sie haben also eine Verbindung dahin und können heute noch dort sein. Freilich zurückfahren können Sie frühestens erst morgen, falls Ihre Fahrt nämlich kein Resultat haben sollte.«

»Das heißt, wenn ich Nadja nicht finde.«

»Wenn Sie sie nicht finden – ja. Und wenn Sie auf ihre Spur kommen oder gar ihr selber begegnen, werden Sie eventuell noch länger bleiben müssen.«

»Auf alle Fälle jedoch soll ich telegraphieren?«

»Auf alle Fälle.«

Colmar erhob sich und ging in sein Zimmer.

Etliche Minuten verweilte er darin, dann kam er, vollständig zur Reise ausgerüstet, heraus.

Er trug auch seinen Handkoffer, hatte überhaupt alles bei sich, was er von Wien mitgenommen.

Über Durands Gesicht huschte ein kaltes Lächeln, als er seinen Reisegefährten so vollständig ausgerüstet aus dem Zimmer treten sah. »Nun, so eilig haben Sie es nicht!« sagte er ein wenig ironisch.

Colmar wurde verlegen. »Ich leide immer etwas an Eisenbahnfieber,« meinte er lächelnd.

»Na also, so gehen Sie nur. Und –« Durand brach ab, er lächelte abermals, aber seine Augen hatten dabei einen merkwürdig scharfen Ausdruck – »und auf Wiedersehen!« vollendete er seine unterbrochene Rede.

Es war ihm angenehm, daß der andere nicht zu ihm trat, um ihm die Hand zu reichen, sondern daß Colmar so eilig, als brenne ihm der Boden unter den Füßen, nach einem flüchtigen Gruß davoneilte.

»Wenn es nach deinem Sinn ginge,« dachte Durand, während sich die Tür hinter dem Maler schloß, »gäbe es zwischen uns beiden kein Wiedersehen mehr.«

Noch waren Colmars Schritte draußen nicht verklungen, pochte es an die Tür, und auf Durands Aufforderung hin trat ein junger Mann ein.

Der Zimmerkellner hatte ihn geleitet. »Der von Ihnen gewünschte Arzt, mein Herr,« sagte er und ging.

»Doktor Chodorowski,« stellte der Arzt sich vor und wunderte sich nicht wenig über den Patienten, der sich eilig erhoben hatte, zur Tür ging und diese abschloß.

»Doktor juris Gröden aus Wien,« sagte er dann, während er rasch zum Fenster trat und durch die Scheiben auf die Straße hinunterschaute, woselbst soeben Colmar auftauchte.

Der junge Arzt dachte nicht anders, als daß er mit einem Irrsinnigen zusammen sei. Er warf rasch einen Blick nach der Tür. Ja, der Schlüssel steckte dort noch. Der merkwürdige Patient hatte ihn nicht abgezogen. So konnte man sich also im schlimmsten Falle in Sicherheit bringen. Da der kräftige junge Mann auch sonst der Furcht nicht leicht zugänglich war, fand er die Situation weniger unheimlich als interessant.

»Nun, jetzt bedarf ich keiner verschlossenen Tür mehr. Vielleicht haben Sie die Güte und schließen wieder auf.«

So sagte der Mann am Fenster, und der Arzt willfahrte nicht ungern dieser Bitte. Dann stellte auch er sich ans Fenster. Durand mit freundlicher Aufmerksamkeit ansehend, sagte er: »Haben Sie gemeint, daß uns jemand stören werde?«

»Dieses Herrn wegen, der da unten soeben in eine Droschke steigt, habe ich abgeschlossen.«

»Was soll denn der nicht wissen?«

»Daß ich frisch und gesund bin.«

»Der Kellner, der mich holte, hat etwas von einem Sturz und einer Sehnenzerrung gesagt.«

»Beides war Schwindel.«

»Mein Kommen ist demnach überflüssig?«

»Ganz überflüssig, Herr Doktor, soweit es meine Gesundheit anbelangt – und dennoch bedarf ich Ihrer.«

»Zu welchem Zweck?« Des jungen Polen Gesicht und Redeweise war recht kühl geworden. Er griff auch schon nach seinem Hut.

Den aber nahm ihm Durand sanft aus der Hand und stellte ihn wieder auf die Kommode. »Sie halten mich entweder für verrückt – was mir vor etlichen Tagen schon einmal passiert ist – oder Sie denken sonst nicht gut von mir,« sagte er ruhig, »aber Sie werden sogleich wissen, daß ich vernünftig und keineswegs zu schlechten Streichen aufgelegt bin. Bitte, setzen Sie sich zu mir.«

»Gut, ich will hören, warum Sie, der Sie gesund sind, einen Arzt holen ließen.«

Noch immer klang des Polen leicht verletzter Stolz durch diese Worte; anderseits aber regte sich auch schon die Neugier, wie wohl solch merkwürdiges Tun begründet werden würde, in ihm.

»Erlauben Sie, daß ich vorher noch meinen Stiefel anziehe,« entgegnete Durand lächelnd und vollzog schon diese notwendige Tätigkeit, dann fuhr er, in seine gemütliche Weise verfallend, fort: »Ich habe mich Ihnen nicht vollständig vorgestellt. Erlauben Sie, daß ich das jetzt nachhole. Ich bin also der Doktor juris Eugen Gröden aus Wien und gehöre zur Zeit vorübergehend dem Sicherheitsamte dieser Stadt an.«

»Ah!« machte der Pole, der zu verstehen begann. »Und der Herr, welcher da soeben weggefahren ist –«

»Der gehört zu jenen Persönlichkeiten, für welche ich mich augenblicklich sehr interessiere.«

»Er ist, wenn ich nicht irre, ehe ich eintrat, aus diesem Zimmer gegangen.«

»Ganz richtig.«

»Und Sie haben ihn fortgehen lassen?«

»O, er ist nicht allein weggegangen.«

»Ah so!«

»Haben Sie nicht gesehen, daß auch ein zweiter Wagen bestiegen wurde?«

»Ich habe nicht darauf geachtet.«

»Aber ich. In dem zweiten Wagen saß ein hiesiger Polizeiagent.«

»Und der wird den hübschen Herrn im Auge behalten?«

»Der wird dem hübschen Herrn überallhin folgen, bis – nun, bis ich wieder mit ihm zusammentreffe.«

»Wird das bald geschehen?«

»Es wird geschehen, und dann werden der Herr und ich wieder miteinander nach Wien fahren.«

»So!«

»Sie haben gewiß auch in Wien studiert?«

Der Arzt nickte.

»Da kennen Sie wohl die Alserstraße?«

»Gewiß.«

»Der Herr und ich werden in die Alserstraße fahren.«

»In die Alserstraße Nummer eins Wien, IX. Bezirk, Alserstraße 1 ist das Landesgerichtsgebäude.

»In die Alserstraße Nummer eins.«

Doktor Chodorowski atmete tief auf. »Wessen hat er sich schuldig gemacht?« fragte er dann.

Durand zuckte die Achseln.

»Sie wissen das nicht?« rief der Pole befremdet.

»Noch weiß ich es nicht; aber ich werde es demnächst, vielleicht schon« – er hielt ein wenig inne und lauschte – »heute wissen,« antwortete er und rief dann: »Herein!«

Ein Telegraphenbote war es, der draußen zu irgend jemand gesagt hatte: »Depeschen für Herrn Durand«, und der jetzt über die Schwelle trat.

Als er wieder gegangen war, besichtigte Durand zuerst die Angabe der Örtlichkeit, an welcher die Depeschen aufgegeben worden waren. Zwei kamen von Wien, die dritte von Krakau.

Er öffnete letztere zuerst. Klesing war ihr Absender.

Er depeschierte folgendes:

»Therese Luise Lubinska wohnte bis 16. Februar 1882 in der Grodzkastraße, ist aber abgereist – unbekannt wohin.«

Die erste Wiener Depesche war auch nicht viel länger.

Ihr Inhalt lautete:

»Die bewußte Kiste ist am 4. 3. als Eilgut an Frau Malachow nach Mlociny, Russisch-Polen, abgegangen. Die beiden Koffer waren an Frau Therese L. Soigni, Genf, Rue de la Corraterie 7, adressiert. Alexin schweigt noch immer.«

Durand hatte die Depeschen still gelesen, jetzt sagte er laut: »Therese Luise Lubinska und Therese L. Soigni. Das stimmt.«

Er öffnete die dritte Depesche. Sie kam von der Direktion des Künstlerhauses. Ihr Inhalt war folgender:

»Das Bild ›Aufstand polnischer Bauern‹ wurde von dem Künstler kurzer Hand an Fräulein Nadja Kissilew, Radom, Russisch-Polen, verkauft. An diese Adresse wird es laut Verfügung Colmars von uns aus nach Schluß der Ausstellung gesandt werden.«

»Also Radom!« sagte Durand befriedigt.

Langsam faltete er die Telegramme zusammen und verwahrte sie in seiner Brieftasche.

»Sie gelten hier für einen Herrn Durand?« bemerkte der junge Pole.

Da wies dieser Herr Durand ihm seinen Paß vor, in welchen genaue Einsicht zu nehmen sich Chodorowski nicht im mindesten scheute.

»Jetzt glaube ich Ihnen, daß Sie sind, als was Sie sich mir gegenüber nannten,« meinte er lächelnd, während er das Papier zurückgab.

Durand nahm es und entgegnete: »Jetzt wissen Sie also, daß meine Angaben richtig sind. Wollen Sie mir auf dieses Wissen hin und unter dem Versprechen absoluten Schweigens beistehen?«

»Ohne Frage! Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Sie müssen mich noch weiter behandeln.«

»Gut.«

Die beiden lächelten.

»Und wenn es dazu kommt, daß ich mit dem hübschen Herrn wieder nach Wien fahren werde, da wird sich mein Fußleiden verschlechtert haben.«

»Was ich zu bestätigen haben werde?«

»Ja. Und Sie werden die Sache sehr arg finden.«

»Werde ich das?«

»Natürlich. Denn ein ernstlich Erkrankter kann die weite Reise nach Wien nicht leicht allein machen.«

»Ah! Der hübsche Herr soll veranlaßt werden, Sie zu begleiten?«

»So ist es. Er ist mit mir hierher gekommen – freiwillig hierher gekommen, er soll auch – allerdings unter dem leichten Zwang der Schicklichkeit – freiwillig wieder mit mir zurückreisen.«

»Wie werde ich es erfahren, wann der Zeitpunkt gekommen ist, an welchem der Zustand Ihres Fußes schlecht sein muß?«

»Sie werden mir täglich eine ärztliche Visite machen, und da genügt ja wohl ein Wink.«

Chodorowski verbeugte sich. Dann stand er auf.

Er sollte aber noch einmal Ursache finden, in Verwunderung zu geraten. Auch Durand hatte sich erhoben. Er war auf die große Kommode zugetreten, welche die eine halbe Wand des Zimmers einnahm. Es war ein ungewöhnlich massiv gearbeitetes Stück aus Eichenholz.

Durand schickte sich an, den Kasten zu rücken. Er brachte ihn auch tatsächlich ein Stück von der Stelle aber das hatte ihn Anstrengung gekostet. Er atmete tiefer, und das Blut war ihm in den Kopf gestiegen.

»Warum tun Sie das?« fragte Chodorowski.

»Meinen Sie, daß Sie ihn leichter wegschieben können?« war Durands Entgegnung.

»Ich fühle kein Bedürfnis, diese Probe zu machen,« meinte der Pole, in welchem sich wieder der Verdacht, daß dieser Doktor Gröden, vulgo Herr Durand, doch verrückt sei, zu regen begann.

Durand ahnte wohl, was der Pole dachte, und so beeilte er sich, ihn aufzuklären. »Der, welcher mein Reisebegleiter sein wird, hat nämlich diese Kommode mit staunenswerter Leichtigkeit weggeschoben, um wieder zu einem Schmuckstück zu gelangen, das unter dieses Möbel gerollt war.«

Da legte der Arzt seinen Hut wieder hin und ging zur Kommode. »Da muß er sehr viel Kraft besitzen,« sagte er dabei und legte nun auch Hand an, um die Schwere des Kastens zu prüfen.

Es ging ihm, wie es Durand ergangen war, er keuchte und hatte einen roten Kopf, als er die Kommode wieder an ihren Platz geschoben hatte.

»Das Ding hat reichlich zwei Meterzentner,« schätzte er.

Da nickte Durand und machte eine seltsame Bemerkung. »Ja, reichlich zwei Meterzentner! Und ein normal gebauter Mann wiegt höchstens ein halbmal so viel.«

Chodorowski wollte eine Bemerkung machen, allein er sah, daß dieser Herr Durand in ein tiefes Nachdenken versunken war, und so ging er nach stummem Gruß hinaus.

Durand stand noch eine Weile in der Mitte des Zimmers und wiederholte noch einmal seine letzten Worte: »Und ein normal gebauter Mann wiegt höchstens ein halbmal so viel.« –

Eine Viertelstunde später klingelte er nach dem Kellner.

»Der Arzt hat mir eine Wagenfahrt angeraten,« sagte er. »Seien Sie so gut und rufen Sie eine Droschke herbei. Sie soll knapp vor die Treppe kommen.«

Wie angeordnet, so geschah es.


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