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Doktor Haus König kam gegen elf Uhr Nachts in seiner Wiener Wohnung an, einem reizend gelegenen Gartenpavillon im neunzehnten Stadtbezirke.
Die Frau, welche ihn schon seit längerer Zeit bediente, und welche ihr bescheidenes Logis in einem der nächsten Häuser hatte, erwartete ihn, geschäftig fragend, ob er denn gut gefahren sei und ob er wohl auch schon gegessen habe; auf alle Fälle habe sie Tee, Eier und Schinken hergerichtet.
Aber er hatte schon auf dem Bahnhofe gespeist, stellte die appetitlich servierten Eßwaren dem alten Weiblein zur Verfügung, verabschiedete sie und ging zu Bett, um die sich merklich machende Reisemüdigkeit gründlich auszuschlafen. Aber der Schlaf wollte lange nicht kommen, und als er sich endlich doch einstellte, kam der Traum mit ihm – ein sehr lebhafter Traum, aus welchem König plötzlich erwachte. Er fand nicht sogleich zur Wirklichkeit zurück, er mußte sich erst eine gute Weile besinnen. Dann setzte er sich mit einem Ruck aufrecht und sagte laut und mit großer Bestimmtheit: »Jan Frit hat recht, das Mädchen denkt vollkommen normal.«
Das sagte der Doktor ganz vernehmlich, und dann wartete er gar nicht mehr auf den Schlaf – er wußte ja, daß der in der heutigen Nacht doch nicht mehr zu ihm kommen werde.
Stunde um Stunde schlich in schier unerträglicher Langsamkeit hin. Endlich aber dämmerte es doch. Königs Verlobungstag brach an. Aber wessen der Doktor merkwürdigerweise nur ganz flüchtig gedachte, das war – seine Braut.
Und er liebte sie doch so herzlich, seine hübsche, zarte Lena, er nahm sich allen Ernstes vor, sie recht, so recht glücklich zu machen. Und trotzdem hatte er jetzt, von einer quälenden Ungeduld getrieben, kaum einen Gedanken für sie.
Es war noch nicht acht Uhr Morgens, als er schon auf seinem Rade saß und nach dem ersten Bezirk fuhr.
Das Künstlerhaus war sein Ziel. Er war da wohl bekannt.
»Ah, der Herr Doktor sind schon zurück! Und in aller Früh geb'n S' uns schon die Ehr'!« Mit diesen Worten empfing ihn der Diener, der das Vestibül reinigte, stellte schnell den Besen in eine Ecke und wollte König seines kurzen Mantels entledigen.
Dieser jedoch wehrte ihn freundlich ab und ging eiligst in die Ausstellungsräume, welche für den allgemeinen Besuch noch unzugänglich waren, denn noch hingen nicht alle Bilder, noch waren nicht alle für die morgen zu eröffnende Frühjahrsausstellung angenommenen Skulpturen an den für sie bestimmten Plätzen untergebracht. Ganze Wagenladungen von Topfpflanzen und Teppichen harrten noch geschickter Hände, welche sie an passenden Stellen unterbringen sollten.
Ganze Berge von Kisten verschiedensten Formates waren noch zu umgehen, wenn man von einem der Säle in den anderen gelangen wollte, und recht unharmonisch war auch der Lärm, welcher derzeit in den sonst so vornehm stillen Räumen herrschte, denn da wurde an allen Ecken und Enden noch genagelt und gehämmert, riefen die Arbeiter einander dies und jenes zu, und gaben die gestrengen Mitglieder der Hängekommission ihre Anweisungen und Befehle.
Durch all diesen Wirrwarr und Lärm schlängelte sich der Kritiker, bis er in einem der großen Seitensäle anhielt.
Da war es bereits säuberlich und still. Lang, sehr lange blieb König, welcher jede Begleitung abgelehnt hatte, in diesem Saale, und als er endlich ging, geschah es im Zustande großer Zerstreutheit. Er bemerkte nicht, daß einer der Herren von der Hängekommission, ein berühmter Maler, ihn gegrüßt hatte, ihm die Hand entgegenstreckte, er hörte auch den Gruß des Dieners nicht, der ihm die Tür öffnete, und er vergaß sogar sein Rad, das er dem Hausdiener in Verwahrung gegeben hatte. In Gedanken versunken ging er nach seiner Redaktion. Er fand erst einen einzigen seiner Kollegen vor. Diesem sagte er, daß er gestern nacht angekommen sei, daß er den heutigen Tag zur Ordnung etlicher Privatangelegenheiten benützen müsse, da er Abends seine Verlobung feiern wolle, morgen werde jedoch das Blatt den die Eröffnung der Kunstausstellung betreffenden Artikel ganz bestimmt bringen können.
Danach betrat Doktor König einen Blumenladen, der seine prächtige Auslage gegen die Ringstraße zu hatte, kaufte einen herrlichen Strauß blaßroter Rosen, winkte einen Fiaker herbei und fuhr nach Hause, woselbst er rasch Toilette machte.
Eine halbe Stunde, nachdem er seine Wohnung wieder verlassen hatte, hielt sein Fiaker, ein echter Wiener Schnellfahrer, vor einer ziemlich tief in einem herrlichen Garten gelegenen Villa in Hietzing. Es war ein sehr geräumiges Landhaus, und es war im gemütlichen Stile längst vergangener Zeiten gebaut, Zeiten, in denen man mit Licht und Luft und mit dem Raum noch nicht zu sparen gewohnt war.
Königs künftiger Schwiegervater, der Kommerzienrat Ludwig v. Mühlheim, ein reicher Seidenwarenfabrikant, hatte dieses überaus vornehme Landhaus schon seit etwa dreißig Jahren in Besitz. Es sah heute schon recht altväterisch aus, aber gerade das war Mühlheim lieb. Er hütete sich, irgend welche einschneidende Veränderungen in diesem, ihm von vielen mißgönnten Besitz vorzunehmen, denn andernfalls hätte das uralte Wappen, welches angenehm auffallend über dem breiten Tore angebracht war, lächerlich gewirkt, so aber gehörte es eben zu dem Hause, wie der großartig angelegte Park mit seinen Baumriesen, seiner Eremitage, seinen steifen Sandsteinfiguren und Felsengrotten dazu gehörten, die nicht nur auf das ehrwürdige Alter dieses Besitzes, sondern auch auf dessen vornehme Zeit hindeuteten.
Der Kommerzienrat v. Mühlheim war ein wenig eitel. Er war kein gewöhnlicher Geldprotz. Er wollte nur das durch seine Tüchtigkeit und viel Glück sehr bedeutend gewordene Vermögen in angenehmer Art genießen und zur »Gesellschaft« gerechnet werden. Zu ersterem war ihm eine einigermaßen glänzende Häuslichkeit und zu letzterem war ihm das Bekanntsein mit angesehenen Menschen nötig.
Als seine Töchter heranwuchsen, hatte er eine Zeitlang daran gedacht, durch sie mit dem alten Adel in Berührung zu kommen, aber diesen Gedanken hatte er, nachdem er sich etliche adelige Freier näher betrachtet hatte, bald fallen lassen. Seine älteste Tochter Edwine und sein herziges Naturkind Lena waren ihm denn doch viel zu lieb, um sie Männern zu geben, die um die Töchter warben, aber das Geld meinten. Wirklich vornehme, nicht nur ihrem Namen nach vornehme Bewerber waren eben im Hause des ehemaligen Fabrikanten nicht erschienen.
Mit dieser Art, sich in die »Gesellschaft« einzuführen, war es also nichts.
Da fiel es dem wackeren Kommerzienrat ein, daß es ja auch einen »Geistesadel« gäbe. Er fing an, sich mit Künstlern bekannt zu machen, und da er seit jeher viel Geschmack in seiner Lebensführung bewiesen hatte und somit auch den Künsten gegenüber kein Fremder war, gelang es ihm bald, einen Bekanntenkreis zu gewinnen, welcher ihm nicht nur viel Vergnügen, sondern auch Ehre einbrachte. Sein gemütliches und elegantes Heim war schließlich ein gern besuchter Sammelplatz so mancher geworden, welche in der Kunstwelt bedeutende Rollen spielten.
Unter denen, die gern, sogar sehr gern in Mühlheims Hause verkehrten, befand sich auch König.
Daß dieser nicht nur eine glänzende Anstellung, sondern auch ein recht beträchtliches Vermögen besaß, war Mühlheim sehr recht, denn so brauchte er ihm, da der Doktor sich um Lenas Herz und Hand zu bewerben begann, nicht zu mißtrauen und brauchte der wachsenden Liebe seines Kindes kein Hindernis in den Weg zu legen, ja konnte mit Befriedigung des Doktors Aussprache entgegensehen. Diese war knapp vor Königs Reise erfolgt, und heute abend sollte die Verlobung im Kreise der Intimen des Hauses gefeiert werden.
Als der Wagen Königs vor dem prächtigen Gittertor der Villa hielt, tauchten an einem Fenster derselben ein paar blonde Köpfe auf.
»Da ist er ja, der Heißersehnte!« rief der Inhaber des einen, ein etwa sechzehnjähriger Bursche, dem der Übermut aus den blitzenden blauen Augen schaute.
Das hübsche Mädchen an seiner Seite war rot geworden.
»Geniere dich nur nicht. Eile ihm doch entgegen,« meinte der Junge, die Schwester zärtlich anstoßend.
»Laß das sein, Erich,« unterbrach ihn in ruhiger, aber doch bestimmter Weise sein Hofmeister, der auch ans Fenster getreten war, um den jungen Herrn ohne viele Umstände aus dem Salon zu führen.
Erich Mühlheim ließ es sich ohne weiteres gefallen, schon deshalb, weil er, wie er zu behaupten pflegte, für Rührszenen keine Schwäche besaß – dann aber wohl auch, weil »dieser Herr Braun« nun einmal bezüglich seiner ja doch der Herr »über Leben und Tod« war. Übrigens verging Erich nicht gerade in Furcht vor seinem Präzeptor, denn im Hinausgehen schrie er noch ein paarmal, wiewohl Braun ihm lachend den Mund zuhielt: »Auf den Flügeln der Liebe! Auf den Flügeln der Liebe!«
Lena aber eilte nicht hinunter, sie schaute leuchtenden Auges dem geliebten Manne entgegen und nickte ihm, der heraufgrüßte, zu.
Da legte sich ein Arm um ihre Schultern. Edwine, Lenas ältere Schwester, war es, die ihr jetzt liebevoll in die Augen sah. »Bist du sehr glücklich?« fragte sie lächelnd.
Lena nickte nur, dann schloß sie plötzlich ihre Arme um Edwine und preßte sie leidenschaftlich an sich, während sie ihr zuflüsterte: »So glücklich, daß ich mir's – neben dir – gar nicht verzeihen kann.«
Edwine machte sich sanft frei. Ruhig schaute sie in der Schwester Augen, und sanft lächelnd entgegnete sie: »Laß dich's nicht kränken, daß ich für meine Person mit dieser Seite des Lebens fertig bin.«
»Du wirst wirklich nie einen anderen lieben?«
»Nie!« war die feste Antwort. Dann ging Edwine aus dem Zimmer.
Von draußen her wurden rasche Schritte hörbar. Der schmerzliche Zug, der soeben noch auf Lenas lieblichem Gesichte gelegen, schmolz wie Schnee im Sonnenschein. Jetzt tat sich die Tür auf – im nächsten Augenblick hielt König, der jetzt alles andere vergessen hatte, die Geliebte in den Armen. Und er sagte, der sonst so Beredte, nichts als ein paarmal, tief aufatmend: »Mein Glück! Du mein süßes, herziges Glück!«
Ein Viertelstündchen gönnte man den beiden, dann kamen die Familienmitglieder eines nach dem anderen herein, um König zu begrüßen, und bald vereinte ein gemütliches Frühstück die fröhlich Plaudernden, denen König verschiedenes von seiner Reise erzählen mußte.
Plötzlich schwieg er und brach ein wenig unvermittelt die Schilderung seiner Fahrt von Paris nach Concarneau ab. Und es war doch gar nichts Unangenehmes vorgefallen. Es war nur ein Eilbrief an den Kommerzienrat gekommen, in welchem einer der für heute abend geladenen Gäste die angenommene Einladung nicht etwa rückgängig machte, sondern nur bat, um eine Stunde später kommen zu dürfen, da er eine unabweisbare Abhaltung habe.
Selbiger Gast – er hieß Viktor Colmar – hätte auch ganz fortbleiben können; den beiden Liebenden war er gleichgültig, und Edwine – um deren Gunst dieser Herr sich leidenschaftlich bewarb – war ihm geradezu abgeneigt.
Dieser Brief also konnte an Königs schlechter Laune keine Schuld haben.
Der Kommerzienrat, der kein Freund schlechter Launen und stockender Gespräche war, fand rasch neue Themata und war schließlich, weil es nun einmal wie ein kalter Hauch über der kleinen Tafelrunde lag, froh darüber, daß sein künftiger Schwiegersohn durch seine Berufspflichten gezwungen war, bald wieder zur Stadt zurück: zukehren. König mußte nicht nur noch einmal die Ausstellung besuchen, er mußte Nachmittags auch noch sein Referat schreiben, das er sonst wohl erst Abends seinem Blatte zuzustellen pflegte, das aber heute schon früher fertig sein mußte, da König ja heute abend anderes zu tun hatte, als an Kunstkritiken zu denken.
Gegen zwölf Uhr verabschiedete sich König denn auch und fuhr nach der Ausstellung, die um ein Uhr eröffnet werden sollte. Er langte eine halbe Stunde früher dort an und begab sich sogleich in die Ausstellungsräume,woselbst jetzt schon alles an Ort und Stelle gebracht und jede Spur der fieberhaften Tätigkeit, welche vor Stunden da noch geherrscht hatte, völlig verwischt war. Noch war dem Publikum der Zutritt nicht freigegeben worden, dennoch aber herrschte schon ziemlich viel Bewegung in den verschiedenen Sälen, denn es waren nicht nur die Berichterstatter der Zeitungen, sondern auch viele Künstler anwesend, welche den intimen Genuß, den nun einmal der Eröffnungstag bietet, haben wollten. Man konnte die Maler plaudernd, die Journalisten Notizen machend, da und dort beisammenstehen oder von Bild zu Bild gehen sehen.
Auch König war jetzt nur Kritiker. Er schaute, notierte, plauderte über seine Reise und sprach sich über dieses und jenes Kunstwerk aus. Daß seine Augen dabei jemand suchten, der nicht kam, bemerkte keiner. –
Nachdem die Eröffnungsfeierlichkeit vorüber war, schrieb König im Vestibül auf eine Visitenkarte wenige Zeilen. Sie lauteten: »Ich muß Sie unbedingt heute noch sprechen. Bin bis sechs Uhr zu Hause.«
Die mit Umschlag versehene Karte übergab er einem Dienstmann mit dem Auftrage, den Brief sofort zu besorgen. Darauf nahm er einen Fiaker, der auch sein Rad mitnahm, und fuhr nach Hause.
Er schloß seine Wohnung hastig auf, brachte das Rad an dem gewohnten Platz im Gange unter und begab sich in sein Arbeitszimmer.
Er war allein. Frau Winter hatte um diese Zeit im Hause nichts zu tun. Sie hatte seinen Reisekoffer schon entleert und dessen Inhalt in den betreffenden Kästen verwahrt. Die verschiedenen Kleinigkeiten, welche König unterwegs erworben hatte, kleine Plastiken, Photographien u. s. w., hatte sie auf seinen Schreibtisch gelegt. Er schob sie, als er sich an ihm niederließ, ein wenig ungeduldig zur Seite und begann sein Referat zu schreiben. Bald war er ganz und gar in seine verantwortungsvolle Arbeit vertieft.
Als er mit seinem Bericht zu Ende war, schlug die hohe englische Standuhr, welche neben dem Schreibtische stand, fünf Uhr.
Der Doktor schüttelte den Kopf, blickte auf seinen Chronometer und schüttelte abermals den Kopf.
»Na, auch gut!« sagte er eigentümlich harten Tones, legte sich noch ein Blatt Papier zurecht und schrieb weiter. Als es halb Sechs schlug, faltete er den großen, eng beschriebenen Bogen zusammen. Gerade, als er dies tat, ging das Gartenpförtchen. König schaute nicht auf, er steckte den zuletzt geschriebenen Artikel ein wenig hastig in einen schon adressierten Umschlag, faltete dann auch die anderen beschriebenen Bogen zusammen und schob sie zu dem ersten.
Indessen ging jemand durch den Garten und die Treppe herauf. Es klopfte an. König schrieb noch immer. »Herein!« rief er und legte die Feder hin.
Es war ein junger Mensch, der da über die Schwelle trat.
»Ah, Sie sind es!« sagte der Doktor. Er war sichtlich enttäuscht. Der junge Mann war ein Abgesandter seines Bankiers und brachte ihm eine größere Summe baren Geldes, das König während seiner Reise gekündigt hatte. Die zwei kannten sich flüchtig. Der Bankbeamte erkundigte sich danach, wie es dem Herrn Doktor während seines Fortseins ergangen sei, und teilte ihm mit, daß auch er und zwar heute noch im Interesse seines Chefs eine längere Reise antreten werde.
Der junge Mann, der vermutlich noch nicht viele Reisen gemacht hatte, wäre gern ein bißchen weitschweifig geworden, aber er bemerkte, daß Doktor König nervös sei. Er mußte wohl jemand erwarten, denn er sah des öfteren nach der Straße hinüber, und dazwischen griff er, während er zerstreute Bemerkungen machte, bald nach diesem, bald nach jenem der kleinen Päckchen, welche auf dem Schreibtische lagen. Sein Besucher stand denn auch bald auf, um sich zu empfehlen.
Eben als er sich erhob, hatte der Doktor den Umschlag von einem der Päckchen geöffnet. Das Kuvert umschloß ein in zarten Tönen gemaltes Frauenbildnis. Es war in einen flachen Malachitrahmen eingefügt. Einen Augenblick lang schaut der Doktor auf das Bild, da klirrt wieder die eiserne Gittertür draußen, Königs Blick fliegt hinaus.
»Sie bekommen Besuch,« sagt der junge Beamte.
»Ja, ich bekomme Besuch,« sagt auch König, schiebt das Bildchen wieder in den Umschlag und legt es auf den Schreibtisch, schüttelt den Kopf, hebt das Bildchen wieder auf, schlägt es in eine Zeitung ein und schiebt es zwischen einen Stoß Bücher, welche auf dem Rande des Schreibtisches liegen, dann wünscht er freundlich, aber auch merkbar zerstreut dem Besucher eine glückliche Reise und geleitet ihn bis zur Tür.
Von dorther wirft der junge Beamte unwillkürlich noch einen Blick auf das überbrachte Geld, das offen auf dem Schreibtische liegt.
Draußen begegnet er dem neuen Besucher. Dieser ist ein elegant gekleideter, noch jüngerer Mann. Er scheint recht wohlgelaunt zu sein, seine Miene verrät es und das Liedchen, das er summt.
Als die zwei aneinander vorübergehen, grüßen sie sich stumm.
Der junge Beamte vergewissert sich noch einmal, ob er die eben erhaltene Quittung auch gut verwahrt habe, und geht danach, auch in recht vergnügter Stimmung, die Straße hinunter. Sie mündet in die Döblinger Hauptstraße. Gerade an der Ecke baumelt ein Barbierbecken an einer langen Stange, da fällt es dem jungen Menschen ein, daß er sich vor seiner Abreise noch rasieren lassen müsse, und so betritt er den Laden. Es tut ihm nichts, daß er, da eben andere Kunden bedient werden, etwas warten muß. Endlich kommt auch er daran. Just eine halbe Stunde hat das Warten gedauert. Die Zunge des wackeren Bartscherers ist bedeutend flinker, als es seine Hände sind, das merkt sein neuester Kunde jetzt auch an sich.
Endlich aber wird doch auch er fertig. Er hat schon gezahlt und zieht die Handschuhe an, wobei er gelangweilt auf die Straße hinaussieht.
Da geht soeben ein Herr an dem Laden vorüber – es ist derselbe, dem er vorhin im Hause Königs begegnet ist.
»Merkwürdig,« denkt der junge Bankbeamte, »wie verdrossen der jetzt dreinschaut, und war doch vor einer Stunde noch so lustig!«
Fünf Stunden später fuhr der junge Mensch, welcher diese Wahrnehmung gemacht hatte, in die weite Welt hinein, in der er irgendwo, auf Wochen hinaus, für seine Firma zu tun hatte.
Und etwa auch fünf Stunden später endete das Verlobungsfest bei dem Kommerzienrat v. Mühlheim. Es war diesem nicht recht gewesen, daß sein künftiger Schwiegersohn sich nicht einmal heute ganz frei hatte machen können, anderseits glaubte er es ihm ohne weiteres, daß er, ehe die Drucklegung des Morgenblattes begonnen hatte, also vor zwölf Uhr Nachts, noch einmal in die Redaktion müsse.
Lena war sogar ein bißchen gekränkt ob seines zeitlichen Gehens, aber sie kämpfte tapfer gegen ihre Verstimmung an, und als König in dem augenblicklich leeren Wintergarten von ihr Abschied nahm, sagte er: »Möchtest du lieber, daß ich niemals Wichtiges zu tun habe?«
Da schaute sie ihn voll ernster Liebe an und entgegnete: »Nein, nein. Wie es ist, ist es gut, und wie du bist, so sollst du immer sein – denn gerade so muß ich dich lieben.«
»Herz, liebes Herz!« – Er drückte einen Kuß auf ihre weiße Stirn, dann fragte er lächelnd: »So wirst du niemals eifersüchtig auf meinen Beruf sein?«
»Niemals werde ich eifersüchtig sein. – Deinen Beruf achte ich, und die Kunst – die liebe ja auch ich. Eines anderen Weibes wegen wirst du dich aber nie zum Lügen und Betrügen erniedrigen. Ich werde keine Ursache haben, mich deshalb zu grämen – und das nennt ihr ja Eifersucht. Aber du gehst – solltest du nicht wenigstens mir sagen, was dir heute Peinliches begegnet ist? Denn es ist dir Peinliches begegnet. Ich – wir alle fühlten es.«
»Später wirst du es erfahren. Ich kann jetzt noch nicht davon reden.«
Noch ein paar liebe Worte, dann ging der Doktor.
Leuna sah ihm nach, bis sich die Tür hinter ihm schloß. Das Herz war ihr schwer, sie wußte nicht weshalb. Sie trat an das große Fenster, von welchem aus man zu dem Tore hinüberschauen konnte. Dieses Fenster war von vielfach verzweigten Schlingpflanzen ziemlich dicht verhangen. Lena schob etliche der schwankenden Zweige zurück und schaute hinunter – es bewegte sich soeben eine Gruppe von Herren auf dem breiten Kiesweg dem Tore zu. Ob ihr Bräutigam darunter war, konnte die junge Dame nicht erkennen. Sie spürte, daß ihre Augen voll Tränen standen. Ehe sie diese noch weggewischt hatte, waren die Herren schon auf die Straße hinausgetreten. Jetzt konnte man ihre Gestalten überhaupt nur noch undeutlich unterscheiden, denn nun befand sich zwischen ihnen und der Villa das hohe Eisengitter und die freilich noch kahlen Sträucher, welche innerhalb desselben gepflanzt waren.
Lena sah nur noch, daß etliche Wagen rasch hintereinander wegfuhren.
Von der ihr selber unbegründet erscheinenden Angst befallen, wandte sie sich seufzend in den großen Raum zurück – da stand Edwine vor ihr.
Erschrocken schaute ihr diese in die trüben Augen.
»Aber Liebste! Was ist dir denn?« fragte sie besorgt. »Ist denn das die Miene einer glücklichen Braut? Und die bist du ja doch!«
»O ja – die bin ich!« begann Lena, und ihre Augen leuchteten auf. »Wie sollte ich denn nicht sehr, sehr glücklich sein! – Aber – weißt du, es gibt kein ungetrübtes Glück. Und wenn auch gar keine Ursache da ist, es zu trüben, dann grübelt man doch darüber nach, wie lange wohl solch ein großes Glück währen kann.«
»Das hast du getan?«
Lena nickte, dann gingen die Schwestern Hand in Hand aus dem Saale.
Eine Weile wirtschafteten die Dienstleute noch in den Gesellschaftsräumen herum, dann erlosch in der Villa ein Licht nach dem anderen, und bald herrschte tiefe Stille da, wo noch vor Stunden froher Festeslärm zu hören gewesen war.
Als sich Edwine von der Zofe das Haar auflösen ließ, zeigte ihr der Spiegel ein recht blasses Gesicht.
Und noch etwas zeigte er ihr: die mitleidige Miene des Mädchens, welches hinter ihr stand.
»Warum machen Sie denn ein so trübseliges Gesicht, Lisi?« fragte Edwine freundlich.
»Ich habe den ganzen Abend an weniger Glückliche denken müssen.«
»An Sie selber also?«
»Und an Sie, mein liebes gnädiges Fräulein,« brach Lisi los, die ebensosehr die Vertraute als die Dienerin der Schwestern war.
»Auch an mich! Da taten Sie recht, Lisi,« sagte trüb lächelnd Edwine, »denn ich habe gar keine Aussicht, je eine glückliche Braut zu werden, während Sie dieses Glück vor sich haben und nur ein bißchen darauf warten müssen.«
»Vier Jahre noch, Fräulein! So lange wird es dauern bis Braun eine feste Anstellung erhält.«
»Ich wollte vier Ewigkeiten darauf warten.«
»Was alles kann da noch dazwischen kommen!« seufzte Lisi.
»Was soll denn dazwischen kommen? Braun hat Sie doch so recht herzlich lieb, seiner Treue sind Sie sicher, und hat er sich nur erst eine Stellung errungen, die das Heiraten möglich macht, dann denkt er gar nicht daran, eine andere zu seiner Frau zu machen als Sie. Als Hauslehrer kann er doch nicht heiraten!«
Die hübsche Lisi nickte. Ihr Verstand sagte es ihr ja, daß sie warten müsse, aber das Warten tat trotzdem recht weh. »Freilich, gnädiges Fräulein sind noch viel schlimmer daran als ich,« seufzte sie. »Daß aber auch der Herr Kommerzienrat so gar kein Einsehen hat! Er zwingt Sie ja fast –«
»Wozu denn, Lisi?« fragte Edwine trüb lächelnd.
»Doch nicht dazu, gegen seinen Willen zu heiraten, in Zwist, vielleicht mit einem Skandal aus dem Hause zu gehen? Ich hätte nicht den Mut dazu.«
Lisi nickte eifrig: »Das ist's ja, und weil der gnädige Herr weiß, daß Sie sich nicht wehren können, wird er Sie auch noch zwingen, den anderen zu nehmen.«
Ordentlich zornig war das junge Ding geworden, aber auch Edwine hatte sich aufgerichtet, und fest klang ihre Stimme, als sie sagte: »Das kann Papa nicht. Mein Gehorsam hat Grenzen. Ich werde niemals Frau Colmar sein.«
»Merkwürdig, daß Sie ihn so gar nicht leiden können!« sagte das Mädchen nachdenklich. »Er ist doch eigentlich ein sehr hübscher und feiner Herr. Aber freilich –«
»Es ist spät, Lisi,« unterbrach Edwine die Zofe. »All unser Reden hilft uns ja doch nicht. Glück überhaupt, und gar so ungetrübtes Glück, wie Lena es gefunden hat, ist eben nur wenigen beschieden. Gott bewahre es ihr!«
»Ja, Gott bewahre es ihr!« wiederholte Lisi, küßte Edwinens Hand, schaute sie noch einmal mit feuchten Augen an und ging.
Ihre junge Herrin sah ihr bewegt nach. »Armes Ding,« dachte sie, »sehnst und härmst dich auch, weil dich die Armut von deinem Liebsten trennt, und hast auch sonst gar wenig vom Leben. Aber du wirst doch einmal glücklich sein. Ich aber – ach! Daß doch unser Glück immer nur von einem ganz bestimmten Menschen kommen kann!«