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Zehn Minuten vor Abgang des Zuges betrat Durand das Bahnhofsgebäude, an dessen Schwelle ihn Speidl empfing.
»Nun?« fragte er.
»Sie sind gerade hinaufgegangen,« war die Antwort.
Knapp vor dem Ausgang zum Bahnsteig trafen sie mit Klesing zusammen.
Dicht vor diesem stand neben dem eben die Karte kupierenden Beamten eine Dame in Trauer.
Durand erkannte sofort das Original des Pastellbildchens in ihr.
»Ihr Begleiter ist schon draußen,« raunte Klesing seinem Vorgesetzten zu und hielt ihm zugleich eine Bahnsteigkarte hin. Er selbst und Speidl hatten sich längst welche gelöst.
Die Dame trat auf den Bahnsteig hinaus.
»Wohin fährt sie?« fragte Durand, der neben Klesing blieb.
»Nach Krakau.«
»So?« kam es verwundert aus Durands Mund, und dann stieß er einen leisen Pfiff aus. Er hatte, in die Abfahrtshalle hinausgehend, der Dame nachgeblickt.
Diese stand jetzt vor einem Abteil zweiter Klasse, dessen Tür offen war, und aus welchem soeben ein Herr zu Boden sprang. Er hatte wohl das Gepäck seiner Dame untergebracht.
»Der ist's,« sagte Klesing; »er hat gerade Zeitungen, welche sich die Dame gekauft hatte, ihr heimlich weggenommen und hinter die Bank gesteckt, die neben der Kasse unten steht, und sie hat die Veilchen, die er ihr schenkte, nicht mitnehmen mögen.«
Durand nickte. »Sind Sie denn warm gekleidet?« fragte er ganz unvermittelt.
»Warum, Herr Doktor?«
»Weil Sie auch nach Krakau fahren.«
Klesing war darüber nicht sehr verwundert. Derlei Dispositionsänderungen hatte er schon oft erlebt.
Durand hatte schon seine Brieftasche in der Hand.
Er entnahm ihr einige größere Banknoten, die er Klesing reichte. Dann wendete er sich an Speidl.
»Sie sagen dem Schaffner, daß ein Passagier zweiter Klasse seine Fahrkarte im Wagen lösen wird.«
Der Mann eilte sofort auf die erwähnte Persönlichkeit zu, während Durand zu Klesing sagte: »In Trzebinia werden Sie Weisungen finden.«
Weiter wurde nichts mehr geredet.
Eine Minute später befand sich Klesing schon im Zuge. Er hatte in dem Abteil Platz gefunden, welches demjenigen, in welches Nadja stieg, benachbart war.
»Alles in Ordnung,« berichtete Speidl, wieder zu Durand tretend.
Da erwartete ihn ein neuer Auftrag.
Die Augen unverwandt auf die blonde Dame gerichtet, die mit ihrem auf dem Bahnsteig stehenden Begleiter redete, sagte Durand zu Speidl: »Bringen Sie mir die Zeitungen, welche hinter der Bank stecken, die da unten neben der Kasse steht.«
Speidl eilte fort.
Eben jetzt erst kamen irgend welche hohe Persönlichkeiten in die Abfahrtshalle. Diener eilten ihnen voraus in einen Salonwagen, und der Stationschef, in Galauniform, geleitete sie.
Das gab bezüglich der Abfahrtszeit einen kleinen Aufenthalt.
Durand bemerkte recht gut, wie ungeduldig die beiden, welche er beobachtete, schon waren. Er aber fühlte nichts von Ungeduld – er wußte jetzt, daß er endlich eine sichere Spur gefunden hatte, eine Spur, welche ihn zum Ziele führen mußte.
»Gut,« sagte er, als Speidl ihm zwei Zeitungen brachte, »heute bedarf ich Ihrer nicht mehr.«
Jetzt ertönte das Signal zur Abfahrt.
Er nickte dem Mann zu und steckte die Zeitungen in seine Rocktasche, dann ging er langsam auf den Wagen zu, in welchem Klesing und Nadja sich befanden.
Ersterer griff noch einmal grüßend an seinen Hut.
Letztere redete noch mit dem Herrn, hinter welchem Durand stehen geblieben war.
Sie sprachen Französisch.
»Ich habe also Ihr Wort!«
Das war das letzte, das sie zu dem Zurückbleibenden sprach, und ihre dunklen Augen bohrten sich dabei mit kaltem, düsterem Ausdruck in diejenigen des Mannes, mit welchem sie redete.
Da setzte sich der Zug in Bewegung. Der Herr streckte Nadja die Hand entgegen. Aber die Dame ergriff sie nicht. Vielleicht brauchte sie ihre Hände dazu, sich festzuhalten, vielleicht auch tat sie nur so.
Jedenfalls war es kein Liebesblick, mit welchem sie von ihrem Begleiter schied.
Der Zug rollte aus der Halle.
Klesing beugte sich heraus. Vielleicht wollte er Durand noch einmal grüßen, vielleicht wollte er sich aber auch nur davon überzeugen, daß die blonde Dame, um derentwillen er die unverhoffte Reise machen mußte, nicht etwa im letzten Augenblick wieder ausgestiegen war.
Aber dies war nicht geschehen.
Es standen nur noch ihr Begleiter und Durand auf dem Bahnsteig. Jener blickte dem Zuge nach. Durand aber interessierte offenbar derzeit nur der elegante Herr, hinter welchem er stand.
So war es auch tatsächlich.
Durand hörte den schweren Atemzug seines Vordermannes und sah, wie dessen niederhängende Rechte sich ballte.
Und als der Herr sich langsam umwandte, sah Durand in ein bleiches, ein wenig verzerrtes Gesicht.
»Ah, guten Abend, Herr Colmar!« sagte er, leicht den Hut lüftend.
Da starrte ihn der so Begrüßte an, und dann schauten Verwirrung und Schrecken aus Colmars Augen und hohe Röte bedeckte sein hübsches Gesicht.
»Sie – Sie sind hier?« stammelte der Überraschte.
»Gewiß,« entgegnete Durand lächelnd, »auch ich bin hier. Warum sollte ich nicht hier sein?«
Colmar hatte sich schon gefaßt. Er war jetzt sehr lebhaft und sehr liebenswürdig. »Ich bin selbstverständlich überrascht,« sagte er lächelnd, »glaubte ich Sie doch in Hietzing.«
»Und wir meinten, daß Sie auf dem Südbahnhof seien,« entgegnete Durand ebenfalls lächelnd.
»Und inzwischen haben Sie mich bei einem letzten Stelldichein überrascht.«
»Mit einer sehr schönen Dame.«
»Das ist sie, o ja, das ist sie. Aber –« Colmar zögerte, dann fuhr er, ein Lächeln markierend, fort: »man wird schließlich auch der Schönheit satt, wenn einen nichts gefesselt hat als eben diese Schönheit.«
»Sehr richtig!« gab Durand zu.
»Und wenn man die echte Liebe kennen gelernt hat,« fuhr Colmar hastig fort. »Sie wissen es natürlich schon, daß ich um Edwine – um Fräulein Edwine v. Mühlheim werbe?«
»Ich vermute es.«
Sie gingen, während sie so redeten, die Treppe hinunter. Colmar zuckte plötzlich zusammen. Eine Frau, die in der einen Hand einen Besen, in der anderen einen schönen Veilchenstrauß trug, der in rosa Seidenpapier gehüllt war, begegnete ihnen. Die Frau war nicht allein. Eine Arbeitsgenossin begleitete sie. Auch diese war mit einem Besen und mit Staubtüchern versehen. Die beiden plauderten miteinander.
»Nein, wie man so ein schönes Bukett lieg'n lass'n kann!« sagte die eine.
Und die andere rief: »Grad wegg'stoß'n hat sie's. Na, da hab' halt ich mir's g'nommen. Aber jetzt tummel dich, daß der Wartsaal wieder sauber wird.«
Die zwei gingen weiter.
Durand tat, als ob er den Ausdruck von Grimm nicht bemerkt hätte, der sich in Colmars Gesicht ganz deutlich zeigte.
»Ja, man muß sich eben schließlich einmal trennen,« sagte Colmar
»Und ist froh, wenn es aus ist,« setzte Durand hinzu.
»Sehr froh. Diese Blonde hat mir das Leben schwer genug gemacht. Da habe ich sie denn jetzt mit einigen Opfern heimgeschickt.«
»Sie ist also keine hiesige?«
»Nein. Jetzt fährt sie nach Prerau.«
»So – nach Prerau!«
»Und ich fühle mich sehr erleichtert.«
»Das glaube ich.«
»Sie werden diskret sein, nicht wahr? Sie werden – aber, darüber redet man natürlich gar nicht. Es ist ja unter Kavalieren selbstverständlich, daß man über derartiges schweigt.«
»Sie meinen über Liebesverhältnisse?« Durand hatte merkwürdig kühl gesprochen. Er war dabei stehen geblieben und zündete sich eine Zigarre an.
Die beiden Herren befanden sich schon auf der Straße. Sie standen in der Nähe einer der dort befindlichen Riesenlaternen, welche weithin einen blendenden Lichtschein verbreiten.
Als Durand sich so zurückhaltend zeigte, schaute Colmar betroffen auf. Seine unruhigen Augen begegneten den ganz gleichmütig dareinschauenden Durands, der noch immer mit seiner Zigarre zu tun hatte.
»Natürlich – natürlich meine ich das,« bestätigte Colmar zaudernd. »In meiner Lage bin ich eben auf Ihre Diskretion angewiesen, denn selbst die klügsten Mädchen – und zu diesen gehört Edwine – kommen über derlei nicht hinaus. Deshalb –«
»Muß ich diskret sein,« fiel Durand ein, »aber natürlich –«
Colmar ließ ihn nicht weiterreden. Er war sehr erregt. »Sie wissen nicht, wie viel mir Edwine ist! Um sie zu gewinnen, könnte ich –« Helle Leidenschaft hatte aus seinen Augen gesprüht, sie hatte ihn offenbar fortgerissen, Durand mehr zu sagen, als gerade einem Fremden gegenüber notwendig und geschmackvoll war.
Das mochte ihm mitten in seiner Rede eingefallen sein, denn er hielt plötzlich inne und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann sagte er in ganz veränderter Weise: »Diese Liebe macht mich noch zum Narren.«
»Und die andere, die schöne Blonde? Die haben Sie nicht so geliebt?« fragte Durand leichthin.
Colmar zuckte die Schultern. »Nein,« sagte er schroff und stippte eine Schneeflocke weg, die von irgendwoher auf seinen Rockärmel getaumelt war.
»Na, dann ist's ja gut für sie!« meinte Durand, der noch immer mit seiner widerspenstigen Zigarre kämpfte.
Colmar sah ihn scharf an. »Wie meinen Sie das?« forschte er. »Sie reden doch wohl von – von Amelie, von der Dame, die Sie vorhin gesehen haben?«
»Von dieser spreche ich, ganz richtig, von dieser Dame. Aber hören Sie, bester Colmar, die scheint ja mit allen Wassern gewaschen zu sein. Da dürfen Sie wohl froh sein, daß Sie sich ihrer entledigen konnten.«
»Wie meinen Sie das? Kennen Sie –«
»Natürlich kenne ich das schöne Weib. Und – daß Sie es nur wissen – ihretwegen bin ich ja eben hier,« antwortete Durand weitergehend.
»Ich – ich verstehe Sie nicht,« war Colmars Entgegnung.
»Das glaub' ich. Ist's doch auch eine recht verwickelte Geschichte. Aber schauen Sie, da ist ein Kaffeehaus, und mir ist gründlich kalt geworden. Ihnen nicht auch? Eine Tasse Tee wäre nicht übel.«
Er betrat ohne weiteres das Lokal. Es war ein ziemlich feines Kaffeehaus, und jetzt bot es genug Plätzchen, an denen man ungestört und gemütlich plaudern konnte.
Dem bleichen Mann, der hinter Durand herging, und dessen Gesicht ihm jeder Spiegel zeigte, an welchem sie vorüberkamen, dem war es freilich sichtlich nicht gemütlich zu Sinne.
»Zwei Tee!« rief Durand einem der herbeieilenden Kellner zu.
Und dann saßen sie in einer hellen, traulichen Ecke einander gegenüber.
Colmar sah jetzt wieder ruhig und sehr entschlossen aus. Das gefiel indessen Durand ebensowenig, wie der nicht ganz verborgene Ausdruck hoher Spannung, welcher trotz aller Gewalt, die Colmar über sich besaß, heimlich aus seinen Augen schaute.
Und noch eines konnte Colmar nicht unterdrücken – das Frösteln, das ihm über den Rücken lief.
»Nicht wahr, Ihnen ist's auch kalt geworden?« sagte Durand. »Da wird Ihnen der Tee gut tun.«
»Noch viel begieriger bin ich auf die Eröffnung, die Sie mir jetzt wohl machen werden,« meinte Colmar mit einer Art von Lächeln, das allerdings weniger ein Lächeln, denn eine Gesichtsverzerrung war.
Durand zog langsam seine Handschuhe aus, während er gleichmütig sagte: »Ah so? Ja, ja! Freilich bin ich Ihnen eine Erklärung schuldig. Sie sind ja ganz erstaunt über meine Andeutungen.«
»Das ist tatsächlich der Fall. Sie sehen mich völlig verwirrt darüber, denn ich kann mir nicht denken –«
»Daß Ihre blonde Freundin falsch ist.«
»Falsch?« Colmar war emporgefahren.
Durand sah ihn spöttisch an: »Sie bekunden, wie es scheint, doch immer noch ein sehr großes Interesse an ihr.«
»Falsch? Inwiefern falsch?« fragte der Maler, über Durands Einwurf hinweggehend.
Durand sah recht gut, wie mächtig Colmar gegen eine hohe Erregung ankämpfte. Er schaute ihm fest in die Augen. »Ich darf mit gutem Grunde annehmen, daß die Schöne nicht nur Ihnen nahe stand.«
»Nicht nur mir nahe stand?« wiederholte Colmar, vermutlich aus keinem anderen Grunde, als um Zeit zu gewinnen.
Er griff zugleich, wie in Nachdenken versinkend, nach dem Löffelchen des Teeservices, welches der Kellner soeben vor ihn hingestellt hatte.
Aber zum mindesten war es kein ruhiges Nachdenken, in welches er versank, denn das Löffelchen klirrte etliche Male gegen die Tassenwand – so sehr zitterten die Finger, die es hielten.
Durand redete weiter. »Ich weiß einen, dem sie auch ziemlich viel gewesen sein muß, der Bedeutung nach zu schließen, die er ihrem Porträt beigelegt hat.«
»Sie machen mich neugierig,« drängte Colmar den gar zu säumigen Berichterstatter. »Wer ist denn dieser eine?«
»König.«
Das Wort hatte nicht die erwartete Wirkung. Besonders viel hatte ja Durand davon nicht erwartet, aber doch einiges Erschrecken.
Nun, mindestens hatte er einiges Überraschtsein damit erzielt. Er sah, wie Colmar sich jäh erhob, sah dessen Augen durchbohrend auf sich gerichtet, und sah, daß der Maler sogar leicht die Farbe wechselte. Trotz alledem jedoch sah er auch, was ihn heimlich wunderte, daß Colmar plötzlich ruhig wurde, und sah mit einigem Ärger, daß sein Gegenüber ihn nun ganz ungemein spöttisch anlächelte.
»Bitte – weiter, Herr – Herr Durand,« sagte der Maler, absichtlich zwischen jedem seiner Worte eine Pause einhaltend.
Er tat jetzt, immer noch das spöttische Lächeln in den Augen und auf den Lippen, langsam etliche Stücke Zucker in seinen Tee.
Durand ließ sich seine kleine Enttäuschung und seine große Verwunderung nicht anmerken, sondern fuhr gleich mäßig fort: »Es gibt noch andere Umstände, welche mich veranlassen, zu glauben, daß Ihre blonde Freundin auch die seinige war.«
Colmar lächelte noch immer. »Sie sind aus Nancy?« fragte er ironisch.
Jetzt lächelte auch Durand. »Ich sagte so.«
»Auch Herr v. Mühlheim sagt so.«
»Ja, Herr v. Mühlheim widerspricht dieser Angabe nicht.«
»Und Sie nennen sich Durand?«
»Gewiß.«
»Seit dem 4. März, fünf Uhr Nachmittags?«
»Nein, schon von drei Uhr an. Um diese Zeit ließ ich mir meine Visitenkarten drucken.«
»Auf den Namen Eugen Durand?«
»Auf den Namen Eugen Durand.«
»Und Sie sind Professor?«
»Professor.«
»Eigentlich ist Ihr Name nicht so?«
»Er ist in der Tat ein anderer.«
»Und Ihr Titel ist Polizeiagent?«
»Das stimmt nicht.«
»Oder so ähnlich also?«
»Auch nicht ähnlich.«
»Wie denn?«
»Gestatten Sie, daß ich Ihnen auf diese Frage die Antwort schuldig bleibe.«
»Wie es Ihnen beliebt,« sagte Colmar und schlürfte danach mit sichtlichem Wohlbehagen seinen Tee.
Während dieses ganzen Wortwechsels war das Lächeln nicht von den Gesichtern der beiden Herren gewichen.
Seine Schale niederstellend begann endlich Colmar wieder: »Sie sehen mich jetzt nicht mehr erstaunt über Ihr Unterrichtetsein bezüglich des Verhältnisses, das zwischen König und Madeleine –«
»Früher sagten Sie Amelie,« unterbrach ihn Durand.
In Colmars Gesicht stieg eine flüchtige Röte. »Ich habe mich versprochen,« sagte er, »ich –«
»Sie haben sich heute schon etliche Male versprochen,« unterbrach ihn der Doktor.
Colmar sah auf. In seiner Miene zeigte sich Zurückhaltung und ein gewisser Trotz. »Zum Beispiel?« meinte er höhnisch.
Dieser Hohn war jedoch nur gemacht. Durand sah recht gut, daß sein Gegenüber unruhig wurde.
»Zum Beispiel verwechselten Sie nicht nur Amelie und Madeleine miteinander, sondern diese beiden Namen mit – Nadja!«
Colmars von der Wärme des Lokales und der Hitze des Tees gerötetes Gesicht wurde plötzlich wieder blaß.
»Und noch einmal versprachen Sie sich,« fuhr Durand trocken fort.
Jetzt sagte Colmar nicht mehr sein höhnisches: »Zum Beispiel?'« Den Blick gesenkt, die Finger einziehend saß er da.
Der Doktor, ihn scharf beobachtend, sprach weiter: »Sie verwechselten ferner zwei Städtenamen, die einander allerdings ein bißchen ähnlich sind: Prerau und – Krakau.«
Colmar beugte sich noch tiefer über seine Schale.
»Sie fährt wirklich nach Prerau,« antwortete er trotzig.
Er hatte noch immer die Augen gesenkt. So sah er das verächtliche Lächeln nicht, das Durands Lippen verzog, als er in so erbärmlicher Weise die Wahrheit umging.
»Nach Prerau? Nein! Nur durch Prerau,« sagte der Doktor ruhig. »Sie reist – und das wissen Sie ganz genau – nach Krakau, wohin Sie selbst ihr die Fahrkarte lösten.«
»Das sahen Sie? Und so lange schon sind Sie hinter uns – hinter Nadja her?« verbesserte sich Colmar spöttisch. Und recht harmlos sich gebend fuhr er fort: »Sie begreifen vielleicht, daß man in meiner Lage die Spuren nach Möglichkeit verwischt. Das und nichts anderes habe ich tun wollen, wenn ich es mit den Namen nicht genau nahm. – Sagen Sie mir übrigens: Hat denn König keine Briefe, keine Beweise für die ganze Art ihres Verkehrs mit ihm hinterlassen?«
Durand antwortete nur mit einem Achselzucken und mit einem Lächeln, daraus Colmar eigentlich gar nichts entnehmen konnte, das ihn aber wieder frösteln machte.
»Ihnen ist noch immer kalt?« fragte Durand.
Der andere nickte. »Mir ist immer kalt, wenn ich mich in unbehaglicher Weise errege. Außerdem – Sie wissen es ja – fühle ich mich schon seit einiger Zeit nicht wohl. Ich habe mich schon am Tage von Fräulein Lenas Verlobungsfest so unwohl befunden, daß ich mich entschuldigen wollte.«
»Warum wird er nur so weitläufig?« fragte sich Durand. »Warum gibt er so genau das Datum seines Unwohlgewordenseins an?« Und dann dachte Durand noch etwas, dachte: »Gar so genau etwas nachweisen wollen, das an und für sich belanglos ist, macht dieses Belanglose zuweilen zu etwas Merkenswertem.«
Und er merkte es sich genau, daß Colmar soeben angegeben, er habe sich schon am 3. März unwohl gefühlt.
Laut jedoch sagte er: »Sehen Sie, ich habe es sogleich gewußt, daß Sie sich für diese Nadja noch immer interessieren. Es erregt Sie eben doch noch, daß man sie mit König in Verbindung bringt.«
»Ich weiß nur, daß die beiden einander kannten, aber« – Colmar hielt inne – »hat man sich aus diesem Grunde allein schon für Nadja interessiert?« fragte er langsam, ja auffallend bedächtig.
»Man interessiert sich jetzt für alle, die König nahe standen, die in irgend welcher Weise mit ihm zu tun hatten,« lautete die ausweichende Antwort. »Sie wissen ja, wenn einer verschwindet – was ja hier wörtlich zu nehmen ist – so fragt man sich zuerst nach dem Warum. Wer kann einen Nutzen gezogen haben aus diesem Verschwinden, dem in vielen Fällen ein Totschlag oder ein Mord vorausging? Jede Winzigkeit hat ja ihre Ursache – und solch ein Verschwinden ist keine Winzigkeit, das hat erst recht seine Ursache.«
»Du lieber Gott! In diesem Falle liegt doch die Ursache auf der Hand,« fiel Colmar lebhaft ein. »Einbrecher waren da – König kommt ihnen in den Weg, und da – nun, da töten sie ihn. Ist es denn niemand von der Kommission aufgefallen, daß –«
»Nun – was denn?« fragte Durand scheinbar sehr aufmerksam.
»Daß – ich hörte wenigstens oder las es in der Zeitung, daß es sich so verhalten habe – daß König auch nicht die geringste Spur zurückgelassen hat. Man habe auch von den Überkleidern, die er an jenem Abend trug, nichts vorgefunden.«
»Und was schließen Sie daraus?«
»Was ich daraus schließe? Daß die Einbrecher –«
»Warum sagen Sie ›die‹ Einbrecher?«
»Weil es doch mindestens ihrer zwei gewesen sein mußten, die den Unglücklichen so rasch und spurlos wegschafften.«
Durand nickte. »Bitte, weiter!« bat er dann.
Colmar schaute ihn ein wenig argwöhnisch an.
»Ja – bitte! Ihre Auslassungen interessieren mich sehr. Mir ist nämlich der Fall König bezüglich der Voruntersuchung zugewiesen. Da muß mich doch naturgemäß jeder Eindruck, den diese oder jene Einzelheit auf einen anderen machte, interessieren. Also, bitte, fahren Sie fort!«
Jetzt war Colmar beruhigt. Er geriet sogar in Eifer. Vielleicht hatte auch endlich der Tee seine Wirkung getan, kurz er war jetzt sehr angeregt.
Seine Wangen röteten sich, seine Augen begannen zu glänzen, und der Ausdruck seiner Mienen begleitete getreulich den Sinn seiner lebhaft vorgebrachten Worte.
Durand folgte, behaglich rauchend, Colmars Darstellung.
Dieser schilderte, wie er sich vorstelle, daß König nichts ahnend seine Wohnung betreten und daselbst die Einbrecher in voller Arbeit gefunden habe. »Ein mutiger Mann, wie er es war, wird da nicht geflüchtet sein,« fuhr er fort, »der wird den Strolchen entgegengetreten sein, und – und so ist er niedergeschlagen worden. – Er war mir ein Freund, und er hat mich so sehr gefördert – ich schulde ihm großen Dank, ungeheuren Dank. – Sie begreifen, wie schwer mich der Tod eines Menschen trifft, an dem ich einen so warmen Gönner verloren habe.«
Durand nickte nur. Der Ernst in seinen Zügen war nichts Gemachtes. »Ganz so, wie Sie sich die Sache vorstellen, kann sie nicht gewesen sein,« warf er ein. »König hat ja noch durch das Telephon nach Hilfe rufen können.«
»Richtig – richtig!« sagte Colmar und schüttelte ungeduldig den Kopf wie einer, der etwas sehr Wichtiges vergessen hatte.
Durand lächelte fast unmerklich. Jedenfalls hatte Colmar das geringe Verziehen seiner Lippen nicht bemerkt, denn er war eifrig damit beschäftigt, sich eine Zigarette zu drehen.
»Nun, wie erklären Sie sich dieses Anrufen der Rettungsgesellschaft?« fragte Durand.
»Er mag, schön schwer verletzt, seinen Gegnern entkommen sein. Da kann er bis ans Telephon gelangt sein«
»Vielleicht,« sagte Durand, nachdenklich die Asche von seiner Zigarre streifend. »Und dann?«
»Dann? – Mein Gott, sind das entsetzliche Vorstellungen!« stöhnte Colmar und barg etliche Sekunden lang sein Gesicht in den Händen. Als er diese sinken ließ, waren seine Wangen wieder bleich. Durand sah, wie erschüttert der Maler war.
»Nun – und dann, als König seinen Mördern doch nicht entkam, als sie ihn abermals erreichten und ein Ende mit ihm machten – so stellen Sie sich vermutlich das Ereignis vor – was geschah dann?«
»Dann – denke ich mir – haben sie ihn in die Donau geworfen,« sagte Colmar.
»In die Donau? – Ja, sehen Sie, daran haben auch wir schon gedacht, aber, wie vorauszusehen, waren alle Nachforschungen vergeblich.«
»Warum war das vorauszusehen?« fragte Colmar. »Was spricht denn gar so sehr dagegen?«
»Der weite Weg mit solcher Last –«
»Es war nach Mitternacht. Da sind die Straßen einsam.«
»Die Polizeipatrouillen sind immer unterwegs. Wenn nur zwei Männer bei dem Verbrechen tätig waren, wenn sie keinen Aufpasser hatten –«
»Vielleicht hatten sie einen Aufpasser!« fiel Colmar lebhaft ein, und nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: »Wenn man's recht bedenkt, war ja doch nur der Übergang über die Hauptstraße des Bezirks gefährlich. Hüben und drüben sind schon bei Tage die Seitengassen ziemlich menschenleer, um Mitternacht sicher aber ganz einsam. Unmöglich ist also – was ich annehme – nicht.«
»Sie haben sich stark mit der Sache beschäftigt,« warf Durand leicht hin.
»Er war mein Freund,« fuhr Colmar auf.
»Da wird Sie die Annahme, zu welcher ich für meine Person gekommen bin, erfreuen.«
»Welche Annahme?«
»Daß König noch lebt.«
Colmar starrte mit weitgeöffneten Augen auf Durand.
»Daß König noch lebt,« wiederholte er mechanisch, »daß König noch lebt!« Und die ungeheure Erregung, in welcher des Doktors Worte ihn versetzt hatte, trieb ihm das Blut ins Gesicht, nahm ihm fast den Atem.
Er konnte sich offenbar in den soeben geäußerten Gedanken nicht sogleich hineinfinden. Dann aber blitzte es in seinen Augen freudig auf, und vor Bewegtheit heiser rief er: »Man hält es also wirklich für möglich, daß König noch lebt?«
»Es ist wenigstens nicht ausgeschlossen,« entgegnete Durand, und dann dachte er bei sich: »Warum fragt er jetzt nicht danach, wie ich zu dieser überraschenden Annahme gekommen bin?« und wartete noch eine gute Weile auf eine Frage dieser Art.
Aber es erfolgte keine.
Als Colmar sich endlich wieder zu reden entschloß, tat er eine ganz andere Frage. »Wie hat sich denn Nadja König gegenüber genannt?« forschte er.
»Ist uns nicht bekannt. Wir wissen nur diesen einen Namen der Dame. Wie hat sie sich denn Ihnen gegenüber genannt?«
Einen Augenblick lang zögerte Colmar, dann sagte er: »Mir sagte sie, daß sie Nadja Kerafski heiße.«
»Kerafski – das kann stimmen. Der Anfangsbuchstabe ihres zweiten Namens ist K.«
»Das war Ihnen also doch bekannt?« fragte Colmar. Durand war es, als ob Spott aus diesen Worten klänge.
Er nickte nur.
»Jetzt kann ich mir wohl denken, weshalb man sich so sehr für Nadja interessiert,« fuhr Colmar fort. »Man hält sie für diejenige, derentwegen König sein hiesiges Leben aufgegeben hat.«
»Nicht ›man‹, nur ich nehme das einstweilen an,« bemerkte Durand nebenhin und sah es in Colmars Augen abermals aufblitzen.
»Nur Sie, nur Sie allein denken so?«
»Nur ich allein habe mir Königs Verschwinden in dieser Weise zurechtgelegt.«
»Sie wollen wohl gar nicht, daß einer Ihrer Kollegen auch auf dieselbe Idee kommt?«
»Man behält seine eigenen Schlüsse immer gern für sich.«
»Und verfolgt lieber allein den Weg, den man für den richtigen hält.«
»So ist's.«
»Aber man läßt es sich gefallen, wenn zufällig von irgendwoher ein Helfer, ein stiller Mitarbeiter kommt.«
»Wo hinaus wollen Sie denn?« fragte Durand.
Es war eine ganz überflüssige Frage. Er wußte schon, was Colmar ihm jetzt vorschlagen würde, der jetzt so eifrig war, der sich so harmlos und so treuherzig stellte, und den gerade in dieser Minute Durand in seinem Inneren zum ersten Male einen Schurken nannte.
Colmar ahnte davon nichts. Er tat sehr entrüstet, indem er von Nadja sprach, und stellte dann die Frage, was Durand in Bezug auf sie veranlaßt habe.
Durand gab an, daß man Nadja am Ziele ihrer Reise behördlicherseits in Empfang nehmen, und in der Sache König einem Verhör unterziehen werde.
»Und warum ist das nicht gleich hier und nicht durch Sie geschehen?«
»O,« meinte Durand sorglos, »als ich die Dame in Ihrer Gesellschaft sah, konnte ich ohne weiteres annehmen, daß Sie mir alles Nötige über sie mitteilen würden, und deshalb ließ ich sie ungehindert abreisen. Ich habe morgen noch hier Wichtiges zu tun, inzwischen erhalte ich aus Krakau Nachricht, die mir sagen wird, ob ich dort etwas zu tun finde. Wenn es so ist, reise ich morgen abend ab. Ihre bisherige Freundin wird mir also, falls sie wirklich bei Königs Verschwinden die Hand im Spiele hat, nicht entkommen.«
»Nein, sie soll uns nicht entkommen!« rief Colmar, anscheinend ganz grimmig.
»Uns? Wie meinen Sie das?«
Colmar hatte sich erhoben. »Wenn Sie Nadja folgen müssen, dann nehmen Sie mich mit,« bat er.
Er sah nicht nur erregt aus, er war es jetzt tatsächlich. Es mochte ihm allen Ernstes ungeheuer viel daran liegen, sich in diese Sache mischen zu dürfen.
»Aber was wollen denn Sie in Krakau tun?« fragte Durand.
»Ihnen behilflich sein, Nadja zu finden, falls man sie doch nicht in Krakau anhalten kann.«
»Was für ein Hindernis könnte denn diesbezüglich eintreten?«
»Ist es denn so sicher, daß sie auch wirklich nach Krakau fährt? Kann sie nicht irgendwo zwischen hier und dort den Zug verlassen? Sie kann mich doch haben irreführen wollen. Wenn sie mit König zusammentrifft, dürfte dies wohl kaum an dem Ort geschehen, den sie mir als Ziel ihrer Reise angegeben hat.«
»Sie meinen also, daß sie unterwegs den Zug verlassen könnte?«
»Das fürchte ich.«
»Was nützte dann aber noch Ihr Mitkommen?«
»Ich kenne eine – eine Verwandte von ihr, die in Krakau lebt.«
»Was soll uns diese?«
»Es ist eine ihr sehr teure Person. Ich vermute, daß Nadja vor ihr keine Geheimnisse hat.«
Durand versank in Nachdenken. »Sonst kennen Sie niemand, dem Nadja nahe gestanden?« fragte er nach einer langen Pause.
Colmar schüttelte den Kopf. »Niemand.«
»Ich denke jetzt auch an Nadjas hiesige Bekannten.«
»Sie hatte hier keine Bekannten.«
»Sie verkehrte nur mit Ihnen?«
»Hier haben wir überhaupt nicht viel miteinander verkehrt.«
»Wo denn?«
»Auf Reisen. In Frankreich lernte ich sie kennen.«
»Da ist sie Ihnen also hierher nachgereist?«
»So ist es,« gab Colmar kurz zu. Es verdroß ihn offenbar, so ausgefragt zu werden. »Übrigens, wie ist's, wollen Sie noch bleiben oder gehen wir? Ich muß nämlich erst nach Hause, ehe ich nach Hietzing hinausfahre. Ich muß mir etliche Farben holen.«
»Also gehen wir,« sagte Durand, sich sofort erhebend. »Ich begleite Sie sehr gern. Da komme ich noch zu einem ganz unverhofften Kunstgenuß. In Ihrem Atelier haben Sie ja, wie mir Mühlheim sagte, unter anderem auch einen echten Murillo.«
Colmar war augenscheinlich erstaunt über die Art, wie Durand die Sache auffaßte. Er hatte ihn nämlich los werden wollen und deshalb davon geredet, daß er noch heimgehen müsse, bevor er wieder zur Villa Mühlheim fuhr.
Natürlich ließ er aber von seinem Ärger nichts merken, sondern fand sogar etliche Worte der Freude über diesen Entschluß.
Und so fuhren denn die zwei einträchtiglich in dem Fiaker, den sie sich hatten herbeiholen lassen, in den vierten Stadtbezirk und vor das hübsche kleine Familienhaus, welches Durand ja schon bekannt war.
Während der Fahrt hatte Colmar immer wieder von der auch ihm immer mehr einleuchtenden Idee Durands zu reden angefangen, hatte Königs Verhalten einer ziemlich abfälligen Kritik unterzogen und hatte die Bemerkung fallen lassen, daß er es schon lang gefühlt habe, Königs Empfinden für Lena sei ein nur sehr mäßig warmes gewesen, und es sei schließlich nur zur Verlobung gekommen, weil König anstandshalber nicht mehr hatte zurücktreten können.
Durand pflichtete ihm bei, was er auch guten Gewissens tun konnte, denn Edwine selbst hatte ja Ähnliches über das Verhältnis Königs zu ihrer Schwester gesagt.
So kamen die zwei Herren denn im besten Einvernehmen vor Colmars Hause an.
Jedoch paßte Durands scharfer Blick nicht ganz zu dieser großen Einigkeit, dieser harte, scharfe Blick, mit dem er zum Beispiel beobachtete, welcher Art der Schlüssel sei, den Colmar zum Öffnen seiner Haustür benutzte.
Und als er hinter dem Maler, der ein Wachszündholz in Brand steckte, in den Flur trat, beleuchtete die entstehende Flamme ein sehr blaß gewordenes Gesicht
Dieses Gesicht war dasjenige Durands.
Etliche Minuten später befand er sich allein in Colmars Atelier vor einem tatsächlich echten Murillo, dessen dunkle, satte Farben eine von des Malers Haushälterin flink herbeigebrachte Lampe zur Wirkung brachte.
Colmar blieb ziemlich lange im Nebenzimmer. Als er wieder zu seinem Gast trat, war er recht wohl gelaunt.
»Darf ich Ihnen Wein oder Likör anbieten?« fragte er.
Durand dankte. Er schien zerstreut zu sein.
»Nun – was sagen Sie zu meinem Murillo?«
Aber Durand antwortete nicht auf diese Frage.
Er deutete auf des Malers linke Hand. »Wenn man eine Wunde hat, soll man mit Tinte ein bißchen vorsichtig sein,« bemerkte er.
Colmar wischte daraufhin schnell die noch feuchte Tintenspur von seinem Handballen weg.
»Um Ihren Murillo beneide ich Sie sehr,« sagte jetzt Durand. »Aber warum haben denn Sie gar nichts auf der Staffelei? Und nirgends Entwürfe? Es sieht so furchtbar aufgeräumt in Ihrem Atelier aus.«
»Nach einer eben vollendeten großen Arbeit ruht man gern,« entgegnete Colmar kurz und wendete sich schon wieder der Tür zu, was gerade nicht übermäßig artig war.
Durand schien ganz damit einverstanden, das Haus zu verlassen. Vor ihnen her ging die Wirtschafterin, die Lampe in der hoch erhobenen Hand. Innerhalb der Haustür blieb sie stehen und teilte ihrem Gebieter irgend etwas mit. Colmar hatte die Tür schon geöffnet, Durand stand schon auf der Straße, da sagte die Frau: »Also die Depesche geb' –«
Mehr war nicht zu hören. Colmar hatte die Tür schon zugeschlagen.
Durand vollendete den Satz selber. »Also die Depesche, die zu schreiben Sie heimgekommen sind, geb' ich sofort auf,« dachte er, während er in den Wagen stieg, und er konnte sich auch denken, daß diese Depesche an Nadja gerichtet war.
Ziemlich schweigsam ging die Fahrt nach Hietzing von statten. Einmal machte Durand die Bemerkung, daß solche Klappschlüssel, wie Colmar vorhin einen benutzte, recht praktisch seien.
Colmar hatte darauf nichts Bemerkenswertes zu entgegnen.
Es war fast Mitternacht, als die Herren ihre Zimmer betraten.
Durand ging, nachdem er die Tür hinter sich abgesperrt hatte, zu dem Schrank, in dem der Klappschlüssel lag. Er nahm diesen heraus und legte ihn in seine Brieftasche.
Er entledigte sich dann erst seines Überziehers. Die Zeitungen, welche Speidl hinter der Bank gefunden und ihm gebracht hatte, aus der Innentasche des Überrockes ziehend, ging er zum Tisch, auf welchem die ein wenig niedergeschraubte Lampe stand. Er drehte den Docht höher und setzte sich.
»Nun, was hat denn diese – übrigens wunderhübsche Nadja nicht lesen sollen?« fragte er sich und faltete die eine der beiden Zeitungen – es waren Abendblätter vom verflossenen Tage – auseinander.
Er sah, daß es dieselbe Zeitung war, welche Mühlheim heute Colmar zum Gedeck gelegt hatte. Sie enthielt eine wirklich großartig lobende Kritik über Colmars soeben ausgestelltes Gemälde.
»Das hat er ihr vorenthalten wollen?« fragt sich Durand verwundert. »Oder gibt es da noch etwas anderes, das sie nicht wissen soll?«
Er durchsuchte aufmerksam die Zeitung. Da kam er richtig noch auf eine Notiz, die sich mit dem Maler beschäftigte. Es war eine ganz kurze Nachtragsnotiz, und wieder konnte Durand es sich nicht erklären, warum sie Nadja nicht habe lesen sollen.
Die Notiz lautete:
»Soeben kommt uns aus dem Künstlerhause die Nachricht zu, daß Viktor Colmars ›Aufstand polnischer Bauern‹ angekauft worden ist.«
Die Zeitung brachte auch einige, übrigens ziemlich uninteressante Bemerkungen über den Fall König. Im anderen Abendblatt wiederholte sich jene Notiz fast wörtlich.
Irgend etwas anderes, das die bewußte junge Dame etwa besonders interessieren konnte, fand Durand in den beiden Blättern nicht. Er schloß sie schließlich kopfschüttelnd in den Schrank.
Dann entkleidete er sich und legte sich nieder. Er war ziemlich durchfroren und im Zimmer war es behaglich warm. Dennoch wollte der Schlaf, der sich bei solchem Temperaturwechsel sonst gern einzufinden pflegt, sich heute bei ihm nicht einstellen, denn gar zu viele Gedanken wälzten sich durch seinen Kopf.
Er war mit dem Ende dieses Tages sehr zufrieden.
Er hatte Wichtiges aufgedeckt. »Das Telegramm, mein Teurer, das vermutlich jetzt schon abgegangen ist, wird doch nichts nützen. Klesing hält Nadja fest, was du freilich nicht ahnst,« dachte Durand. Und plötzlich fügte er laut hinzu: »Jetzt ist mir's doch viel wahrscheinlicher, daß König tot ist.«