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Siebentes Kapitel.

Frau Marie Winter befand sich vor ihrem Waschtrog.

Als sie hörte, daß ein Beamter der Polizei vor ihr stand, seufzte sie tief auf. »Ich hab' ja schon alles g'sagt, was ich weiß,« meinte sie verdrossen, eines neuen Verhörs gewärtig, und dabei blickte sie scheu auf ihren Besucher.

Durand lächelte sie gutmütig an. »Na, kommen Sie nur, Frauerl,« sagte er freundlich. »Ich kenne alle Ihre Aussagen. Aber eine, die Sie, wie ich glaube, noch machen können, die steht nicht im Protokoll, steht deshalb nicht drinnen, weil keiner Sie nach dem hat fragen können, wonach ich Sie fragen will.«

Diese Worte hatten die alte Frau neugierig gemacht. Sie trocknete rasch ihre Hände ab und hieß ihren Besuch in das Zimmer treten. Es war ein sehr nett gehaltenes Stübchen, doppelt freundlich deshalb, weil die beiden Fenster voll Blumen waren.

Durand warf einen Blick auf die Straße. Es war ganz richtig, was die Winter angegeben hatte. Man konnte schon von ihrem Bette aus einen Teil des Hauses erblicken, darin vor zwei Nächten so Absonderliches vorgegangen war. Direkt in Königs Schlafzimmerfenster, welches an einer stumpfen Ecke der Villa lag, konnte man hineinsehen.

»Also, was soll ich denn noch sagen?« eröffnete Frau Winter das Gespräch.

»Kennen Sie diese Dame?« fragte Durand, ihr, während er sich setzte, das Bildchen im Malachitrahmen zeigend.

Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Die Dame kenn' ich nicht, aber das Bild hab' ich schon geseh'n. Der Herr Doktor hat mir's an dem Tag gezeigt, an dem ich ihn zum letzten Male geseh'n hab'.«

»Erst an diesem Tag?«

»Ja, vorher hab' ich es nicht bei ihm geseh'n. Er hat's vor sich liegen gehabt, wie ich ihm einen Brief hineingetrag'n hab'.«

»Er hatte es also vor sich liegen?«

»Ja, und er hat gar nicht g'hört, daß ich hereingekommen bin.«

»So! Das hat er also gar nicht gehört?«

»Nein. Ich hab' ihn zweimal anred'n müss'n.«

»Und dann?«

»Dann hat er das Bild in die offene Schreibtischlad' legen woll'n.«

»Nun, und er hat es nicht hineingelegt?«

»Nein. Er hat sich ein bissel besonnen, und dann hat er mir's gezeigt. ›Was, Frau Winter? Die ist schön!‹ hat er g'sagt und hat ganz merkwürdig dabei ausg'seh'n.«

»Und was sagten Sie?«

»Ich hab' das Bild auch bewundert.«

»Und nicht gefragt, wen es vorstellt?«

»Ah! Wie werd' ich denn so was tun!«

»Und was ist dann mit dem Bilde geschehen?«

»Das weiß ich nicht. Ich hab' an dem Tag so viel zu tun g'habt, daß ich mich gar nicht mehr an das Bild erinnert hab'. Jetzt denk' ich zum ersten Mal wieder daran.«

»Sie selbst haben es also nicht aufgehoben?«

»Ganz sicher nicht.«

»Na, sehen Sie, liebe Frau, das habe ich wissen wollen. Und jetzt sagen Sie mir noch eines. Hat Doktor König niemals Damenbesuch erhalten?«

Die alte Frau fuhr entrüstet auf. »Nie! Niemals!« sagte sie bestimmt.

Ihr Besucher mußte lächeln. »Und Briefe von Damenhand – hat er auch solche niemals erhalten?« fragte er.

Da zuckte Frau Winter die Achseln. »Mir ist's wenigstens nicht aufgefallen,« antwortete sie nach einer kleinen Weile, um geringschätzig hinzuzufügen: »Er war keiner von denen, die immer Liebschaften haben.«

Durand erhob sich. Auch Frau Winter stand auf.

Durand hatte aber doch noch eine Frage. »Sie wissen die Zeit nicht genau anzugeben, in der Sie das Licht in der Villa sahen?«

»Ganz genau kann ich's nicht sagen. Ich weiß nur, daß ich, wie ich einmal wach geworden bin, Licht im Schlafzimmer geseh'n hab'. Ich hab' mich gleich gewundert, daß der Doktor so zeitlich schon zu Haus' sein soll. Ist doch die Tramway noch g'fahr'n, und auch ein Radler ist noch durch unsere Gassen gekommen. Dann bin ich wieder eing'schlaf'n, und dann hat mich der Rettungswagen aufg'weckt. Mehr weiß ich nicht.«

»Und das Licht ist noch immer dagewesen?«

»Nein. Das ist schon verloschen, wie ich zum ersten Mal aufg'wacht war.«

»So!«

Frau Winter fuhr sich über die Stirne. »Je – da fallt mir gerad' noch was ein,« sagte sie.

»Was denn?« Durand, der schon im Gehen begriffen war, blieb stehen. Er sah die Frau aufmerksam an.

Die aber redete nicht; sie sann offenbar über irgend etwas nach.

»Nun!« drängte Durand.

Da äußerte sie ihre noch immer nicht geordneten Gedanken. Seltsamerweise begann sie mit einer Frage.

»Waren Sie auch bei der Kommission?« forschte sie.

»Ich war auch in Königs Quartier,« antwortete Durand ausweichend.

»Und haben sich alles genau angeschaut?«

»Genau. Natürlich, ganz genau,« entgegnete Durand, von dem Umstand, daß nun er ausgefragt wurde, heimlich erheitert.

»Haben Sie ein Radl g'seh'n?« forschte die alte Frau weiter.

»Ein Fahrrad meinen Sie?«

»Ja, ein Fahrrad.«

»Nein.«

»Es ist immer im Gang g'stand'n,« fuhr Frau Winter nachsinnend fort, »aber ich hab' nicht aufg'merkt, ob's jetzt noch dort steht.«

»Daß es seit der vergangenen Nacht nicht mehr dort steht, dessen kann ich Sie versichern,« erklärte Durand bestimmt.

»Seit dieser Nacht?! So waren Sie heut nacht in der Villa?« fragte Frau Winter.

»Sie wissen, daß jemand drinnen war?«

»Sie können sich's denken, daß ich heut nicht viel geschlaf'n hab'. Warum haben denn Sie auch die Spalettladen zugemacht?«

»Hat sie also der andere auch zugemacht?«

»Ja, der, den ich für den Herrn Doktor gehalten hab'. Der hat auch zuerst Licht gemacht, und dann ist's beim Vorzimmerfenster gleich wieder dunkel g'word'n.«

»Dafür ist's aber im Arbeitszimmer hell geworden.«

»Ja, aber auch nur für kurze Zeit, gerad' so wie im Schlafzimmer. Ich hab' mich recht gewundert, daß der Herr Doktor die Spalettladen schließt.«

»Das zu tun war wohl sonst nicht seine Gewohnheit?«

»Nein, es war auch gar nicht notwendig. Die Gegend ist ja sicher, und die Zimmer liegen auch zu hoch, als daß man von der Gassen aus tief hineinseh'n könnt'.«

»Ja, ja, und gegenüber gibt es auch kein Haus. Kurz, Doktor König hat sonst die Laden nicht geschlossen?«

»Niemals.«

»Jetzt aber wollen wir wieder von dem Fahrrad reden. Der Doktor war also Radler?«

»Ja.«

»Und sein Rad stand gewöhnlich im Gange?«

»Ja, aber manches Mal hat er's auch nur ans Haus gelehnt.«

»Doch nicht über Nacht?«

»Daran kann ich mich nicht erinnern.«

»Nun, dieses Mal hätte man es schon unter Dach geschafft, wenn man es vor der Tür gefunden hätte.«

»Da muß es also auch gestohlen worden sein.«

»Man muß das annehmen, gute Frau. Schade übrigens, daß es Ihnen erst jetzt einfällt, von dem Rade zu reden. Das ist ja etwas sehr Wichtiges. – Von welcher Art das Rad war, oder wo es Doktor König gekauft hat, wissen Sie nicht?«

»Nein.«

Durand hatte es plötzlich sehr eilig. Er empfahl sich rasch und ging.

Sein nächster Weg war zum Kommissariate Döbling, wo er sich davon überzeugte, daß der in der Wohnung Königs gewesene Beamte daselbst auch kein Fahrrad gesehen hatte, und woselbst er meldete, daß ein solches abhanden gekommen sei, welcher Umstand mittels Zirkulardepesche an alle anderen Wiener Polizeikommissariate bekanntgegeben wurde, die alsbald diese Kenntnis, gleich dem Döblinger Amte, sofort wieder an alle Geschäfte weitergaben, bezüglich deren es anzunehmen war, daß der Dieb das gestohlene Fahrrad verkaufen werde oder verpfänden könne.

Über dem Verbleib Königs aber lag noch immer tiefstes Dunkel.

Der Fall wurde immer rätselhafter. Wohl nahm man einen Mord an, aber – wo war der Ermordete?

Einer jedoch nahm es durchaus nicht als gar so sicher an, daß da ein Mord verübt worden sei, der nahm es nicht einmal als sicher an, daß da überhaupt irgend ein Verbrechen vorliege, kein anderes wenigstens, als daß ein liebendes, ein herzlich vertrauendes Mädchen getäuscht worden sei.

Der eine war Herr Durand, der bei einem Fiaker stand und zu ihm sagte: »Zur Polizeidirektion,« wonach er gemächlich in den Wagen stieg.

Es war ein offener Wagen. Das Wetter war ja heute ziemlich mild.

Als die Pferde anzogen, gab es einen so heftigen Ruck, daß Durand an die Seitenlehne des Wagens geschleudert wurde, wobei der Rahmen des Bildchens, das er in seiner inneren Rocktasche trug, gegen seine Brust drückte.

»Ah, Nadja meldet sich!« dachte er und lächelte eigentümlich, denn er stellte es sich vor, daß dieses schöne Weib, dessen Antlitz so viel Leidenschaft verriet, an Königs Seite von irgend einem Eisenbahnzug in die Ferne entführt werde, in eine sichere Ferne, in welche – – Ja, was denn?

Mit dieser an sich selbst gerichteten Frage hemmte Durand die Vorstellungen seiner Phantasie, und seine Züge verloren den spöttischen, lächelnden Ausdruck.

Er griff langsam nach dem Bildchen. Sachte löste er es aus seiner doppelten Umhüllung und betrachtete es lang und mit großer Aufmerksamkeit.

»Er war also keiner von denen, die immer Liebschaften haben,« murmelte er vor sich hin, aber er hatte einen Nachsatz: »aber gerade deshalb war er vielleicht für eine Leidenschaft reif, die vielleicht diese Nadja in ihm entzündet hat.« Aber – warum verlobte er sich dann mit der anderen? Er war ja frei, noch frei – bis zum Abend des 3. März völlig frei! – Warum, wenn diese Nadja vielleicht zu seinem Glücke gehörte, band er sich an Lena? Nun, er war doch fast um zwanzig Jahre älter als Lena. Da stand er diesem reifen, herrlichen Weibe schon weit näher, sobald es sich nicht um »Herzlichkeit«, sondern um »Leidenschaftlichkeit« handelte, und gegen diese war auch ein so reifer Mann nicht gefeit. König war freilich ein Ehrenmann und hat sich als solcher vielleicht verbunden gefühlt, die kleine Lena, die an seine Liebe glaubte, nicht zu enttäuschen. So wurde er ihr Verlobter – ein Verlobter, der es kaum den Gästen Mühlheims glaubhaft hatte machen können, daß er sich glücklich fühle, und dem es seine Braut ins Gesicht gesagt, daß er peinvoll bewegt sei.

Und dieser »peinvoll bewegte« Bräutigam verschwindet gleich nach dem Verlobungsfeste unter seltsamen oder wenigstens seltsam scheinenden Umständen, nachdem er einige Stunden vor seiner Verlobung das Bild einer schönen Frau in seiner Wohnung versteckt hat!

All diese Gedanken ziehen durch Durands Kopf, während seine Augen auf dem reizvollen Bildnis eines reizvollen Weibes haften, »eines Weibes,« so sagte er sich, »das sehr stolz und sehr willensstark, sehr ernst und sehr ehrbar aussieht, das so aussieht, als ob es sich zu gut, viel zu gut dünke für eine Tändelei, für eine Liebschaft.«

Durands Augen lösen sich von dem Bilde, sie blicken jetzt über dasselbe hinweg, aber ihr Eigner sieht nicht die Leute, an denen sein Wagen vorüberrollt, noch die Häuser, die da auftauchen und wieder verschwinden, er sieht dieses schöne Weib vor sich, wie es einen tötet, weil er, der ihr vielleicht alles genommen, worauf sie Wert gelegt, sich um geringerer Rechte willen von ihr abgewendet hat.

»Oder sie – –« denkt Durand.

Da wird er in seinem Nachsinnen gestört.

»Wir sind schon da, gnä' Herr!« ruft der Fiaker, und mit einem Ruck stehen die Pferde.

Durand fährt aus seinem Sinnen auf und steckt das Bildchen rasch ein. Die Zeitung und das Kuvert schiebt er in eine andere Tasche, bezahlt den Kutscher und geht in das Polizeidirektionsgebäude.

Einige Minuten später steht er vor dem Chef des Sicherheitsamtes, vor Herrn v. Eichen.

»Nun?« sagt der und reicht ihm die Hand.

Durand berichtete kurz und klar, was er seit gestern nachmittag getan und was er in Erfahrung gebracht hat, und auch Herr v. Eichen vertiefte sich mit großem Interesse in den Anblick des Bildes, das Durand vor ihm auf den Tisch gelegt hat.

»Ein wunderschönes Gesicht,« sagt der alte Herr, »und Sie glauben, daß diese Frau dem verschwundenen König nahe stand, und daß er ihrer berechtigten Eifersucht zum Opfer gefallen ist?«

Durand entgegnete lächelnd: »Ich habe zwar von dieser meiner Vermutung noch keine Silbe geäußert, aber es ist Tatsache, daß sie – neben einer anderen besteht.«

»Und gerechtfertigt ist,« setzte der Oberpolizeirat hinzu, »freilich nur auf Basis der Logik gerechtfertigt – aber, lieber Doktor, vergessen Sie nicht, daß die Logik mit dem Tun der Menschen nicht immer etwas zu schaffen hat, daß der Zufall eine Hauptrolle in der Welt spielt und daß das Wahrscheinliche sehr oft dem Unglaublichen weichen muß.«

Durand nickte nachdenklich.

Er hatte, während Herr v. Eichen das Bild betrachtete, die Zeitung und das Kuvert, von denen es umhüllt gewesen, aus der Tasche gezogen.

Der alte Herr langte jetzt nach ersterer. »Das Blatt ist also vom 3. März, und es ist ein Abendblatt. Seine Verwendung und der Ort, an welchem Sie es fanden, spricht allerdings auch dafür, daß diese Nadja im Leben Königs keine unbedeutende Rolle spielte, denn – – Was gibt es denn?« unterbrach er seine Bemerkung.

Durand war von seinem Sitz emporgefahren. Er starrte eine Weile auf das Kuvert, das er dann vor Herrn v. Eichen hinlegte. Es war ein größeres, fast quadratisches Kuvert von gelblichem Papier. Es war nie zugeklebt gewesen und trug auch keine Aufschrift, aber es war doch etwas darauf geschrieben.

Herr v. Eichen konnte es nicht lesen, denn die Stenographie war ihm fremd. Ihm sagten nur die drei Ziffern etwas, welche da am Rande mit Bleistift ganz klein hingeschrieben waren. Es waren Ordnungszahlen.

»27. 2.« stand da.

»Am Siebenundzwanzigsten im Zweiten,« las der alte Herr, dann schaute er erwartungsvoll auf Durand, und dieser las nun das Ganze, das da notiert war.

»Am 27. 2. von N. K. erhalten,« las er und setzte hinzu: »Die Schrift ist, so sehr dies angeht, gekürzt.«

»Sie haben diese Notiz jetzt erst bemerkt?« fragte der Oberpolizeirat.

»Jetzt erst,« sagte Durand. Er war errötet.

»Am 27. 2. von N. K. erhalten,« wiederholte Herr v. Eichen und senkte nachdenkend den Kopf. »Der zweite Name dieser Nadja fängt also mit K. An – und am siebenundzwanzigsten Februar hat sie König das Bild geschenkt, das ihn an seinem Verlobungstage so sehr beschäftigte.«

Das sagte er langsam und laut vor sich hin, dann blickte er zu Durand auf, erhob sich und, dem jungen Mann die Hand auf die Schulter legend, fuhr er fort: »Ihre Annahme gewinnt an Wahrscheinlichkeit – aber, bester Doktor, verbeißen Sie sich trotzdem nicht hinein.«

»Diese Absicht habe ich ganz und gar nicht,« entgegnete Durand lächelnd. »Wenn ich aber einstweilen mein besonderes Interesse dieser Nadja K. widme, haben Sie, mein verehrter Gönner, doch wohl nichts dagegen einzuwenden?«

»Natürlich nicht.«

»Ihr Bild muß heute noch in die Hände unserer Leute kommen. Sie erlauben, daß ich die Vervielfältigung sogleich veranlasse.«

Durand hatte sich erhoben. Gleichzeitig war geklopft worden. Ein Wachmann brachte eine Telephonnachricht.

Herr v. Eichen langte gleichmütig nach dem Zettel.

Während des Lesens wurde er lebhafter. Rasch sich erhebend, sagte er zu Durand: »Für Sie gibt's in Döbling zu tun, lieber Doktor – die Vervielfältigung des Bildes dieser Nadja werde ich schon besorgen.«

Damit reichte er dem Doktor den Zettel.

Der las, was das Döblinger Kommissariat amtlich meldete. Es hieß:

»Soeben wurde hier ein Individuum eingebracht, welches mit dem Falle König zu tun zu haben scheint. Der junge Mann ist Russe. Er besitzt nach Bezahlung einer bedeutenden Zeche noch gegen fünfzig Gulden Bargeld, über dessen Herkunft er sich nicht auszuweisen vermag. Er wurde in dem Augenblick festgenommen, als er dem Kellner des Gasthauses, in welchem er zechte, ein Fahrrad verkaufen wollte. Das Fahrrad befindet sich ebenfalls hier.«

»Ein Russe also,« sagte Durand, den Zettel auf den Tisch legend.

»Ein Russe,« sagte auch Herr v. Eichen.

Der Doktor hatte schon seinen Hut in der Hand.

Der alte Herr nickte ihm zu.

Eine Minute später bestieg Durand einen Wagen und fuhr nach Döbling zurück. Auf halbem Wege fiel es ihm ein, daß er Herrn v. Eichen von seiner zweiten Vermutung noch nichts gesagt habe. Aber daran lag ja nicht viel. Er konnte noch immer darüber reden.

Er war jetzt sehr ernst. Er fing soeben an zu glauben, daß Doktor König tot sei. Er dachte aber nicht an einen Raubmord – er dachte an einen Eifersuchtsmord, der nur deshalb mit einem Raub verbunden worden war, damit man nicht das eigentliche Motiv zur Tat erkenne und also in falscher Richtung nach dem Täter suche.

»Nicht ungeschickt gemacht,« dachte Durand, »aber der Zufall bringt auch hier wieder einmal Unordnung in die Logik. Die Hand, die das Porträt Nadjas versteckte, hat in das künstliche Gewebe einen Riß gemacht. Die Russin kennen wir bereits, schauen wir uns nun den Russen an.«

Es war ein düsteres Lächeln, das während dieser Gedanken den Mund Durands umspielte.

Als er in das Zimmer des journalführenden Beamten trat, fand er daselbst außer diesem auch noch Frau Winter und einen älteren Menschen, in welchem man auf den ersten Blick den Kellner erkannte.

Durand erinnerte sich, daß die alte Frau unter anderem auch ausgesagt hatte, daß am 3. März zweimal ein junger Mann nach Doktor König gefragt habe, und brachte diese Aussage mit ihrer jetzigen Anwesenheit in Verbindung.

Dem Kollegen die Hand reichend und der alten Frau zunickend setzte er sich.

»Ich habe das Verhör absichtlich bis zu Ihrem Eintreffen verzögert,« erklärte der Beamte und hieß dann Frau Winter ins Nebenzimmer treten.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, so wurde der Festgenommene vom Gange her hereingeführt.

Durand sah ihm mit großem Interesse entgegen.

Es war ein hübscher, aber schon ziemlich verlebt aussehender Bursche, der da halb scheu, halb trotzig herankam.

Seine große, aber schön geformte Hand preßte die Astrachanmütze, die sie hielt, fest zusammen, und ebenso fest waren seine feingeformten Lippen geschlossen.

Durands und des Kommissärs Augen begegneten sich einen Moment lang.

Jeder wußte, was der andere dachte: daß der Häftling trotz seiner Herabgekommenheit den Eindruck mache, als ob er zum ersten Male sich in solcher Situation befinde.

Der Kommissär rief durch ein elektrisches Zeichen einen Schreiber herbei. Als dieser die Feder zur Hand nahm, begann das Verhör.

»Ihr Name?«

Der Häftling biß sich auf die Lippen.

»Machen Sie keine Geschichten,« sagte der Kommissär. »Ihren Namen sollen Sie sagen.«

»Wasili Alexin,« kam es zögernd von den blassen Lippen des jungen Menschen.

»Also schreiben Sie einstweilen Wasili Alexin,« sagte der Kommissär mit einem Blick auf den Schreiber, und dann sich wieder zu dem Häftling wendend: »Wie alt?«

»Fünfundzwanzig Jahre.«

»Wo geboren?«

»Rußland.«

»Rußland ist ein bißchen groß.«

»In Moskau.«

»Beschäftigung?«

»Zahntechniker.«

»Derzeit in Stellung?«

»Nein.«

»Wo wohnen Sie?«

»Im achtzehnten Bezirk.«

»Gasse?«

Wasili Alexin gab den Namen der Straße und Hausnummer an.

»Seit wie lange sind Sie ohne Verdienst?«

»Seit sechs Wochen.«

»Bei wem und wo haben Sie zuletzt gearbeitet?«

»Bei Herrn Theimer im zweiten Bezirk, große Sterngasse.«

»Weshalb wurden Sie entlassen?«

Wasili Alexin schwieg.

Der Kommissär bestand nicht auf der Beantwortung dieser vermutlich heiklen Frage. Er ging auf die Ursache von des Russen Verhaftung über.

»Sie kamen in der verflossenen Nacht gegen zehn Uhr in das Gasthaus ›Zum wilden Mann‹ in Grinzing?«

Wasili Alexin nickte.

»Sie kamen per Rad dorthin?«

Wieder nickte der Russe.

»Und bald nach Ihnen kam eine Frauensperson, die sich sofort zu Ihnen setzte?«

»Ja.«

»Sie hatten sie bestellt?«

»Ja.«

»Um mit ihr zu zechen?«

»Ja.«

»Und Sie aßen und tranken was gut und teuer war?«

Der Russe schwieg. Der Zug von Trotz, der ohnehin schon in seinem Gesichte war, vertiefte sich.

»Wieviel betrug die Zeche?«

Keine Antwort.

Der Kommissär sah hierauf den Kellner an.

»Fünfunddreißig Gulden fünfzig Kreuzer,« sagte dieser, und dabei röteten sich seine fahlen Wangen. Es war, als ob die sprechenden Blicke der beiden Beamten, die auf ihm hafteten, das Blut in sein Gesicht getrieben hätten.

»Sie müssen aber sehr feine Weine führen,« sagte spöttisch der Kommissär.

Der Kellner senkte das pomadisierte Haupt.

»Also fünfunddreißig Gulden und fünfzig Kreuzer konnten Sie an einem Abend ausgeben,« wandte der Kommissär sich wieder zu dem Russen, »Sie, der Sie seit sechs Wochen ohne Verdienst sind! Das ist ein Kunststück, das ein ehrlicher Mensch nicht zusammenbringt. Sagen Sie uns, auf welche Weise Sie es zuwege gebracht haben. – Nun reden Sie doch!« drängte der Beamte, als der Häftling starr und als wolle er nie wieder den Mund auftun, an ihm vorüberschaute.

Jetzt mischte Durand sich in die Verhandlung. Er wandte sich an den Kellner. »War es eine bessere Dame, die mit Wasili Alexin an Ihrem Dienstorte zusammentraf?« fragte er.

Der ältliche Ganymed, ein jedenfalls schon mit vielen Salben geschmiertes Individuum, zuckte vorsichtig die Schultern. »Eine Dame,« begann er in einem geschraubten Hochdeutsch, das große Neigung zeigte, ins ordinäre Wienerisch umzuschlagen, »eine wirkliche Dame, ah nein – so eine war's nicht, es war halt ein aufputztes Frau'nzimmer.«

»Auch eine Fremde – eine Ausländerin, meine ich?«

»Keine Spur! Die hat ja echt Wienerisch g'red't.«

Durand wollte ganz sicher sein. Er fragte nach der Farbe, welche die Augen von Alexins Gesellschafterin hatten.

»Graublaue Augen hat sie g'habt,« gab der Kellner mit Sicherheit Bescheid.

»Graublau –« wiederholte Durand und nickte unbewußt befriedigt von dieser Auskunft.

Es wäre ihm ganz ungerechtfertigterweise peinlich gewesen, wenn – Nadja in dieser Nacht mit dem Russen zusammen gewesen wäre. Aber Alexins Gesellschafterin hatte ja graublaue Augen gehabt, und Nadjas Augen waren dunkel wie glänzende Kohle.

Durand brauchte keine weitere Frage mehr zu stellen.

Er bat mit einem Blick seinen Kollegen, dieser möge mit dem Verhör fortfahren.

»Ist es Ihnen inzwischen eingefallen, woher Sie das Geld haben?« wandte der Kommissär sich zu Alexin.

Da entschloß sich dieser endlich, zu reden. »Aus dem Täschchen nahm ich es, welches an dem Fahrrade befestigt ist, das ich – das ich auch genommen habe,« sagte er zum Schlusse ein wenig zögernd.

»Gestohlen habe,« verbesserte ihn scharf der Beamte.

Da warf Alexin hochmütig den Kopf zurück und wiederholte ebenfalls scharfen Tones: »Genommen habe.«

»Ich warne Sie, werden Sie lieber nicht frech!« meinte gleichmütig der Verhörende.

Des Russen Gesicht aber belebte sich plötzlich, der Trotz und die Scheu waren daraus verschwunden, und in freier, ja fast liebenswürdiger Weise entgegnete er: »Mein Herr, ich bleibe dabei, daß ich das Rad mir einfach genommen habe. Ich bin überzeugt, daß jeder in derselben Situation gehandelt haben würde, wie ich handelte. Bedenken Sie: es ist zwölf Uhr Nachts – Sie gehen auf der Straße, da lehnt ein Rad, ein herrenloses Rad, und nirgends ist ein Mensch zu sehen. Was werden Sie tun? Sie werden das Rad nehmen.«

Diese naive Art, sein Vergehen als eigentlich ganz selbstverständliche Handlung darzustellen, amüsierte offenbar den Kellner recht sehr.

Er schmunzelte ganz ungeniert, damit zugebend, daß er sehr begreiflich finde, was da getan worden war. Die Art, wie Jemand fremdes Handeln beurteilt, zeigt ja allemal an, wie fern oder wie nahe er derselben Handlung steht.

Ganz anders, als auf ihn, wirkte des Russen sehr lebhaft vorgebrachte Schilderung auf die beiden Beamten. Freilich standen sie aus zwei Ursachen auf einem anderen Standpunkt als der Zahlkellner vom »wilden Mann«.

Erstens gehörten sie nicht zu denen, die fremdes Gut ohne weiteres zu ihrem Eigentum machen, und zweitens interessierten sie dieses Russen Aussage und Darstellung aus einem viel ernsteren Grunde als nur deshalb, weil er damit zugab, ein Raddieb zu sein.

Hatte er nicht gesagt, daß er das Rad um zwölf Uhr Nachts gestohlen habe? Das konnte für ihn sehr gefährlich werden.

Wieder verständigten sich die beiden Herren mit einem raschen Blick, dann drückte der Kommissär auf den Taster.

Es trat der Wachmann ein, welcher den Russen hereingeführt hatte. Er erhielt die Weisung, den Kellner in die Wachstube zu geleiten.

»Sie müssen noch hier bleiben. Wir werden Sie vielleicht noch allerlei zu fragen haben.«

Mit diesen Worten wurde der Mann einstweilen aus dem Zimmer geschickt.

»Sie haben also das Rad, welches Sie dem Zahlkellner vom ›wilden Mann‹ heute früh verkaufen wollten, um zwölf Uhr Nachts ge–nommen?« begann der Kommissär wieder das Verhör.

Irgend etwas in des Beamten Wesen machte den Russen stutzig. Er sah wieder ganz trotzig darein.

»In welcher Nacht geschah es?« lautete die nächste Frage.

War es Zufall und somit bedeutungslos, daß Wasili Alexin die rechte Hand in die Tasche seines einmal elegant gewesenen, jetzt schäbigen Überziehers schieben wollte? Nur wollte – denn der Kommissär hinderte ihn durch einen Befehl daran.

»Ihre Hand bleibt außen!« sagte er scharf.

Der Russe wurde bleich.

Warum? fragten sich die zwei, die ihn beobachteten. Erregte es ihn so sehr, daß man ihm keinen freien Willen mehr zugestand, oder kam es ihm soeben in den Sinn, daß er freiwillig zu viel schon zugestanden hatte?

»In welcher Nacht also geschah es?« klang es noch einmal durch das stille Zimmer.

Alexin gab widerwillig zu, daß es in der Nacht vom 3. auf den 4. März geschehen sei.

»Was taten Sie, nachdem Sie das Rad genommen hatten?«

»Ich führte es in meine Wohnung.«

»Das heißt, Sie fuhren darauf zu Ihrer Wohnung?« warf Durand ein, der sich daran erinnerte, daß Frau Winter in der fraglichen Nacht gegen zwölf Uhr einen Radler hatte vorüberfahren sehen.

Der Russe widerlegte jedoch diese Annahme durch die Bemerkung: »Nein, ich schob das Rad, denn ich bin kein Fahrer.«

Durand sah seinen Kollegen an, der, sich ebenfalls der Aussage der alten Frau erinnernd, die Achseln zuckte.

»Weiter,« sagte der Kommissär.

»Dann schlief ich bis gegen Mittag, denn –«

»Nun?«

»Denn ich hatte einen Rausch,« vollendete Alexin seine Angabe.

»So so, einen Rausch hatten Sie? Die Idee ist nicht übel, nur hätte Sie Ihnen früher einfallen müssen. Also – wie sind Sie denn zu diesem Rausch gekommen? Räusche kosten bekanntlich Geld. Hatten Sie denn schon gegen zwölf Uhr diesen Rausch? Oder tranken Sie sich ihn erst nachher an?«

Dieses sehr scharf betonte »nachher« veranlaßte den Russen zu einem Aufmerksamkeit verratenden Blick.

»Wann lasen Sie denn zum letzten Male eine Zeitung?« warf jetzt Durand ein.

»Das ist eine merkwürdige Frage,« meinte Alexin kopfschüttelnd.

»Wollen Sie sie nicht beantworten?«

»Wozu?«

»Dann werde ich sie beantworten,« sagte Durand.

»Sie lasen seit gestern früh keine Zeitung mehr.«

»Das ist richtig,« gab der Häftling jetzt ohne weiteres zu, »aber was hat das mit meinem Fall zu tun – mit meinem Geständnis, daß ich das Rad als herrenloses Gut an mich nahm?«

»Herrenloses Gut? Ist etwas, das man in einem Hause oder in dessen Vorgarten findet, herrenloses Gut?«

»Ich sagte ja schon, daß das Rad an der Straße stand. In einem Straßengraben lehnte es, an einem weißen Zaun.«

»Wie genau er den Abschluß von Königs Vorgarten beschreibt,« dachten die beiden Herren.

»Wie kamen Sie also zu dem Rausch, den Sie gestern gehabt haben wollen?« examinierte der Kommissär weiter.

»Den ich hatte,« betonte hartnäckig der Russe, nachdem er eine Weile nachgedacht. »Ich traf beim ›Auge Gottes‹ Ein uraltes Gasthaus in Döbling, dem neunzehnten Stadtbezirk Wiens. einen Herrn, der mich einlud, sein Gast zu sein.«

»So – so! Wer war denn dieser Herr?«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Aha, jetzt taucht auch schon der ›Unbekannte‹ auf,« sagte ironisch der Beamte. »Na, hören Sie, auf Ihre Phantasie dürfen Sie sich nichts einbilden. Diesen großen Unbekannten haben vor Ihnen schon hübsch viele andere auftauchen lassen; an den glaubt kein Mensch mehr.«

Der Russe zuckte die Achseln.

»Erzählen Sie nur weiter,« meinte der Kommissär.

»Wann also ließen Sie sich von dem Unbekannten traktieren?«

»Ich war zwischen zehn und zwölf in dem Gasthause.«

»Und was taten Sie, als Sie das Gasthaus verließen?«

»Dann ging ich nach Hause.«

»Allein?«

»Allein.«

»Unterwegs jedoch hielten Sie sich auf.«

»Kaum eine Minute. So lange etwa brauchte ich, um das Rad aus dem Graben zu nehmen.«

Der Kommissär war aufgestanden. Er ging durch das Zimmer und öffnete eine Tür.

»Kommen Sie herein,« sagte er. Da betrat Frau Winter die Amtsstube.

Wasili Alexin sah überrascht und zwar unangenehm überrascht aus.

Der Kommissär deutete auf ihn. »Ist das der junge Mann, der vorgestern zweimal nach Doktor König fragte?«

»Ja, der ist's,« sagte Frau Winter bestimmt.

Der Beamte wandte sich wieder an Alexin. »Was wollten Sie von Doktor König?«

Keine Antwort.

»Wenn man im Laufe eines Tages zweimal vor jemands Wohnung kommt, so will man doch etwas von der betreffenden Person.«

»Reden wollte ich mit ihm,« stieß Alexin grimmig heraus.

»Worüber?«

»Das werde ich nicht sagen.«

»Über etwas, das nur Ihre eigenen Angelegenheiten betrifft?« fragte Durand.

»Meine Angelegenheiten? O nein. Es sollte eine Schurkerei verhindert werden.«

»Gerade an dem Tag, an welchem Sie zu ihm kamen?«

»Eben an diesem Tage. Jawohl, gerade an diesem Tage. Es war die höchste Zeit, daß ich zu ihm ging. Ich hätte mich sonst nicht bis spät Abends in Döbling aufgehalten.«

»Bis spät Nachts, wollen Sie wohl sagen.«

»Meinetwegen, bis spät Nachts.«

Wieder lag der trotzige, verbissene Zug um des jungen Mannes Mund, und aus seinen Augen schaute der Haß.

»Bis dahin hatten Sie kein Geld, denn ein anderer mußte Sie traktieren, wo nahmen Sie –« fragte der Kommissär, aber er unterbrach sich und schaute gleich den beiden anderen Anwesenden aufmerksam auf den Russen.

Wasili Alexin antwortete nicht, er starrte einige Sekunden lang vor sich hin und wurde totenbleich, dann ballten sich seine Hände, rollte seine Mütze zu Boden und sank er selber, mit den Zähnen knirschend und Schaum auf den Lippen, zu Boden.

»Ein Epileptiker also,« sagte Durand und erhob sich eilig, um dem sich im Krampfe Windenden beizustehen.

»Oder ein Simulant,« sagte der Kommissär und drückte wieder auf den Taster.

Einige Minuten später lag Wasili Alexin auf einer der Pritschen des Bezirksarrestes, und eine Viertelstunde später konstatierte der herbeigerufene Arzt, daß es sich hier tatsächlich um einen epileptischen Anfall und nicht etwa nur um eine gut gespielte Komödie handle.

Inzwischen hatte man die Kleider des Russen untersucht und darin eine hübsche Börse gefunden, in welcher sich etliche Gulden und verschiedenes Kleingeld befanden.

Und noch etwas hatte man aus einer Tasche seines Überziehers geholt – einen Revolver, in welchem zwei Schüsse fehlten, und ein Brieffragment. Es war das Ende eines Briefes, den eine Frauenhand in russischer Sprache geschrieben hatte.

Man konnte einstweilen nichts davon entziffern als das Wort »Warschau«.

Unterschrieben war der Brief mit »Nadja«.


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